Fest verwurzelt, offen für Wachstum: Authentizität im Islam

Kategorien: Allgemein,Gesellschaft,Koran,Theologie & Auslegung

In einer Welt, die uns nicht selten in ein Hamsterrad aus Pflichten und Erwartungen zwingt – sei es durch das Streben, die Erwartungen anderer zu erfüllen, Verantwortung zu übernehmen, Rollen perfekt auszufüllen oder sich hinter Masken zu verstecken – wird Authentizität zu einem seltenen Gut. Die Realität wird oft auch begleitet von Hetze und Hass im Internet, dem Aufregen über Banalitäten – „Mohamed Salah und seine Familie vor einem Weihnachtsbaum!!!“ – oder einer tiefen Entfremdung, die selbst innerhalb der eigenen Religion spürbar wird. Wie kann man inmitten dieser Herausforderungen authentisch leben?

Der etymologische Ursprung des Wortes Authentizität liegen im Altgriechischen: auto bedeutet „selbst“, hentes „tun“ oder „handeln“. Authentisch zu sein heißt also, aus eigener Überzeugung zu handeln und sich nicht von äußeren Zwängen bestimmen zu lassen. Authentizität ist der Einklang zwischen Wort und Tat. Jedes Wort ist die Konsequenz einer inneren Haltung, die der Mensch in sich trägt, und führt zu einer entsprechenden Tat. Diese Idee findet im Islam eine tiefe Resonanz: Authentizität wird durch die Beziehung zu Gott geprägt, die dem Leben Stabilität und Richtung gibt. Die Koranverse 14:24–27 verdeutlichen dies anhand einer kraftvollen Parabel.

Die Parabel vom guten Baum

Im Koran heißt es:

„Hast du nicht gesehen, wie Gott ein Gleichnis anführt? Ein gutes Wort ist wie ein guter Baum: Seine Wurzeln sind fest und seine Zweige ragen in den Himmel. Er bringt Früchte zu jeder Zeit hervor, mit der Ermächtigung seines Herrn. Und Gott führt den Menschen Gleichnisse an, auf dass sie nachdenken mögen.“ (14:24-25)

Der gute Baum steht für einen Menschen, dessen Leben fest in einem stabilen Glauben verwurzelt ist. Seine Stärke liegt in der Verbindung zwischen innerer Überzeugung und göttlicher Ermächtigung (idhni rabbihā). Dies verdeutlicht, dass authentisches Handeln nicht allein aus persönlicher Stärke entspringt, sondern aus der Führung Gottes. Der Baum ist fest verankert, während seine Zweige nach oben streben, ein Sinnbild für innere Stabilität und spirituelles Wachstum.

Die Früchte des Baumes – positive Handlungen und Beiträge zur Gesellschaft – sind das Ergebnis eines Lebens, das auf Wahrheit und Beständigkeit beruht. Authentizität im islamischen Kontext bedeutet daher nicht nur, den eigenen Werten treu zu sein, sondern auch, Verantwortung für die Auswirkungen des eigenen Handelns zu übernehmen. Ein authentischer Mensch zieht seine Kraft aus der Tiefe seiner Überzeugungen und bringt durch Gottes Ermächtigung beständig Gutes hervor.

Das Gleichnis des schlechten Baumes

Gott beschreibt im nächsten Vers den Gegensatz:

„Und das Gleichnis eines schlechten Wortes ist wie ein schlechter Baum, der aus der Erde entwurzelt ist und keinen Halt hat.“ (14:26)

Der schlechte Baum symbolisiert ein Leben ohne feste Grundlage. Seine Wurzeln sind schwach oder gar nicht vorhanden, weshalb er bei jedem Windstoß entwurzelt wird. Ein solcher Baum trägt keine Früchte, da ihm die Kraft fehlt, beständig zu sein. Übertragen auf den Menschen bedeutet dies, dass ein Leben, das nicht auf innerer Wahrheit und stabilen Werten basiert, leicht von äußeren Einflüssen dominiert wird. Wort und Tat stehen nicht mehr miteinander in Einklang, was durch den Koran an anderen Stellen mehrfach kritisiert wird, unter anderem in:

„O, die ihr glaubt! Wieso sagt ihr, was ihr nicht tut? Es ist höchst unausstehlich bei Gott, dass ihr sagt, was ihr nicht tut!“ (61:2-3)

