Mit Ausnahme von Sure 9 beginnt jede Sure im Koran mit dieser Einleitung. Doch warum ist das so? Warum heißt es „Im Namen Gottes, des Allerbarmers, des Barmherzigen“? Warum nicht bloß „Im Namen Gottes“? Gott hat bekanntlich viele Namen im Koran. Ihm gehören die schönsten Namen (7:180, 17:110). Warum beginnen die Suren nicht mit „Im Namen Gottes, des Allhörenden, des Allwissenden“? Oder mit „Im Namen Gottes, des Allmächtigen, des Einzigen“? Welches Geheimnis steckt hinter genau dieser Einleitung?
Um dem auf die Schliche zu kommen, ist es notwendig, sich mit dessen arabischen Original zu befassen. Da heißt es: Bismi Llāhi ir-Raḥmāni ir-Raḥīm. Es kommen die drei Namen Allāh, ar-Raḥmān, ar-Raḥīm vor. Um diese besser einordnen zu können, beschäftigen wir uns zudem mit dem Glaubensbekenntnis der Gottergebenheit in Bezug auf die Einheit Gottes (arab.: tauḥīd), welches nicht nur durch den allseits bekannten Satz „Es gibt keinen Gott außer Gott!“ (arab.: lā ilāha illa Llāh) zum Ausdruck kommt. Vielmehr geht es um zwei Hauptaspekte dieser Einheit: die Einheit in Gottes Herrschaft (arab.: tauḥīd ar-rubūbiyyah) und die Einheit in Seiner Göttlichkeit (arab.: tauḥīd al-ulūhiyyah). Im Arabischen stecken die Begriffe rabb und ilāh dahinter. Beide beziehen sich auf Gott. Was sie aber voneinander unterscheidet, ist folgendes:
Rabb steht für den Herrn, den Erzieher und den Erhalter – wie Muhammad Asad ihn z.B. übersetzen würde. Vergleichbar ist die Beziehung zwischen Rabb und den Menschen mit der Beziehung zwischen Eltern und Kind. Geprägt von bedingungsloser Liebe und von einer tiefen Bindung zu uns erklärt uns Gott als Schöpfer die Welt, wie sie erschaffen wurde, welche Gesetzmäßigkeiten ihr unterliegen und was mit ihr nach unser aller Ableben geschieht. Ebenso gibt es viele Erklärungen, was die Schöpfung des Menschen, seine Beschaffenheit sowie seine natürliche Veranlagung anbelangt. Er erklärt uns die Notwendigkeit von Moral und Ethik und prägt Gleichnisse und Geschichten, damit wir unsere Lehren daraus ziehen. Es gibt zahlreiche Verse in verschiedenen Suren, die Seine Zeichen für uns ausführlich darlegen, und viele Geschichten über Noah, Abraham, Moses, Jesus u.a. im Koran. Die göttliche Erziehung zielt darauf ab, aus dem mit Vernunft versehenen Menschen ein mündiges und selbstbestimmtes Wesen zu machen, welches Herr über sein eigenes Schicksal wird und eigenverantwortlich seinen Lebensweg bestreiten kann.
Dass es im Rahmen dieser Erziehung manchmal ganz klare Regeln geben muss, liegt in der Natur der Sache. Denn der Mensch muss seine geistige Reife erst im Laufe von vielen Jahren erwerben, damit er eben überhaupt vernünftig und selbstbestimmt handeln kann. Nicht umsonst lautet die erste Aufforderung in Seiner allerersten Offenbarung gegenüber Muḥammad: „Lerne im Namen deines Herrn!“ (96:1). Und genau hier setzt der Begriff des Ilāh an. Er ist der Bestimmer, derjenige, der Ge- und Verbote formuliert und der Anweisungen und Empfehlungen erlässt. Überall dort, wo es heißt, dieses oder jenes sei ḥarām (z.B. 6:151-153, 7:33), wenn wir z.B. Spionage und üble Nachrede zu unterlassen haben (49:12) oder wenn uns empfohlen wird, uns dem Gebet nicht im Rauschzustand zu nähern (4:43), ist der Ilāh am Werk. All diese Bestimmungen – gleich welcher Art – haben den Zweck, die Lebensordnung aufrecht zu erhalten und uns als gleichwertige Menschen untereinander nicht zu spalten. Dazu heißt es im Koran: „Er (Gott) hat euch von der Lebensordnung festgelegt, was Er Noah anbefahl und was Wir dir eingegeben haben und was Wir Abraham, Moses und Jesus anbefahlen: Haltet die (Bestimmungen der) Lebensordnung aufrecht und spaltet euch nicht darin. (…)“ (42:13).
