Es handelt sich um eine Fortsetzung meines persönlichen Blogs, den ich vor einigen Monaten in den sozialen Medien begann. Für weitere Informationen: mein Instagram– und mein Facebook-Account.
In eine traditionelle, muslimische Familie in Deutschland hineingeboren zu werden, gleicht dem Anschein der vorigen Beiträge nach einer Bürde, die einem in die Wiege gelegt wird. Natürlich kann man sich die Familie nicht aussuchen, in die man hineingeboren wird. Den Islam verlassen würde ich aber bis jetzt auch nicht verlassen. Das Potential, das ich in der jüngsten der großen Weltreligionen der Welt sehe, überwiegt im Vergleich zu deren in meinen Augen omnipräsenten Perversionen, sodass ich aus voller Überzeugung sagen kann, dass ich bisher nirgendwo anders als im Islam Inspiration und Halt für mein Leben finden konnte. Der Islam ist und bleibt Teil meiner Persönlichkeit. Ich könnte zwar äußerlich fast alles ablegen, was mich in irgendeiner Form damit verbindet. Doch die Erfahrungen bleiben und prägen mein Wirken wahrscheinlich bis ins hohe Alter. Der Glaube an eine Letzte Gerechtigkeit und an einen Gott, Der mich begleitet, alles sieht und auf höchst subtile, nur indirekt wahrnehmbare Art und Weise eingreift, währt, solange ich lebe – und das dank und gleichzeitig trotz der Erfahrungen und Erlebnisse, die mich bis heute prägen. Sie sind gleichsam mein Antrieb, der Benzin für meinen Motor, den ich brauche, um meinem Leben Sinn und Struktur zu geben, indem ich meinen eigenen Weg zur Gottergebenheit folge. Gottergebenheit – das ist das, was für mich heute „Islam“ bedeutet. Was ich darunter verstehe und wie ich letztlich zu dieser Einsicht komme, ist Teil eines Wegs, der vor etwa 13 Jahren begann.
Umgang mit Werten und Moral zwischen den zwei Kulturen
Dass ich den Islam nicht verlasse, ist jedoch nicht so selbstverständlich, wie es sich liest. Es gibt Menschen – zu denen ich auch gehöre –, die von einem tief sitzenden Ungerechtigkeitsempfinden geprägt sind. Und wenn einschneidende Lebensereignisse geschehen, die sich zum Nachteil für das eigene Selbst auswirken, dann ist die Neigung allzu menschlich, sich von deren Ursachen zu distanzieren. „Kampf“ und „Flucht“ sind in die DNA des Menschen einprogrammiert. Ich habe in einem meiner vorigen Beiträge bereits von einer „horizontalen“ und „vertikalen“ Achse gesprochen. In jenem Kontext ging es um den Umgang mit moralischen Wertvorstellungen als Mensch zwischen zwei Kulturen – der „europäischen“ und der „nahöstlichen“. Das Spektrum dieser „horizontalen“ Achse beginnt mit demjenigen, der alles Islamische von sich weist und komplett mit dem verschmilzt, was als „westliche Werte und Moralvorstellungen“ bezeichnet wird, im Sinne einer „restlosen Assimilation“. Es endet mit demjenigen, der das traditionell Islamische, Althergebrachte und seit Generationen Bewährte mit allen Mitteln schützt und alles Moderne, Westliche und Neue verabscheut. Ich nenne sie die „kompromisslosen Traditionalisten“. Die „vertikale“ Achse beschreibt die Art und Weise, wie dementsprechende, eigene Überzeugungen den Leuten im unmittelbaren Umfeld nahegelegt werden. Dieses Spektrum beginnt mit den – wie ich sie nenne – Tafkīrīs. Es sind jene, die den nahestehenden Menschen in angemessener Weise den Freiraum gewähren, den sie benötigen, um ihre eigenen Erfahrungen zu machen, und nur dann eingreifen, wenn es für nötig erachtet wird. Dessen Ende bilden die Takfīrīs, die keinen Raum für Diskussionen lassen, keine Widerrede dulden und vorschnell alles für nichtig und falsch erklären, was der eigenen Meinung zuwiderläuft. Beide Spektren haben unendlich viele Zwischenstufen, sodass im Prinzip jeder Muslim seinen eigenen Platz in folgender Veranschaulichung hat:
