Islam und Evolutionstheorie – Vergleich dreier Ansätze

Kategorien: Koran,Wissenschaft

Auch 166 Jahre nach der Veröffentlichung von Charles Darwins Buch The Origin of Species (deutsch: Die Entstehung der Arten) wird immer noch über die Evolutionstheorie gestritten. Nicht so sehr in der Wissenschaft, wo dies normal ist und wo natürlich die Thesen von Darwin seitdem angepasst und erweitert wurden, sondern besonders unter religiösen Aktivisten. Gegner der Evolutionstheorie sind zum einen christlich-evangelikale Gruppierungen in den USA, die fordern, dass in Schulen statt oder zumindest neben der Evolutionstheorie die Erschaffung von Menschen und Tieren laut biblischer Darstellung gelehrt wird. In Europa wird von den hier dominierenden christlichen Kirchen die Evolutionstheorie nicht infrage gestellt; hier sind es eher Muslime, die die Evolutionstheorie ablehnen und dafür von christlicher Seite oft nicht ganz ernst genommen werden.

Zu den muslimischen Kritikern der Evolutionstheorie gehört der iranischstämmige, als Jugendlicher in die USA geschickte Seyyed Hossein Nasr, der sich in der muslimischen Umweltbewegung als früher Kritiker der Umweltzerstörung einen Namen gemacht hat – bereits 1966 wies er in einer Vorlesungsreihe an der Universität Chicago, auf der sein Buch „Man and Nature. The spiritual crisis of modern man“ beruht, auf das gestörte Verhältnis der modernen Menschen zu ihrer Umwelt hin, und seitdem hat er in vielen Veröffentlichungen die modernen Naturwissenschaften im allgemeinen und die Evolutionstheorie im besonderen kritisiert.

Auf der anderen Seite steht der türkische Professor Caner Taslaman, der in seinem Buch „Darf ein Muslim die Evolutionstheorie akzeptieren?“ selbiges aus theologischer Perspektive bejaht – auf wissenschaftlicher Ebene enthält er sich bewusst eines Urteils.

Shoaib Ahmed Malik ist Autor einer Untersuchung, in der er die Evolutionstheorie aus der ash’aritischen Perspektive al-Ġazālīs untersucht. Er kommt zum Schluss, dass aus dieser Perspektive zwar nicht die Evolution von Pflanzen, Tieren und den Menschen allgemein, wohl aber Adams und seiner Partnerin problematisch ist.

Die Argumentationen dieser drei Autoren werden im folgenden verglichen.

Hossein Nasr (Seyyed ist sein Ehrentitel, da er direkt vom Propheten abstammen soll, wird aber in der Literatur als Namensteil behandelt) stieß nach einer durch die Gottlosigkeit der Naturwissenschaften ausgelösten persönlichen Krise auf die durch René Guénon und Frithjof Schuon vertretene philosophia perennis, der er sich fortan verschrieb. Diese erkennt in allen traditionellen Religionen eine ewige Wahrheit. Praktisch vertritt Nasr aber ein neuplatonisches Weltbild, zu deren Kernpunkten die Vorstellung von archetypischen Arten gehört, die als Bild in Gottes Vorstellung existieren und sich in dem einzelnen Tier, der einzelnen Pflanze und dem einzelnen Menschen manifestieren. Die Entwicklung einer Art aus einer anderen sieht er daher als Unmöglichkeit. Auch könne aus toter Materie ohne göttliche Einwirkung kein Leben entstehen, wofür er physikalische und mathematische Argumente bringt. Daneben zieht er verschiedene Argumente von Wissenschaftlern gegen einzelne Aspekte der Evolutionstheorie, wie fehlende Bindeglieder in der Entwicklung oder das plötzliche Auftreten neuer Arten.

