Ist Gott ein Kāfir (Ungläubiger)?

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Manchmal genügt ein einziges Wort, um jahrhundertealte Begriffe in ein neues Licht zu rücken. Und manchmal ist es genau diese Art des Fragens, die dazu einlädt, altbekannte Überzeugungen behutsam zu hinterfragen – nicht um sie zu zerstören, sondern um sie bewusster zu verstehen.

Die Frage, ob Gott ein Kāfir sein kann, mag auf den ersten Blick verstörend wirken. Doch sie ist nicht als Provokation gemeint, sondern als ein Gedankenanstoß. Worte haben im Arabischen oft eine Vielschichtigkeit, die im alltäglichen Sprachgebrauch verloren geht. Wer sich die Zeit nimmt, genauer hinzusehen, entdeckt, dass hinter einem Begriff wie kafara weit mehr steht als eine einfache Zuordnung zu „Glauben“ oder „Unglauben“.

Lasst uns also gemeinsam einen Schritt zurücktreten – nicht, um Abstand zu nehmen, sondern um einen weiteren Blickwinkel zu gewinnen. Denn gerade in Zeiten, in denen Begriffe schnell mit Urteilen belegt werden, lohnt es sich, der Sprache selbst wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

Eine wichtige Vorbemerkung:

Der Begriff „Kāfir“ wird in diesem Text ausschließlich auf seine sprachliche und funktionale Bedeutung hin betrachtet. Es geht nicht darum, Gott mit den theologischen Bedeutungen des Begriffs in Verbindung zu bringen, wie sie im traditionellen islamischen Diskurs verwendet werden. Vielmehr soll gezeigt werden, wie dieser Begriff im Arabischen eine viel breitere und kontextabhängige Funktion erfüllt, die nicht zwangsläufig eine religiöse Bewertung impliziert.

Es gibt wenige Begriffe im Arabischen, die so sehr missverstanden werden wie kafara – das Wort, aus dem Kāfir und Kuffār gebildet werden. Nach gängiger Lehrmeinung ist ein Kāfir ein Nicht-Muslim, jemand, der den Islam ablehnt oder den Propheten Muhammad nicht anerkennt. Der Begriff wird oft als bloßes Etikett verwendet, das über Zugehörigkeit und Identität entscheidet. Doch diese Sichtweise ist nicht nur stark verkürzt, sondern auch irreführend. Sie reduziert einen vielschichtigen Begriff auf eine enge, religiöse Definition und ignoriert seine tiefere Bedeutung.

Denn kafara ist im Kern kein rein religiöser Begriff. Er beschreibt eine Haltung – eine Ablehnung, eine Distanzierung, ein Sich-Abdecken gegenüber etwas anderem, das von außen eintritt. Diese Bedeutung ist weit umfassender als das, was oft in theologischen Debatten diskutiert wird. Sie berührt nicht nur Religion, sondern auch Politik, Gesellschaft und vor allem unser persönliches Leben. Sie beeinflusst, wie wir uns positionieren, welche Grenzen wir ziehen und welche Entscheidungen wir treffen.

An dieser Stelle sei auch erwähnt, dass kafara im Arabischen noch weitere, tiefere Bedeutungsebenen umfasst. Kufr bedeutet auch Undankbarkeit und steht damit im Kontrast zu schukr – der Dankbarkeit. Kufr kann auch das bewusste Verdecken oder Nicht-Würdigen eines Segens sein, das Verbergen von Erkenntnis oder das Missachten eines erhaltenen Geschenks. Diese spannende Dimension möchte ich an dieser Stelle jedoch nur kurz streifen, da der Schwerpunkt dieses Textes auf der Betrachtung der Ablehnung als Haltung liegt.

Kafara – eine Haltung, die jeder kennt

Rein sprachlich bedeutet kafara, eine Sache mit etwas anderem zu bedecken, wobei derjenige, der bedeckt, genau weiß, was er bedeckt und womit er bedeckt. Ein klassisches Beispiel ist der Bauer, der einen Apfelkern in die Erde legt und ihn mit Erde bedeckt, damit er wachsen kann. Diese neutrale Bedeutung zeigt sich auch im Koran:

„Wisst, dass das diesseitige Leben nur Spiel und Zerstreuung ist, Schmuck und gegenseitige Prahlerei und Wettstreit nach noch mehr Besitz und Kindern. Es ist wie das Gleichnis von Regen, dessen Pflanzenwuchs den Kuffār gefällt.“ (57:20)

Hier bezieht sich Kuffār nicht auf Ungläubige, sondern auf Bauern – Menschen, die den Samen mit Erde bedecken, damit daraus eine Pflanze wachsen kann.

Übertragen auf unser Leben bedeutet kafara also: eine Haltung einnehmen. Etwas ablehnen. Stellung gegen etwas beziehen. Sich davon abdecken – im übertragenen Sinn.