Wenn der Versuch unternommen werden könnte, den Koran ganz grob zu kategorisieren, dann könnte er in folgende zwei Teile unterteilt werden: in einen deskriptiven und einen normativen. Unter letzterem könnten alle Ge- und Verbote, Anweisungen, Empfehlungen Gottes subsumiert werden, die in welcher Form auch immer im Koran auftauchen (allen voran die Aufforderungen zum Lernen in 96:1), während der deskriptive Teil alle Gleichnisse, Erzählungen und Darlegungen in Bezug auf Seine Zeichen umfasst, wie sie eben in Bezug auf Rabb angeführt wurden. Man kann sagen, der Koran beinhaltet (mindestens) zwei voneinander zu trennende Bücher: das Buch der Erzählungen – wenn man dies so formulieren möchte – und das Buch der Bestimmungen. Und wenn wir, wie oben, von einem Rabb und einem Ilāh sprechen, dann ist Rabb der Verfasser des Buchs der Erzählungen und Ilāh der Verfasser des Buchs der Bestimmungen. Und es geht sogar noch weiter: Ar-Raḥmān ist der Name Gottes in Bezug auf Seine Eigenschaft als Rabb (tauḥīd ar-rubūbiyyah) und Allāh ist der Name Gottes in Bezug auf Seine Eigenschaft als Ilāh (tauḥīd al-ulūhiyyah). D.h., ar-Raḥmān ist der Verfasser des Buchs der Erzählungen und Allāh der Verfasser des Buchs der Bestimmungen. Somit hätten wir die Einleitung bismi Llāhi ir-Raḥmān behandelt. Und was ist mit ar-Raḥīm?
Kein Buch der Welt wird ohne eine ihm zugrundeliegende, allgemeine Intention geschrieben. Das Gleiche muss auch für Gottes Buch gelten, oder besser gesagt: für Gottes beide Bücher. Und wenn es dementsprechend eine göttliche Intention geben muss, muss sie zwangsläufig gut sein? Wir sind auf die Namen Gottes Allāh und ar-Raḥmān eingegangen. Beides sind Namen, die Gegensätze in sich vereinen. Im Koran tauchen oft Begriffspaare auf, die Gott in Seinem Wesen beschreiben. Er ist gleichzeitig der Erste und der Letzte, der Offenkundige und der Verborgene, der Barmherzige und der Strafende. Dies gilt auch für den Namen ar-Raḥmān, auch wenn dieser Begriff im Deutschen als „Allerbarmer“ übersetzt wird und aufgrund des darin steckenden Begriffs des „Erbarmens“ positiv belegt ist. Im Koran ist ar-Raḥmān neutral, ein Oberbegriff, gleichrangig mit Allāh:
17:110 Sprich: Ruft Allāh oder ruft ar-Raḥmān an. Welchen ihr auch ruft, Sein sind die schönsten Namen. (…)
Mit anderen Worten: Die schönsten Namen Gottes können nicht nur unter Allāh, sondern auch unter ar-Raḥmān subsumiert werden. Daher wird von nun an im Zuge der Übersetzung des Korans in Deutschen ar-Raḥmān im arabischen Original beibehalten. Und wenn Allāh gleichzeitig barmherzig und strafend sein kann – dafür gibt es unzählige Beispiele im Koran –, so gilt dies auch für ar-Raḥmān:
7:156 (…) Er sagte: Mit meiner Strafe treffe ich, wen Ich will, aber meine Barmherzigkeit umfasst alles. (…)
19:45 O mein lieber Vater, ich fürchte, dass dir Strafe von ar-Raḥmān widerfährt, sodass du zu einem Gefolgsmann des Satans wirst.