In meinem Fall sind es, was das Thema Religion, Werte und Moral angeht, kompromisslos traditionalistische Takfīrīs (oben rechts in der Veranschaulichung) gewesen, die meine Erziehung prägten und jede Form von geistigem Fortschrittsbewusstsein mieden. Ein solches Leben wird allein auf individuelle Religiosität reduziert. Solange man so oft, wie es geboten ist, betet, fastet und den Koran liest, sammelt man genug Hasanāt (gute Taten, die einem Menschen in metaphysischem Sinne gut geschrieben werden), um nach dem Tod das Ticket zum Paradies zu lösen. Jede Zeit, die in die Lektüre eines anderen, nicht traditionell gebilligten Buches oder bspw. ins Studium geisteswissenschaftlicher Themen investiert wird, gilt als Zeitverschwendung, von dem man sich enthalten solle. Währenddessen wird die Nahost-Krise beim Zuschauen am Fernseher in den Nachrichten gelöst und Gott bei jedem (Freitags-)Gebet um Hilfe gebeten, während jede übrig bleibende Zeit dem Kartenspiel im Teehaus oder zuhause gewidmet wird. Und als wäre dies nicht genug, verbergen sich hinter der Fassade der Religiosität nicht selten Persönlichkeitsstörungen, die zur Folge haben, dass das seelische Leben der Nahestehenden über Jahre hinweg – bewusst oder unbewusst – immense Schäden erleidet. Narzissmus, Depressionen oder Burnouts – all diese sind kleine Einzelphänomene oder -schicksale. Sie haben die Mitte der muslimischen Community längst erreicht und tiefe Wurzeln geschlagen.
Die Psyche unter stetigem Leidensdruck
In meinen jungen Jahren habe ich es für normal erachtet, dass meine Familie so ist, wie sie ist. Die Suche nach Kontakt zu anderen Menschen und Familien war seitens des Hausherren sehr überschaubar. Wir waren in der Hinsicht beileibe auch nicht die einzigen. Eine nicht zu unterschätzende Anzahl muslimischer Familien geht den Weg der sozialen Isolation in der Hoffnung, „muslimische Werte“ zu wahren und sich vor schädlichen Einflüssen zu schützen. Diese gelten als „fitnah“ (externe Versuchungen, die letztlich in die Abkehr vom Islam münden würden). Als sein Nachkomme hatte ich somit kaum Vergleichsmöglichkeiten mit anderen Formen familiärer Führung, sodass ich derartige Erziehungsmethoden, wie den seinen, als vollkommen normal und üblich empfand. Doch mit zunehmendem Alter merkte ich sehr wohl, dass irgendetwas nicht stimmen kann. Denn mit der Zeit ergeben sich immer mehr Gelegenheiten, heimische Gegebenheiten mit denen anderer Menschen und Familien zu vergleichen. Dann verschiebt sich nämlich das „Normale“ schnell weg von den Umständen innerhalb der eigenen vier Wände hin zu denen, bei denen die Dinge anders – um nicht zu sagen, um Dimensionen fairer und würdiger – gehandhabt werden. Und dann dauert es nicht lang, bis man sich selbst die Frage stellt, warum gerade ich dieses Pech habe? Es ist dieses „gerade ich“, das einem den Boden von den Füßen ziehen und ihn in ein großes Loch stürzen lassen kann. Man lernt kennen, was bedeutet, depressiv und seelisch zerrüttet zu sein. Denn selbst wenn man irgendwann das Elternhaus verlässt, ist es unheimlich schwierig, Sinn und Lebensfreude in das eigene Leben zu bringen. Meine überaus prägende Vergangenheit hatte nämlich die unheimliche und zugleich beängstigende Kraft, mich in jeder neuen Lebenssituation einzuholen und mich mit den Scherben des Lebens zu konfrontieren – egal ob in meinem Studium, in meinem Job, in der Ehe oder in der Kindererziehung.