„Bis dann der Tod zu einem von ihnen kommt, sagt er: Mein Herr, bringt mich zurück, damit ich Rechtschaffenes in dem, was ich hinterließ, tue. Nein, das ist ein Wort, das er nur so sagt. Und hinter ihnen ist eine Barriere bis zum Tag, an dem sie zurückgeschickt werden.“ (23:99-100)

Dementsprechend kann sich diese Entwurzelung in vielen Formen zeigen: Getriebenheit, das ständige Anpassen an die Erwartungen anderer oder das Leben in einer Fassade, die nicht dem wahren Selbst entspricht. Der schlechte Baum erinnert uns daran, dass Oberflächlichkeit und fehlende Überzeugung letztlich zu innerer Leere führen. Authentizität bedeutet daher, Wurzeln zu schlagen – in den eigenen Werten und Überzeugungen, aber auch in der Verbindung zu Gott, der diese Stabilität erst ermöglicht.

Standhaftigkeit als Geschenk Gottes

Gott sagt weiter:

„Gott festigt diejenigen, die glauben, mit einer festen Haltung im diesseitigen Leben und im Jenseits.“ (14:27)

Hier wird deutlich, dass Standhaftigkeit nicht allein eine menschliche Errungenschaft ist, sondern ein Geschenk Gottes. Die „feste Haltung“ (al-qawl ath-thābit) symbolisiert Klarheit, Stabilität und die Fähigkeit, Herausforderungen zu widerstehen, ohne von den eigenen Überzeugungen abzuweichen. Ein Mensch, der sich auf Gott verlässt, wird in seinem Glauben und in seinem Handeln gestärkt. Diese göttliche Unterstützung ermöglicht es, auch in schwierigen Zeiten authentisch zu bleiben.

In einer Welt voller Unsicherheiten ist diese Standhaftigkeit ein Anker. Sie hilft uns, nicht in das Hamsterrad der Erwartungen zu geraten und uns nicht von äußeren Umständen treiben zu lassen. Authentizität bedeutet, aus dieser göttlichen Kraft heraus zu handeln – nicht perfekt, sondern mit einer inneren Klarheit, die unser Leben prägt.

Meine persönliche Suche nach Authentizität

Aufgewachsen in einer muslimisch-orthodoxen Familie in Deutschland, war ich oft hin- und hergerissen zwischen verschiedenen Identitäten. War ich deutsch oder tunesisch? Muslim oder Teil der westlichen Gesellschaft? Schließt es sich gegenseitig eigentlich aus oder ergänzen sie einander? Diese Zerrissenheit führte zu dem Gefühl, nirgendwo wirklich dazuzugehören.

Die Koranverse 14:24-27 halfen mir, diese Spannungen zu überwinden. Der „gute Baum“ wurde für mich zu einem Sinnbild meines eigenen Weges: Tief verwurzelt in meinem Glauben, aber mit Zweigen, die sich in verschiedene Richtungen erstrecken. Authentizität bedeutet für mich heute, all diese Facetten anzunehmen und sie in Einklang zu bringen.

Dabei habe ich erkannt, dass Authentizität keine Perfektion erfordert. Sie beginnt mit der Annahme des eigenen Selbst – der Stärken, Schwächen und Widersprüche. Authentisch zu sein heißt, die Verbindung zu Gott als Grundlage zu nutzen, um ein Leben zu führen, das auf Stabilität und innerer Wahrheit basiert.

Schlussgedanken: Authentizität als Lebensprinzip

Die Koranverse 14:24-27 lehren uns, dass Authentizität keine bloße Eigenschaft ist, sondern ein Lebensprinzip. Sie verlangt, dass wir unsere Wurzeln pflegen, unsere Werte stärken und auf Gott vertrauen, der uns die Kraft zur Standhaftigkeit schenkt.

Der „gute Baum“ steht dafür, wie ein authentisches Leben aussieht: fest verwurzelt, offen für Wachstum und beständig in seinen Früchten. Authentizität bedeutet, nicht perfekt zu sein, sondern aufrichtig – zu uns selbst, zu anderen und zu Gott. Sie ist ein Weg, der uns von Entfremdung zur Erfüllung führt und unser Leben mit Sinn und Beständigkeit füllt.