Caner Taslaman enthält sich bewusst der Beurteilung der wissenschaftlichen Aspekte der Evolutionstheorie. Stattdessen widmet er sich der Frage, ob theologische Gründe gegen sie sprechen. Er untersucht die wichtigsten theologischen Argumente der muslimischen Gegner der Evolutionstheorie, wobei er davon ausgeht, dass Muslime alles glauben dürfen, was nicht im Widerspruch zu allen plausiblen Interpretationen der entsprechenden Koranverse steht. Hadithe (Prophetenüberlieferungen) hält er nur für relevant, sofern sie mutawātir (weit verbreitet) sind, d.h. in allen Generationen von mehreren Überlieferern übermittelt wurden. Der Großteil aller gesammelten Hadithe erfüllt dieses Kriterium nicht.
Shoaib Ahmed Malik legt zur Unterscheidung erlaubter von unerlaubten Glaubenssätzen die Maßstäbe al-Ġazālīs an. Dieser sieht ebenfalls nur mutawātir-Hadithe als so verbindlich an, dass ihre Ablehnung als Unglauben bezeichnet werden dürfe. Für die Interpretation von Koranversen legt er allerdings strengere Maßstäbe an und verlangt zunächst eine wortgetreue Auslegung; nur wenn diese der Logik widerspricht (die von Alltagserfahrungen zu trennen ist), erlaubt er die nächsthöhere von fünf Abstraktionsstufen.
Im Gegensatz zu Nasr sind sich Taslaman und Malik einig, dass die Evolutionstheorie dem aktuellen Stand der Wissenschaft entspricht, auch wenn sie sich (und die Muslime) nicht auf sie festlegen wollen.

Allen drei Autoren ist bewusst, dass die Evolutionstheorie oft mit Atheismus in Verbindung gebracht wird. Während Nasr diesen Zusammenhang bekräftigt und sie aus diesem Grund ablehnt, argumentieren Taslaman und Malik gegen diese Verbindung. Taslaman listet verschiedene Kombinationsmöglichkeiten der beiden Variablen Gottesglaube und Glaube an die Evolutionstheorie auf und schlussfolgert, dass es ebenso atheistische Gegner der Evolutionstheorie wie auch gläubige Verfechter der Evolutionstheorie gibt. Malik untersucht einen der Kernbegriffe der Evolutionstheorie, den Zufall, und legt dar, dass Zufall nur bedeutet, dass die Menschen (noch) keine Voraussagen über ein Ereignis machen können; Gottes umfassende Kenntnis sei davon aber unberührt. Beide wenden sich gegen die Vorstellung eines „God of Gaps“, d.h. Gott als Erklärung für das Unerklärliche, was Gottes Rolle unzulässig reduziere und zur Folge habe, dass Wissen abgelehnt werde, um Gottes Position nicht zu gefährden. Taslaman stellt dem einen „God of Creation“ gegenüber, der die Welt und die Naturgesetze erschaffen hat und uns die Aufgabe gestellt hat, sie zu ergründen.

Sowohl Taslaman als auch Malik setzen sich mit der Vorstellung von Wundern auseinander. Taslaman definiert Wunder als „einen Vorfall, der jemandem seine Unfähigkeit bewusst macht“, was jedoch nicht bedeute, dass das Wunder gegen Naturgesetze verstößt. Er gesteht Gott zu, mit oder gegen die Naturgesetze zu wirken, neigt aber zur Vorstellung, dass Gott mit den Naturgesetzen, d.h. seinen eigenen Gesetzen handelt. Malik dagegen argumentiert mit den Ash’ariten, das, was wir als Naturgesetze wahrnehmen, sei in Wirklichkeit nur eine Angewohnheit Gottes, die jederzeit geändert werden könne. Jedes scheinbare Ursache-Wirkungs-Pronzip sei in Wirklichkeit nur Korrelation. Allein an logische Zusammenhänge sieht er auch Gott gebunden.

Kun fa yakūn – Erschafung aus dem Nichts?

