5:38 Dem Dieb und der Diebin hackt die Hände ab als Vergeltung für ihre Tat und als abschreckende Strafe Gottes! Gott ist mächtig und weise.107
Motiviert durch diesen Vers und die sehr verwirrende und fragliche Bedeutung, die durch die gängigen Übersetzungen mit „abhacken“ nahegelegt wird, will ich diesen Vers genauer untersuchen. Es gibt tatsächlich verschiedene Interpretationen in Bezug auf das Handabschneiden des Diebes in der Gottergebung. Traditionalisten wie Sunniten oder Schiiten folgen in erster Linie bei den Interpretationen der Verse ihren Ḥadīṯ-Büchern, die sie all die Jahre pflegten und als Quelle des Wissens betrachteten. Die Gelehrten sind sich nicht mal einig, wo die Grenze der Hand fürs Abhacken liege, ob beim Ober- oder Unterarm, obwohl in der Lesung wortwörtlich das Wort „Hände“ steht und nicht Ober- oder Unterarm.
Im Mittelpunkt unserer Betrachtung stehen die beiden Wörter „Hand“ und „schneiden“:
- Hand: arabisch „yadd“ – يد bzw. Plural ʾaydī – أيدي aus der Wurzel yā-dāl-yā (ي د ي)
- schneiden: arabisch „qataʿa“ – قطع abgeleitet von der Wurzel qāf-ṭā-ʿayn (ق ط ع)
Hand in der Lesung
Von großer Wichtigkeit für das Verständnis ist es, über die Vorkommnisse des Wortes Hand bzw. Hände Bescheid zu wissen. Die Wurzel von Yadd kommt im Koran in 120 Stellen108 vor. In diesen findet man beispielsweise in der Azhar-Übersetzung in 27 Stellen yadd tatsächlich als Hand und in 33 Stellen als Hände übersetzt. Ich nehme hier drei Verse als Beispiel zur Veranschaulichung:
38:45 Gedenke Unserer Diener Abraham, Isaak und Jakob, die Macht (al-aydi) und Ansehen besaßen und einsichtig waren!109
Das Vorkommnis des Wortes in diesem Vers habe ich in insgesamt 16 Übersetzungen (Türkisch, Französisch, Deutsch und Englisch) nachgeschlagen und „yadd“ wird in jeder dieser Übersetzungen nicht als „Hand“ wiedergegeben. Eine Auswahl der Übersetzungen für dieses Wort: Macht, Kraft oder innere Kraft, Möglichkeit, Fähigkeit.
Ein Beispiel für die wörtliche Übertragung des Wortes yadd als symbolische Bedeutung:
48:10 Gewiß, diejenigen, die dir den Treueid leisten, leisten (in Wirklichkeit) nur Allah den Treueid; Allahs Hand ist über ihren Händen. Wer nun (sein Wort) bricht, bricht es nur zu seinem eigenen Nachteil; wer aber das einhält, wozu er sich Allah gegenüber verpflichtet hat, dem wird Er großartigen Lohn geben.110
Es sei hierbei jedoch angemerkt, dass die Azhar-Übersetzung an dieser Stelle die Wörter yadd und aydīhim als „Macht“ und „Kraft“ wiedergibt.
Ein weiteres Beispiel:
51:47 Und den Himmel haben wir mit Kraft aufgebaut. Und wir lassen (ihn) expandieren!
Schneiden in der Lesung
Es gibt einen kleinen Unterschied in den Wörtern, die aus derselben Wurzel qāf-ṭā-ʿain (قطع) stammen. Folgende Formen dieser Wurzel kommen in der Lesung vor:
- 12 Mal111 als ersten Verbstamm quṭiʿa (قُطِعَ).
- 12 Mal112 als zweiten Verbstamm qaṭṭaʿa (قَطَّعَ).
- Fünfmal113 als fünften Verbstamm taqaṭṭaʿa (تَّقَطَّعَ).
- Viermal114 als Nomen qiṭʿ (قِطع) oder als Nomen qiṭaʿ (قِطَع).
- Dreimal115 als Partizip in aktiver (qāṭiʿah – قَاطِعَة) oder passiver Form (maqṭūʿ – مَقْطُوع; maqṭūʿah – مَقْطُوعَة) des ersten Verbstammes.