19:61 … in den Gärten Edens, die ar-Raḥmān Seinen Dienern im Verborgenen versprochen hat. Sein Versprechen wird erfüllt.
Wenn es dann zu Beginn einer Sure bismi Llāhi ir-Raḥmān heißt und die Einleitung bis hierhin als neutral angesehen werden muss, welcher Teil von Allāh und ar-Raḥmān verfasst die beiden Bücher des Koran? Der Barmherzige oder der Strafende? Der Vergebende oder der Strenge? Jemand, der es mit dem Menschen gut meint oder nicht? Welche Beziehung stellt Gott mit den Menschen im Koran her? Erzählungen können auf viele verschiedene Wege formuliert werden. Sie können ermutigend oder entmutigend sein. Sie können dem Menschen gegenüber wohlwollend oder missgünstig sein. Sie können aufbauend oder zerstörerisch wirken. Dasselbe gilt auch für das Buch der Bestimmungen.
Anders als ar-Raḥmān ist ar-Raḥīm kein Oberbegriff. Er ist Teil eines Gegensatzpaares, dessen anderer Pol der Strafende oder der Strenge im Strafen ist. Im Arabischen heißt es dann schadīd-ul ´aḏāb. Und wenn ar-Raḥīm von Raḥmah kommt und Barmherzigkeit bedeutet, dann ist ar-Raḥīm der Barmherzige. Somit kann ar-Raḥmān gleichzeitig der Barmherzige (ar-Raḥīm) und der Strenge im Strafen (schadīd-ul ´aḏāb) sein. Doch worin besteht genau die Barmherzigkeit? Wie lässt sie sich anhand der Verse im Koran definieren?
Barmherzigkeit besteht zwischen zwei Parteien, von denen Gott einer sein kann, es aber nicht zwingend muss. Sie besteht für den Barmherzigkeit Gewährenden darin, aus Mitgefühl sein Herz zu öffnen, die Not des anderen Menschen wahrzunehmen und entsprechend zu handeln, indem er ihn mit etwas bevorzugt oder begünstigt. Es kann beispielsweise die Not eines Kindes sein, welches auf einem Fahrrad, das er noch nicht beherrscht, nicht zurechtkommt. Barmherzigkeit ist in diesem Falle die helfende Hand, die es benötigt, um dem Kind das Fahrradfahren beizubringen. Barmherzigkeit kann in einem simpleren Beispiel auch ein Stein sein, der aus der Fahrbahn entfernt wird, damit andere Verkehrsteilnehmer keinen möglichen Schaden dadurch erleiden. Barmherzigkeit wirkt sich ausschließlich positiv für den/die Empfangenden aus. Es ist etwas, das weiterhilft und Freude bereitet. Denn das tut es für das Kind in unserem ersten Beispiel mit Sicherheit. Die Konsequenzen für den Barmherzigkeit Empfangenden sind im Allgemeinen mildernde Umstände, eine signifikante Verbesserung der Ausgangssituation und ein Mehr an Ressourcen und/oder Möglichkeiten.
Die Not des Empfangenden kann selbst- oder fremdverschuldet sein. Was jedoch charakteristisch für die Barmherzigkeit ist, ist, dass der Empfangende es nicht schafft, mit eigenen Mitteln aus seiner Situation herauszukommen – entweder weil er körperlich oder geistig nicht mehr in der Lage dazu ist oder weil er die nötige Reife oder Kompetenz noch nicht besitzt. Somit muss es in der konkreten Situation ein Gefälle zwischen dem Barmherzigkeit Gewährenden und dem Empfangenden geben. Wer selbst kein Fahrrad fahren kann, kann es auch keinem anderen beibringen.