Einer der koranischen Begriffe, die von den Autoren diskutiert werden, ist das kun fa yakūn: wenn Gott etwas erschaffen will, sagt Er nur: Sei! Und es ist (ähnlich dem biblischen: Es werde Licht! Und es ward Licht). Nasr versteht dies als Neuerschaffung in jedem Augenblick, was gegen jede materielle Kausalität spreche. Er stellt diese vertikale Kausalität der horizontalen Kausalität., die er in der Evolutionstheorie vertreten sieht, gegenüber. Taslaman dagegen argumentiert, der Ausdruck bedeute nur, dass Gott die letztendliche Kraft hinter allem ist, aber nicht, wie Gott erschaffe. Materielle Kausalketten sieht er als eine plausible Möglichkeit des Wirkens Gottes. Das Wort fa (dann) versteht er nicht zwangsläufig als sofort, sondern verweist auf andere koranverse, in denen zwischen Gottes Befehl und dem Resultat längere Zeit vergeht, wie bei Marias Schwangerschaft mit Jesus. Gerade in der Ablehnung der Prozesshaftigkeit sieht er eine unzulässige Einschränkung von Gottes Allmacht. Malik versteht den Begriff als Ausdruck von Gottes Allmacht, alles nach Seinem Willen zu gestalten, auch wenn es den Naturgesetzen zuwiderläuft.

Erschaffung Adams aus Schlamm

Entsprechend zum vorherigen Punkt argumentiert Taslaman, dass die Feststellung, dass Gott Adam aus Schlamm erschaffen habe, nicht bedeute, dass dies unmittelbar geschehen sei. Er weist darauf hin, dass die Menschen aus den gleichen Elementen wie Schlamm bestehen, dass ihre Nahrung direkt oder indirekt aus dem Boden hervorkommt: Pflanzen, die darin wachsen, oder Tiere, die diese Pflanzen fressen. Malik hebt den Vers hervor, nach dem Gott Adam mit seinen eigenen beiden Händen erschuf, gesteht aber, dass die genaue Bedeutung dieser Besonderheit unklar bleibt.

Hatte Adam Eltern?

Einer der Verse, auf die sich die Gegner der Evolutionstheorie beziehen, ist 3:59, in dem Adam und Jesus gleichgesetzt werden: „Siehe, vor Gott gleicht Jesus Adam. Aus Staub erschuf er ihn, dann sagte er zu ihm: «Sei!» Und dann war er.“ Neben der oben diskutierten Problematik des „fa“ stellt sich hier auch die Frage, worin sich Adam und Jesus gleichen. Malik geht mit der Mehrzahl der Gelehrten davon aus, dass die Vaterlosigkeit beider das gemeinsame Merkmal ist, und schließt daraus, dass aus der Perspektive al-Ġazālīs, die eine wörtliche Interpretation verlangt, solange nicht gegen die Logik verstoßen wird, Adam nicht Teil einer evolutionären Entwicklung sein könne; Taslaman dagegen argumentiert umgekehrt, dass Jesus offensichtlich eine Mutter hatte, was darauf hinweise, dass Adam ebenfalls eine Mutter hatte. Er weist auf 19:9 hin wo Zacharias von Gott gesagt wird, Er habe ihn erschaffen, „als du noch nichts warst“, und niemand gehe von einer Elternlosigkeit des Zacharias aus. Nasr verweist auf Ibn ʿArabīs Interpretation des koranischen Adam als „aus dem Nichts erschaffen“, bezieht sich aber nicht auf konkrete Koranverse.

min nafsin wāḥidatin – der gemeinsame Ursprung

Malik setzt die eine nafs (nafs hat verschiedene Bedeutungen wie Zelle, Wesen, Selbst), aus der Gott ihr Partnerwesen (zauǧ) erschuf, mit Adam und seiner Frau Eva gleich, mit verweis auf 49:13, wo in ähnlicher Weise von einem Männlichen und einem Weiblichen die Rede ist. Er führt zwei Interpretationsmöglichkeiten an: die Erschaffung Evas aus der Rippe Adams entsprechend der landläufigen biblischen Interpretation (das als Rippe übersetze hebräische Wort kann allerdings auch Seite bedeuten und dann eine Zweiteilung des ursprünglichen Menschen meinen), sowie „von gleicher Art“ im metaphysischen Sinn. So oder so schließt er aus den Versen auf eine wundersame Erschaffung Evas. Taslaman weist die Interpretation der Erschaffung Evas aus Adams Rippe als frauenfeindlich und zudem nicht vom Koran belegt zurück; diesbezügliche Überlieferungen hält er für nicht vertrauenswürdig. Stattdessen nimmt er die Interpretation von nafs als „von gleicher Art“ an und führt als Beleg weitere Koranverse wie 3:164 an, der einen Gesandten min ʾanfusihim (von ihnen) für die Gläubigen erwähnt, der offensichtlich nicht aus einem Körperteil der Gläubigen entstanden sei, sondern auf Gleichartigkeit und Zugehörigkeit verweise. Außerdem passe zauǧ vom Genus her nicht zu Eva; wäre sie gemeint, müsse im Vers zauǧata stehen (im Koran wird allerdings nie das feminine Wort zauǧata verwendet, auch wenn offensichtlich Frauen gemeint sind; das gemeinte Geschlecht bleibt hier also offen).