Schicksalsglaube und Fatalismus
Ist das mein Schicksal? Das, was Gott für mich vorgesehen hat? Dem Urteil eines traditionalistischen Takfīrīs nach heißt die Antwort an dieser Stelle eindeutig: „ja. Gott wolle uns damit nur prüfen und sehen, ob wir standhaft bleiben.“ Es handelt sich um eine Sicht der Dinge, die in mir mittlerweile tiefsten Abscheu auslöst und mich mehrmals dazu animierte, den Islam zu verlassen, weil ich es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren konnte, wie ein Gott vor der Schöpfung der Menschen willkürliche, mehr oder minder starke Feuertaufen für den Einzelnen festlegt, nur um zu schauen, ob derjenige das aushalten kann oder nicht. Obwohl Gott es aufgrund Seiner Allwissenheit sowieso schon vorab weiß, wie der eine oder andere Traditionalist weiter argumentiert. „Das kann es einfach nicht sein“, denke ich mir. „Was soll das Ganze dann überhaupt noch?“ Sadisten gibt es unter den Menschen genug. Ein barmherziger Gott, wie er im Islam unentwegt bezeichnet wird, kann nicht auch so sein. Das macht das Leben einfach nicht lebenswert. Darüber hinaus ist Fatalismus – der Glaube an eine als unabänderlich hingenommene Macht des Schicksals, die das eigene Handeln bestimmt – etwas, was ich schon immer aus tiefster Überzeugung ablehne und für unvereinbar mit dem Islam halte. Meines Erachtens ist er ein gefährlicher Virus, der vor vielen Jahrhunderten Eingang in die islamische Anschauung fand, muslimisches Denken über weite Strecken verseuchte und das geistige Leben unzähliger Menschen forderte. Jeder, der eine fatalistische Haltung einnimmt, läuft dem zuwider, wofür der Islam meiner Überzeugung nach an allererster Stelle steht: Selbstverwirklichung durch Eigenverantwortung. Es sind ebendiese Werte, die meinen Glauben an den Gott des Islams am Leben hielt. Mein Weg zu dieser Einsicht und letztlich zur Gottergebenheit war ein langer und beschwerlicher. Denn ich musste zunächst zusehen, dass ich nicht mehr in jenes Loch stürzen würde und die Scherben des bisherigen Lebens hinter mir lassen kann. Heute weiß ich, dass ich trotz all der Erfahrungen und Erlebnisse ein Leben lang gebrandmarkt werden bleibe und dass es längst an der Zeit ist, sich von den alten, rostigen Ketten der Vergangenheit zu befreien und das restliche Leben so erfolgreich wie möglich zu gestalten. Und im Zuge dessen gibt es meiner Meinung nach zwei Zauberwörter, die als Leitplanken fungieren: Kommunikation und Offenheit.
Kommunikation und Offenheit als Ausweg
Ich bin der Überzeugung, dass es nur dann effektiv mit der muslimischen Community voran, wenn sich der Einzelne dazu bereit erklärt, Erlebnisse und Erfahrungen – gute wie auch schlechte – in einem offenen und ehrlichen Diskurs miteinander zu kommunizieren. Das Wohl des Einzelnen ist direkt gekoppelt an das der Gemeinschaft und umgekehrt genauso. Sie sind zwei Seiten ein- und derselben Medaille. Durch die daraus resultierende Horizonterweiterung können wir voneinander nur profitieren, sodass unsere Handlungsmöglichkeiten zunehmen und wir Wege finden können, wie wir der Community insgesamt und dem einzelnen Gläubigen das geben, was sie in der heutigen Zeit am meisten verdienen: ein würdiges Leben und eine gerechte Teilhabe in der Gesellschaft. Wir müssen schlicht und einfach begreifen, dass prägende Erlebnisse, wie ich sie in meinem Fall kurz angerissen habe, weder Einzelschicksale sind oder der Vorherbestimmung Gottes entsprechen können. Muslimischer Fatalismus ist eine Seuche, die mit allen Mitteln bekämpft werden muss, und das ihm zugrundeliegende, muslimische Gottesbild muss sich paradigmatisch verändern – weg von einem sadistischen Gott, dem Selbstverherrlichung und uneingeschränkter Gehorsam weitaus mehr bedeutet als unser Werdegang und unsere Stellung hier auf der Welt gemessen an den Möglichkeiten und Fähigkeiten, wie wir als Menschen besitzen können. Ich möchte damit nicht sagen, dass ausnahmslos jeder in der muslimischen Community ein solches Gottesbild in sich trägt oder dass es DEM Islam gleicht und somit per se schlecht ist. Man darf dem Islam nicht die Schuld für die Misere geben, in der sich die muslimische Community befindet. Man darf ihm auch nicht die Verantwortung für den seelischen Zustand der nahestehenden Menschen geben, wenn es um Einzelschicksale geht. Doch wenn man sich weite Teile der muslimischen Gemeinschaft hier im deutschsprachigen Raum anschaut, dann scheint ein solches althergebrachtes Gottesbild nicht nur gebilligt, sondern von den meisten auch im Inneren wehmütig akzeptiert zu werden, weil man sich eine derartige Veränderung des Gottesbildes im kollektiven Gedächtnis der Muslime nur schwer vorstellen kann. „Wie kann ich als Einzelner eine solch große Veränderung bewirken?“, heißt es dann oder: „Das bringt doch eh nichts. Es ist, als würde man einen Sieb mit Wasser voll machen wollen! Ich konzentriere mich lieber auf mich selbst und auf meine Karriere – Dinge, die ich wirklich in die Hand nehmen kann!“ Und spätestens jetzt wird klar, warum Kommunikation und Offenheit so wichtig sind. Sie sind in meinen Augen unerlässlich, da sie Möglichkeiten der Begegnung schaffen und Erfahrungsaustausch und Kompetenzbündelung ermöglichen. So können auch individuelle Bedürfnisse erkannt und befriedigt werden, die von gleichermaßen gesellschaftlicher und kultureller Bedeutung sein können.