Das berühmte Arabisch-Englisch-Wörterbuch von E. W. Lane listet folgende mögliche Bedeutungen dieser Wurzel (ins Deutsche übersetzt) für sämtliche Ableitungen der Wurzel:
schneiden/trennen/auflösen/separieren/absondern, eine Bestrafung verunmöglichen, unfähig weiterzufahren, zurückziehen, abreißen, verenden/aufhören/abschließen/fehlschlagen, kurz schneiden / stoppen, abfangen/unterbrechen/durchqueren, ein Ende machen / anhalten, ein abgeschnittenes Stück / Teil / Anteil von einem Ganzen, Herde, unterscheidbarer Teil.116
In den also insgesamt 36 Versen finden wir, dass ohne 5:38 nur in 15 Versen etwas Physisches oder Materielles zerrissen, abgeschlagen, durchtrennt, zugeschnitten, ausgerottet oder gespalten wird,wie etwa die Erde, das Seil zum Himmel, die Gedärme wegen des Getränks in der Hölle, die Gewänder aus dem Feuer usw. Diese Verse sind 5:33, 6:45, 7:72, 8:7, 7:124, 12:31, 12:50, 13:31, 15:66, 20:71, 22:19, 26:49, 47:15, 59:5 und 69:46. Die Anmerkung erscheint hier notwendig, dass dabei nicht alle Verse ein tatsächliches „Schneiden“ als Bedeutung beinhalten müssen. Als Beispiel sei hier das „Ausrotten“ bzw. „Ausmerzen von Menschen“ angeführt, was als symbolisches „Abschneiden vom Leben“ verstanden werden kann.
In den anderen Versen wird das Wort zum Beispiel wie folgt gebraucht:
- Für die Bindungen oder Gebote, welche abgebrochen werden,
- für die 12 Stämme Israels, welche zerteilt werden,
- für einen bestimmten Teil der Nacht,
- für die Herzen, die zerrissen werden,
- für Wege, die geschnitten werden
- oder für die Trennung am großen Tag zwischen den fälschlicherweise Verehrten und den Götzendienern.
Allesamt symbolische Vorgänge der Trennung.
Außerhalb von 5:38 ist die Bedeutung dieses Wortes auch „Beziehungen (Verbindungen) trennen“ oder „einen Schlussstrich ziehen“, also auch nicht-physische Vorgänge.
Die restlichen Verse können wie folgt gruppiert werden:
- Für physisches Abschneiden und Spalten (5:33, 7:124, 13:31, 20:71, 22:19, 26:49, 47:15)
- die Beziehung unterbrechen oder beenden (2:166, 6:94, 7:160, 7:168, 9:110, 47:22, 21:93, 23:53) oder auch
- verletzen bzw. zerkratzen (12:31, 12:50).
Schneiden und Hand im selben Vers
Beide Wörter gemeinsam finden wir in sieben Versen:
Das erste Mal in Vers 5:33, in welchem drei Vergeltungsformen für die kriegführenden Feinde Gottes und des Propheten beschrieben werden, unter anderem die Hände und Füße wechselseitig abzuschlagen. Dies ist jedoch nicht als direkter Befehl und nicht als einzige Möglichkeit zu verstehen. Hier wird eine Kriegssituation beschrieben und damit eine Möglichkeit, die Angreifer aus dem Land zu verweisen. Also nicht einmal wenn Menschen angreifen, welche die Feinde Gottes und des Propheten sind, müssen sie zwingend getötet oder ihre Körperteile abgetrennt werden.
Das zweite Mal in Vers 5:38, den wir untersuchen.
Das dritte Mal in Vers 7:124, wobei Pharaos Androhung erwähnt wird, den betenden Magiern Hände und Füße abzuschlagen.
Das vierte Mal in Vers 12:31, wonach sich die Frauen in die Hände schneiden aufgrund ihrer Verwunderung über die Schönheit Josefs. Sie trennen ihre Hände aber natürlich nicht ab.
Das fünfte Mal in Vers 12:50, laut welchem Josef über einen Boten sich nach den Frauen erkundigt, welche sich in die Hände geschnitten hatten. Hier handelt sich also um denselben Umstand wie in Vers 12:31.
Das sechste und siebte Mal in den Versen 20:71 und 26:49, in welchen die Androhung Pharaos wiederholt wird.