Wo liegt der Garten Eden?

Alle drei Autoren beschäftigen sich mit der als hubūt bezeichneten Ausweisung Adams und seiner Partnerin aus dem (Paradies-)Garten. Da die Evolution von einer Entwicklung des Lebens auf der Erde ausgeht, wird die Frage, wo die Menschen erschaffen wurden, als bedeutsam für deren Gültigkeit angesehen. Taslaman stellt zunächst fest, dass der Begriff ǧanna nur „Garten“ bedeute und im Koran sowohl für die jenseitige Bleibe als Belohnung für gute Taten verwendet werde als auch für irdische Gärten (18:32, 17:91, 68:17). Er verweist auf die traditionellen Gelehrten Māturīdī und Abū Hanīfa, die die Ansicht vertreten hätten, Adam sei in einem diesseitigen Garten erschaffen worden. Aus dem Vergleich von 2:30 und 38:26, die von der Berufung Adams bzw. Davids zum ḫalīfa (Nachfolger, Stellvertreter) berichten, schlussfolgert er, da David ḫalīfa im Diesseits war, müsse dies auch auf Adam zutreffen. Als weiteres Argument dient ihm der Verweis darauf, dass Adam aus Schlamm, einem Rohstoff der Erde, erschaffen wurde. Zudem weist er darauf hin, dass Satan Adam Unsterblichkeit versprach. Damit dies Adam verlockend erschien, müsse Adam aber den Tod gekannt haben, was ebenfalls auf eine irdische Existenz verweise, da es im Paradiesgarten keinen Tod und kein Sterben gebe und er außerdem der letzte Aufenthalt sei (15:48). Außerdem hätte Iblīs den Garten, der den guten Menschen vorbehalten bliebe, gar nicht betreten dürfen, und im Paradiesgarten seien alle Früchte erlaubt, während Adam die Frucht eines Baumes verboten wurde. Abschließend erwähnt Taslaman, dass der Begriff hubūt unterschiedlich gedeutet werde, er aber die Bedeutung eines Ortswechsels bevorzuge, analog zu 11:48 und 2:61, in welchen Noah aufgefordert wird, die Arche zu verlassen bzw. Moses sein Volk auffordert, nach Ägypten zurückzugehen.

Ebenso wie Taslaman erwähnt Malik die zwei Interpretationen der Erschaffung Adams im Jenseits oder im Diesseits. Daraus schließt er in Anlehnung an al-Ġazālīs Methodik, eine Interpretation in die eine oder andere Richtung könne nicht zur Bezichtigung des Unglaubens führen. Selbst die Annahme der Erschaffung Adams im Jenseits scheint ihm aber nicht im Widerspruch zur Evolution, da Adam nach seinem Herabfallen auf die Erde sich evolutionär habe fortpflanzen können.

Nasr erwähnt die Interpretationen, nach denen der Garten Adams im Diesseits lag, verwirft diese aber und bezichtigt sie der Blasphemie, da diese Ansicht die Muslime ihrer Hoffnung auf das Jenseits beraube (wobei er ignoriert, dass ja nicht das Paradies als Endziel verneint wird, sondern das als Ursprung). Er bezieht sich auf die 1400-jährige islamische Tradition, ohne abweichende Meinungen innerhalb dieser Tradition zu erwähnen, wie sie Taslaman und Malik benennen. Letztere sieht er als modernes Phänomen des scientism, also der modernen Naturwissenschaften als Maßstab der Wahrheit. Er hebt die Abwärtsbewegung des Menschen vom paradiesischen Zustand hin zur Erde hervor, die für ihn die Basis aller Ethik bildet, weil diese hin zum ursprünglichen höheren Zustand strebe, im Gegensatz zur Evolutionstheorie, die von einer stetigen Verbesserung ausgehe.