Zeitgemäßer muslimischer Glaube und die Bedeutung der Gottergebenheit
Der Islam ist nicht per se schädlich oder menschenfeindlich. Einzelschicksalen liegen meist wissenschaftliche Zusammenhänge zugrunde und die Probleme, die ich in der muslimischen Kultur insgesamt sehe, sind keine genuin islamische oder von Gott gewollte, sondern in erster Linie psychologische und von Menschen gemacht. Das heißt, es gibt für uns Muslime, die in dieser Welt ihr Leben fristen, unglaublich viel zu lernen – viele Möglichkeiten der Erkenntnis. Und mit der Erkenntnis kommt die nötige Veränderung, die wir so dringend brauchen. Erkenntnis und Veränderung – dahinter steckt ein Gottesbild, das meiner Überzeugung am ehesten entspricht und das ich für äußerst vielversprechend halte, wenn es darum geht, einen zeitgemäßen muslimischen Glauben zu charakterisieren: ein Gott, bei Dem Allwissenheit nicht gleichbedeutend mit Vorherbestimmung ist, Der dem Menschen eine mentale Stütze im eigenen Wirken ist und Der uns den Koran als Orientierungshilfe zur Verfügung stellt, mit dem das Richtige erkannt werden kann. Denn der Mensch ist grundsätzlich fähig, sein Leben selbstbestimmt zu führen, indem er stets dazu lernt und selbstständig das Richtige erkennt. Das ist das, was für mich Gottergebenheit bedeutet: Ein Gott, Der dem Menschen wohlwollend gegenüber steht, sich nichts aus blindem Gehorsam macht und dem Menschen dabei hilft, Mensch zu werden.
Nun mag der eine oder andere fragen: „Was ist denn eigentlich das Richtige?“ Im Grunde genommen gibt es hierfür auch keine allgemeingültige, objektive Antwort, die ich an dieser Stelle präsentieren werde. Eine solche kann es auch gar nicht geben – zumindest nicht in dieser Welt. Wenn ich sage „Selbstverwirklichung durch Eigenverantwortung sind die obersten Werte im Islam!“ oder „Erkenntnis und Veränderung charakterisieren zeitgemäßen muslimischen Glauben!“, dann gelten diese Antworten zunächst nur für mich. Doch gerade dies ist der Charakter des diesseitigen Lebens, dass jeder Mensch seinen eigenen Zugang zur Wirklichkeit hat und kraft seines freien Willens berechtigt dazu ist, zu deuten, zu interpretieren und dementsprechend zu handeln. Was den Menschen zum Menschen macht, sind Erkenntnisleistung und schöpferisches Handeln. Diese würden übergangen werden, wenn auf der anderen Seite heiligen Texten, insbesondere dem Koran, der Anspruch gestellt wird, eine abschließende Antwort dafür zu liefern, was das absolut Richtige im Leben ist. Dies würde einerseits den Wert des Menschen schmälern, indem er zu einem willenlosen Vasallen degradiert würde. Andererseits wäre auch der Koran nicht mehr wert als die Ge- und Verbote, die uns zum konkreten Handeln zwingen, und die Geschichten und Gleichnisse, die die restlichen Seiten füllen, wären lediglich „nice to have“. Der Gegenteil ist meiner Meinung nach der Fall. Der Koran, jenes Buch mit seinen 604 Seiten und seinen 6236 Versen, seinen Geschichten und Gleichnissen, seinen Ge- und Verboten, in all ihren Formen und Variationen, ist eine Sammlung von Mitteln der Erkenntnis (6:104), die uns von Gott zur