Im vierten Beispiel in Vers 12:31 ist ersichtlich, dass der Gebrauch von Präfixen in der Sprache eine enorme Bedeutung erlangt. So wie schneiden eben nicht „abschneiden“ bedeutet, verhält es sich ähnlich in der Lesung. Die Hände zu schneiden bedeutet noch bei Weitem nicht, die Hände abzuschneiden.
Was bedeutet es denn, in die Hand zu schneiden? Als Zeuge muss man immer noch vor Gericht bei seiner Zeugenaussage die Hand heben und schwören, „die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen, so wahr Gott helfe“. Das Handheben im Gericht diente damals zur Prüfung, dass der Zeuge keine Schnittnarbe oder Brandmarkung auf seiner Hand aufweist, was als Zeichen für die Gültigkeit seiner Zeugenaussage und für einen tadellosen Leumund galt. Denn wer schon einmal gestohlen hatte und solch ein Brandzeichen (in Form eines „T“ für theft) bekam, dessen Zeugenaussage konnte vor Gericht nicht mehr gelten.117
Die Strafe für Diebstahl
Einen weiteren Hinweis über Diebstahldelikte im monotheistischen Glauben der Familie Abrahams, der ja bekanntlich als Gründer der gottergebenen Lebensordnung gilt, finden wir in der Geschichte von Josef erzählt. Josefs Söldner beschuldigten seine Brüder, den Pokal des Königs gestohlen zu haben. In Vers 12:74 lesen wir, wie die Söldner die Brüder (die Söhne Jakobs) nach der Strafe des Diebstahls fragen:
12:74–75 Sie sagten: „Was ist dann seine Strafe, wenn ihr lügt?“ Sie sagten: „Derjenige, in dessen Gepäck er gefunden wird, soll selbst die Strafe sein. So bestrafen wir die Ungerechten“
Vers 12:74 deutet auf das Gesetz, das Jakob seinen Söhnen beigebracht hatte und unter seinem Stamm ausführte. Es geht um die gemeinnützige Arbeit, die der Dieb verrichten muss, um seine Schuld bei dem Bestohlenen begleichen zu können, bis die Summe des Diebstahls beglichen ist. Hierbei kann jedoch der Bestohlene auf die volle Leistung als Vergebung verzichten, um Gottes Wohlwollen zu erlangen (2:178). Die gerechte Strafe ist das Gesetz Gottes und darf kein anderer, außer der Schuldige, auf sich nehmen, so wie Josef den Brüdern in den nächsten Versen erklärt (12:78–79).
Unter Berücksichtigung all dieser Punkte haben wir nun drei verschiedene Bedeutungen dieses einen Verses aus dem fünften Kapitel.
- Das physische Abschneiden der Hände (abhacken);
- Das Kennzeichnen, Zerkratzen oder Verletzen der Hände (sichtbares Merkmal für die Mitmenschen und für zukünftige Gerichtsprozesse beim Heben der Hand);
- Die Mittel (Ressourcen/Einnahmen) entziehen und/oder ihre sozialen Verbindungen einschränken (wie etwa Leisten von Sozialarbeit oder Gefängnis).
Die Entscheidung, welche dieser Bedeutungen akzeptiert wird, liegt beim Volk, welches die Lesung als Gesetz umsetzen will. Aufgrund der Tatsache, dass eine Bestrafung höchstens gleichermaßen vergolten werden darf (16:126), sehen wir die beste Lösung in der dritten Bedeutung. Bei einem Diebstahl wurden Waren oder Produkte gestohlen, womit dem Dieb die Ressourcen oder Einnahmen (seine soziale, individuelle Macht) entzogen werden dürfen, zum Beispiel in Form von Sozialarbeit kombiniert mit einer Geldbuße.
Ich möchte an dieser Stelle den Leser unter Rücksichtnahme der Zeitlosigkeit der Offenbarung, der Tatsache, dass die Bestrafung die Tat an Maß nicht überschreiten darf (16:126) und der Bedeutung des folgenden Verses einladen, zu überdenken ob das Abschlagen der Hände die von Gott gewollte Strafe für Diebstahl sein kann. Wahrlich und Gott der Allwissende weiß es besser.
5:39 Wenn aber einer, nachdem er Unrecht tat, bereut und sich bessert, wendet Gott sich ihm wieder zu. Gott ist vergebend, gnädig.