Menschenwürde

Als weiteres Argument der Gegner der Evolutionstheorie dient die Menschenwürde, die ihnen verletzt scheint, wenn der Mensch in einem Verwandtschaftsverhältnis zu Affen und sogar Moskitos steht. Malik zitiert 95:4 und 17:70, um auf die herausgehobene Stellung des Menschen gegenüber dem Rest der Schöpfung hinzuweisen, erwähnt aber auch, dass diese Stellung an den Gottesglauben gebunden sei; fehle dieser, so führe dies zur Erniedrigung des Menschen. Auch führt er weitere Verse an, die den Menschen als übereilt, geizig, gierig und schwach verurteilen. Entsprechend erklärt er die positiven Beschreibungen des Menschen als Potentiale, die aber in vielen Fällen nicht ausgeschöpft würden. Die Würde des Menschen sieht er nicht im Gegensatz zur Evolution, da der Mensch durch die Befolgung von Gottes Gesetzen einen hohen Status erreichen könne, der eben nicht an physische Merkmale gebunden sei. Auch Taslaman weist darauf hin, dass der Status der Menschen laut Koran nicht an Abstammung und physischen Merkmalen festgemacht werde. Die Erschaffung des Menschen aus Schlamm verringere seine Würde nicht. Als weitere Argumente führt er an, dass Iblīs für seinen Hochmut bezüglich seiner Abstammung von Gott verdammt werde, dass Pharao als Mensch und Abū Lahab als enger Verwandter des Propheten Muhammad weder der Würde der Menschen noch der des Propheten schaden könnten, moralisch verwerfliche Menschen dagegen als schlechter als das Vieh bezeichnet werden (25:44). Tiere würden dagegen im Koran durchaus positiv gezeichnet, wobei er allerdings die Verse übergeht, in denen Menschen zur Strafe in Affen verwandelt werden (2:65, 5:60, 7:166). Auch wenn man die Verwandlung metaphorisch versteht, bleibt doch eine negative Konnotation der Affen.

Nasr sieht in der Evolutionstheorie eine Reduzierung des Menschen auf molekulare Strukturen, so dass zwischen Mensch und Moskito kein qualitativer Unterschied mehr gesehen werde. Hier verweist er wieder auf die archetypische Form jeder Art, die bei Gott hinterlegt sei.

Schlussfolgerungen

Alle drei Texte enthalten interessante Aspekte bezüglich des Verhältnisses von Islam und Naturwissenschaften im allgemeinen und Islam und Evolution in besonderen.
Nasrs fundamentale Kritik an den modernen Wissenschaften mag zwar oft zu allgemein erscheinen und sich mehr für große Ideen als detaillierte Untersuchungen interessieren, dennoch ist es hilfreich, seine Kritik im Gedächtnis zu behalten, wenn Naturwissenschaft als höchste Instanz für die Probleme unserer Gesellschaft gesehen wird. Naturwissenschaft allein kann eben keine ethischen Maßstäbe setzen, wie Nasr richtig kritisiert; dafür braucht es die Religion(en) und/oder die Philosophie. Auch ist seine Warnung, den Gottesbezug in der modernen Gesellschaft nicht zu verlieren, hilfreich und wichtig. Auf der anderen Seite hilft die pragmatischere Herangehensweise von Malik und Taslaman, einen produktiven Umgang mit den Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaften zu finden.