Verfügung gestellt werden, damit wir uns als Menschen selbst verwirklichen und unsere Stellung in der Welt erarbeiten. Dieses Verständnis vom Koran deckt sich mit dem Bild des Menschen als erkennendes, schöpferisch handelndes Wesen und spricht jenem Buch den Wert der Universalität insofern zu, als dass es fähig ist, zu jeder Zeit und an jedem Ort angemessene Antworten auf die Fragen des Lebens liefern zu können. Während der Islam in der öffentlichen Wahrnehmung mit jener Weltreligion verbunden wird, die die rituelle Praxis – allen voran die sog. „5 Säulen“ – an vorderster Stelle stellt, gründet dieser in meinen Augen primär in der Notwendigkeit eines gemeinsamen, menschheitsübergreifenden Werte- und Rechtekanons zur Sicherstellung, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied werden kann. Die bedingungslose Annahme dieses Kanon ist daher gleichbedeutend mit der Ergebung in Gott, Der Dem Menschen kraft seines Daseins Würde verlieh, welche durch Erkenntnisvermögen und schöpferischem Handeln zum Ausdruck kommt. Damit ist der Islam nicht nur eine Religion im engeren Sinne, sondern auf übergeordneter Ebene ein Art Lebenssystem oder Lebensordnung mit dem Koran als grundlegende Orientierungshilfe. Und das ist das, was für mich Gottergebenheit bedeutet.
Erkenntnis und Veränderung können niemals ausgehend von einer einzigen Person stattfinden, sondern nur im Kollektiv. Das zeigt, wie wichtig auch hier Offenheit und Kommunikation sind. Ich bin mir sicher, dass ein grundlegender Wandel im Verständnis dessen, was der Islam (nicht) ist, in der heutigen Zeit schnell seine Früchte tragen wird, wenn wir bedenken, dass die Probleme, in denen sich die muslimische Community befindet, hausgemacht und offenkundig sind. Wenn wir als Gemeinschaft dem Fatalismus den Rücken zuwenden und beginnen, unser Schicksal in die eigene Hand zu nehmen, indem wir aktiv an unserer Zukunft arbeiten, entwickelt sich ein Bewusstsein für eigene Bedürfnisse und Ambitionen, insbesondere im religiösen Bereich, die nicht vernachlässigt werden dürfen. Im Gegenteil: Sie sind von grundlegender Bedeutung. Denn Veränderung beginnt zuerst immer im Inneren (13:11). Als Gottergebener muss man sich darüber bewusst sein, dass es nicht schlimm ist, primär an seine eigenen Bedürfnisse und Ambitionen zu denken. So sehr der traditionalistische Kollektivismus seinen Reiz in der gemeinsamen Identität und im religiösen Zugehörigkeitsgefühl hat, so nachteilig wirkt es sich auf den Einzelnen aus, wenn das Individuum mit seinen Eigenheiten und seinen Talenten in der Regel auf der Strecke bleibt. Eigenen religiösen Zielsetzungen zu folgen, birgt zwangsläufig Konfliktpotential mit bestehenden traditionellen Normen und Konventionen, insbesondere dann, wenn es ein Gebot des gesunden Menschenverstandes ist. Dies wurde am Beispiel des Freitagsgebets deutlich. Dies soll den Einzelnen jedoch nicht entmutigen, seinen eigenen Weg zu folgen, wenn er erkennt, dass es andere Menschen gibt, die sich auf einen ähnliche Reise begeben. Und genau hier setzt der offene und ehrliche Diskurs mit Gleichgesinnten an.