Wenn dir jemand sagt: „Elektroautos sind die Zukunft!“, und du darauf erwiderst: „Nein, das sehe ich nicht so!“, dann hast du eine Kufr-Haltung gegenüber dieser Aussage eingenommen. Du bist in diesem Moment ein Kāfir in Bezug auf diese Meinung. Natürlich ist nicht jede Ablehnung per se gut oder schlecht. Und es gibt auch Fälle, in denen es gesund und sogar notwendig ist, Stellung gegen etwas zu beziehen:

Stell dir vor, du bist seit Monaten überlastet, deine Erschöpfung ist kaum mehr zu ignorieren. Dein Arzt rät dir, eine Pause einzulegen, doch ein Kollege meint: „Reiß dich zusammen! Wenn du jetzt ausfällst, denkt dein Chef, du bist schwach.“ In diesem Moment hast du zwei Möglichkeiten: Du kannst die Worte deines Kollegen annehmen oder du kannst sie ablehnen – du kannst ein Kāfir gegenüber seinem Ratschlag sein. Und das wäre in diesem Fall die gesunde Entscheidung.

Wie sich Ablehnung ausdrückt

Ablehnung kann auf verschiedene Weisen zum Ausdruck kommen, ob als innere Ablehnung, verbal oder nonverbal oder durch Gewalt. Im Kontext dieses Textes interessiert uns vor allem die verbale Ablehnung – die bewusste Zurückweisung durch Sprache.

Ein markantes Beispiel dafür findet sich im Koran überall dort, wo das Wort „Keineswegs!“ (كَلَّا) verwendet wird. Es steht für eine entschiedene Zurückweisung, eine klare, unmissverständliche Ablehnung:

„Und sie haben sich anstatt Gottes Götter genommen, damit sie ihnen zu Macht gereichen. Keineswegs! Sie werden den von ihnen empfangenen Dienst verleugnen und werden ihnen Gegner sein.“ (19:81-82)

Dieses „Keineswegs!“ zeigt eine unmissverständliche Ablehnung der Götzen und ihrer Anhänger – eine klare Haltung, ausgedrückt durch das Wort.

Gott zeigt eine ablehnende Haltung – im sprachlichen Sinne des Begriffs

Und nun wird auch klar, wie man im rein sprachlichen Verständnis sagen kann, dass Gott eine Kufr-Haltung einnimmt, dass Gott ein Kāfir (Ungläubiger) ist.

Ihr habt im letzten Vers das Wort „Keineswegs!“ gelesen. Wer ist es, dem dieses Wort in den Mund gelegt wird? Gott selbst. In diesem Fall bezieht Gott Stellung gegen die Haltung der Menschen, die an Seiner Stelle Götter als Autoritäten nehmen, damit sie ihnen Macht verleihen. Ihnen wird entgegnet, dass diese Götter eines Tages ihr größter Feind werden.

Gott zeigt hier eine klare ablehnende Haltung gegenüber den Götzendienern – im funktionalen und sprachlichen Sinne des Begriffs „Kāfir“. Damit ist selbstverständlich nicht gemeint, dass Gott im theologischen Sinne „ungläubig“ oder „abtrünnig“ wäre – solche menschlichen Kategorien sind auf Gott nicht anwendbar. Aber die Funktion des Begriffs Kāfir als Beschreibung einer aktiven Ablehnung lässt sich auch hier sprachlich erkennen.

Abschließende Gedanken – Eine Einladung zum Weiterdenken

In diesem Artikel habe ich den Fokus bewusst auf den Aspekt der Ablehnung gelegt, weil er im Alltag, in zwischenmenschlichen Beziehungen und im Diskurs oft eine prägende Rolle spielt. Doch die Bedeutungswelt von kafara ist damit keineswegs erschöpft. Sie umfasst auch die Art und Weise, wie wir mit den Geschenken des Lebens umgehen – ob wir sie anerkennen oder überdecken, ob wir uns dankbar zeigen oder achtlos daran vorbeigehen.

Vielleicht liegt genau darin die tiefere Einladung dieses Textes: Die Welt, den Glauben, die Menschen und ihre Überzeugungen nicht vorschnell zu bewerten, sondern sich immer wieder zu fragen, welche Haltungen wir einnehmen und worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten.

Denn jeder von uns ist, bewusst oder unbewusst, täglich mit der Frage konfrontiert:
Worauf antworte ich mit Ablehnung – und wofür entscheide ich mich, offen und dankbar zu sein?

Es geht nicht darum, endgültige Antworten zu finden, sondern offen zu bleiben für den feinen Unterschied zwischen ablehnender Haltung und achtsamer Reflexion. Vielleicht ist genau das der Beginn eines tiefen, wahrhaftigen Verständnisses.