Nasrs Vorwurf der Blasphemie und des Unglaubens an alle, die seiner konkreten Auslegung des Islam nicht folgen, wird der innerislamischen Vielfalt nicht gerecht. Darüber hinaus ließe sich an der Archetypenlehre vom theologischen Standpunkt her kritisieren, dass sie nur davon ausgeht, dass Gott die Arten kennt; wenn man dagegen davon ausgeht, dass Gott jedes einzelne Lebewesen kennt, spricht nichts dagegen, dass sich die jeweiligen einzelnen Lebewesen nach und nach von einer Art zu einer anderen Art entwickeln. Wenn man aber davon ausgeht, dass Gott alles in jedem Augenblick neu erschafft und jegliche scheinbare Kausalität in Wirklichkeit nur Korrelation ist, wie sowohl die Ashʿariten als auch Nasr argumentieren, verliert auch die Aufteilung in Arten ihren Sinn, weil die eine Ameise, um in Nasrs Bild zu bleiben, nichts mit der anderen Ameise zu tun hat und sogar dieselbe Ameise jetzt nichts mit der Ameise vor einer Minute.

Die von Nasr postulierte Abwärtsbewegung der menschlichen Geschichte steht im Widerspruch zu koranischen Aussagen, nach denen schon frühere Gesellschaften sündigten und die Gewohnheiten der Vorväter nicht den Maßstab des Handelns bilden sollten (den vielen Versen zu diesen beiden Themen steht nur ein Vers gegenüber (56:13), laut dem einige von den Früheren und wenige von den Späteren die höchsten Ränge des Paradieses erreichen werden).

Maliks und Taslamans Positionen sind aus der jeweiligen Perspektive schlüssig, wobei nicht alle Argumente gleich überzeugend sind. So könnte die ḫalīfa-Analogie von Adam und David auch so gedeutet werden, dass Gott den Fall Adams vorausgesehen und ihm die ḫalīfa-Rolle für seine Zeit danach zugedacht hatte; die Unkenntnis über das Material des Paradiesgartens schließt nicht aus, dass dort auch Schlamm vorhanden ist.

Maliks Stärke ist vor allem die systematische Bearbeitung seines Themas. Er legt alle Schritte dar, beschäftigt sich eingehender als die anderen Autoren mit dem tatsächlichen Inhalt der Evolutionstheorie, mit den verschiedenen Positionen innerhalb des muslimischen und christlichen Diskurses über die Evolutionstheorie und benennt klar die von ihm gemäß Ġazālī angelegten Maßstäbe. Es ist nachvollziehbar, wie er zu dem Ergebnis kommt, die Evolution der Pflanzen und Tiere sowie der meisten Menschen sei mit Ġazālīs Vorstellungen vereinbar, nicht aber die Erschaffung Adams. Dennoch bleibt sein Ergebnis m. M. unbefriedigend, da die unmittelbare Erschaffung eines Menschenpaares, nachdem die Menschheit sich bereits durch die Evolution entwickelt hat, sinnlos erscheint. Der aschʿaritische Einwand darauf wäre natürlich, dass Gottes Handeln nicht hinterfragt werden darf und Gott frei ist, das uns sinnvoll oder sinnlos erscheinende zu tun. Aus einer eher rationalistischen Perspektive überzeugt dies aber weniger.

Bei vielen eher traditionell orientierten Muslimen scheint Malik Türen zu öffnen, sich überhaupt wohlwollend mit der Evolutionstheorie auseinanderzusetzen. Geht man vom Koran als einzig verbindlicher Quelle des Islam aus, ist Taslamans Haltung des „theologischen Agnostizismus“, d.h. der Enthaltung von theologischen Urteilen über wissenschaftliche Fragen wie die der Evolution, aber überzeugender, solange die wissenschaftliche Theorie auf der beschreibenden Ebene bleibt.

Literatur

Malik, Shoaib Ahmed: Islam and Evolution: Al-Ghazālī and the Modern Evolutionary Paradigm. Abingdon: Routledge, 2021.
Nasr, Seyyed Hossein: Man and Nature. The Spiritual Crisis of Modern Man. London: Unwin Paperbacks, 1976 (1968).
Nasr, Seyyed Hossein: Knowledge and the Sacred. State University of New York Press, 1989.
Nasr, Seyyed Hossein: „On the Question of Biological Origins“. In: Islam & Science. 4.2 (Winter 2006): 181-197.
Taslaman, Caner: Darf ein Muslim die Evolutionstheorie akzeptieren? Übersetzt aus dem Türkischen von Memduh Turan.
https://www.canertaslaman.com/2020/05/05/darf-ein-muslim-die-evolutionstheorie-akzeptie/?lang=de