Mein persönlicher Weg zur Gottergebenheit
Vor 13 Jahren begann meine eigene Reise. Damals habe ich mir das erste Mal die Frage gestellt, ob Islam eigentlich auch anders gehen kann. Genug der Ungerechtigkeiten zuhause und genug der Widersprüche und Ungereimtheiten in der Tradition, die meine Intelligenz mehr oder minder beleidigten. Ich habe nicht gleich alles verteufelt, was ich mit dem traditionellen Glauben in Verbindung brachte. Doch war ich der festen Überzeugung, dass ich mein Heil woanders suchen musste, indem ich mich von der Tradition distanzierte. Bis zu diesem Zeitpunkt konnte mir kein Familienangehöriger und kein Imam aus einer Moschee bei den Fragen helfen, die sich bei mir immer wieder von neuem stellten. Und so begann ich meinen eigenen Weg, indem ich Kontakte knüpfte und Bücher las, in der Hoffnung, die Endstation meiner Reise zu finden. „Irgendwo da draußen muss doch die eine Antwort zu finden sein!“, dachte ich mir anfangs. Die Suche nach Eindeutigkeit trieb mich an. Ich schloss mich einer hiesigen Gemeinschaft an, die den Koran in den Mittelpunkt für religiöse Fragen stellte und eine kulturelle Einheit mit eigenen Zielsetzungen und klaren Vorstellungen, was Bildung von Kindern und Jugendlichen und das Ziel des Islams anging, bildete. Von ihnen durfte ich unheimlich viel lernen, wofür ich sehr dankbar bin. Jedoch löste sich die Gruppe im Laufe der Jahre auf und hinterließ für mich ein großes mentales Vakuum. Weiter auf die Suche machend, stieß ich auf das Buch „Rumi und die islamische Mystik“ von Yasar Nuri Öztürk und füllte jenes Vakuum zunächst wieder. Ich lernte Rumi und seine Werke kennen, die mein Horizont entscheidend erweiterten und Nahrung für meine Seele lieferten. Doch mit der Zeit verflog auch hier die rosarote Brille und die Einsicht kam relativ schnell, dass das Leben heutzutage wesentlich komplexer und vielschichtiger ist, als dass seine Werke den Anspruch der Ausschließlichkeit in den Fragen des Lebens innehätten. Schließlich lernte ich Muhammad Shahrour und sein Buch „Das Buch und der Koran“ kennen. Von seiner rationalistischen Methodik in der Koranexegese und den Ergebnissen, zu denen diese führte, war ich dermaßen beeindruckt, dass ich davon ausging, die eine Antwort endlich gefunden zu haben. So überzeugend war die Argumentation, so übereinstimmend waren die Ergebnisse mit der Lebenswirklichkeit. Doch hat es auch hier wenige Jahre gedauert, bis ich merkte, dass auch seine Werke auch Schwächen hatten.
Seitdem bin ich zum Entschluss gekommen, dass in allen Etappen meines Wegs ein Stück Wahrheit steckt, welches in mein Mindset aufgenommen werden musste: Von der hiesigen Gemeinschaft, die sich auflöste, lernte ich Organisation und Strukturierung eines kulturellen Kollektivs auf Grundlage des Korans kennen. Rumi lieferte Nahrung für die Seele, Shahrour Nahrung für den Verstand. Doch die eine Antwort auf alles gibt es nirgendwo da draußen, so lautet meine Überzeugung jetzt. Sie entsteht mit der Kraft der Gewissheit im Inneren.
6:75-79 „Und so zeigten Wir Abraham das Reich der Himmel und der Erde, – und damit er zu den Überzeugten gehöre. Als die Nacht über ihn hereinbrach, sah er einen Himmelskörper. Er sagte: ‚Das ist mein Herr!‘ Als er aber unterging, sagte er: ‚Ich liebe nicht diejenigen, die untergehen!‘ Als er dann den Mond aufgehen sah, sagte er: ‚Das ist mein Herr!‘ Als er aber unterging, sagte er: ‚Wenn mein Herr mich nicht rechtleitet, werde ich ganz gewiss zum irregehenden Volk gehören.‘ Als er dann die Sonne aufgehen sah, sagte er: ‚Das ist mein Herr! Das ist größer!‘ Als sie aber unterging, sagte er: ‚O mein Volk, ich sage mich von dem los, war ihr Ihm beigesellt! Ich wende mein Gesicht Dem zu, Der die Himmel und die Erde stetig wandelnd erschuf, und ich gehöre nicht zu den Beigesellern.‘“
eigene Übersetzung
Genauso wie bei der Suche nach dem Richtigen im Leben ist auch hier der Weg das Ziel und es ist die Aufgabe des Menschen, zeit Lebens Veränderung anzunehmen und eigene Erkenntnisse zu produzieren, insbesondere in der Gottergebenheit. Ganz egal, welche (familiäre und/oder psychische) Hürden es in der Vergangenheit gab und welche man hinsichtlich der eigenen Zukunft als existent glaubt: Solange wir in dieser Welt leben und noch alle Möglichkeiten des Handelns gegeben sind, müssen wir aufwachen und uns Hand in Hand den Herausforderungen stellen, die uns das Leben bietet. Denn das Schlimmste, was dem Menschen passieren kann, ist es, verpassten Chancen hinterher zu trauern. Daher ist der Weg zur Gottergebenheit immer auch ein gemeinsamer!