Eindrücklich sind in diesem Zuge die Gleichnisse und Erzählungen, die es im Koran hierzu gibt. Dazu gehört die Sure 21 (Verse 51-92), in denen vom Leben vieler Propheten berichtet wird: von Noah und Lot, die ihrem Volk zu entkommen versuchten, es aber nicht schafften; von Ayyūb, dem großes Unheil widerfuhr und keinen Ausweg fand; von Dhu-n Nūn (Jonas), der vor seinem Schicksal floh, weil ihm seine Mitmenschen nicht glaubten; oder von Zakariyyah, der unbedingt Nachwuchs wollte, jedoch nie ein Kind bekam. Jeder von ihnen befand sich in seiner eigenen Notlage, so erbarmte sich Gott ihrer. Noah und Lot gelangen die Flucht und ihre Völker sind untergegangen. Ayyūb bekam seine Familie wieder und „nochmal die gleiche Zahl dazu“. Dhu-n Nūn akzeptierte sein Schicksal und nahm seinen Auftrag wieder auf. So glaubten sie ihm am Ende doch. Und Zakariyyah bekam letztlich doch einen Sohn, nachdem seine Frau wieder gebärfähig wurde. Ihnen allen gewährte Gott Barmherzigkeit. Er half ihnen aus Mitgefühl in ihrer Notsituation und verbesserte dadurch die Lage aller.
Und so ist auch der Koran an sich – die Botschaft, die Muḥammad seinerzeit erhielt – eine Barmherzigkeit für die Weltenbewohner (21:107). Gott tut dies aus Mitgefühl für uns angesichts der Tatsache, dass sich heute 8 Milliarden Menschen einen einzigen Planeten mit endlichen Ressourcen teilen. Jeder Mensch hat seinen eigenen Willen, seine eigenen Bedürfnisse und seine eigenen Wünsche und Träume (21:92). Und so kommt es nicht von ungefähr, dass es in diesem Wetteifern Gewinner und Verlierer gibt. Das entspricht auch dem Einwand, den die Engel vor der Schöpfung des Menschen erbrachten, als sie befürchteten, dass durch ihn viel Unheil angerichtet und viel Blut vergossen wird (2:30). Ein Blick ins Weltgeschehen reicht aus, um ihnen Recht zu geben. Doch es besteht Hoffnung in Form des Korans, der jedem zur Verfügung steht, der ihn annimmt – eine Barmherzigkeit Gottes, die uns dabei hilft, das zu erkennen, was wir noch nicht erkannt haben, damit wir uns gegenseitig aus einer misslichen Lage heraushelfen können. Der Koran hat das Potential, in jeglicher Lebenssituation zu helfen. Er liefert Hilfestellungen im individuellen, im kulturell-religiösen und im gesellschaftlichen Bereich. Barmherzigkeit ist die Intention, die den beiden Büchern Gottes zugrunde liegen – dem Buch der Erzählungen von ar-Raḥmān und dem Buch der Bestimmungen von Allāh. Sowohl die Erzählungen als auch die Bestimmungen sind dazu gedacht, Gedankenanreize zu schaffen, und helfen uns dabei, zu erkennen, worauf es im Leben wirklich ankommt und was richtiges Handeln ausmacht.
Barmherzigkeit oder Raḥmah ist ein gutes Beispiel hierfür. Im Buch der Erzählungen fanden wir jene Praxisbeispiele der Propheten, wie sie oben in Sure 21 angeführt wurden. Sure 19 bedient sich einer abgewandelten Perspektive auf dieses Thema und stellt insbesondere das Gegensatzpaar Barmherzigkeit und Strafe ausführlich und detailliert erklärt gegenüber. Insgesamt kommt die Wortwurzel ra`-ḥa`-mīm, aus der die Begriffe Raḥmah und ar-Raḥīm abgeleitet werden, im Koran 339-mal vor. Dementsprechend viel kann über die Barmherzigkeit gelernt werden.
Im Buch der Bestimmungen erfahren wir mehrere Anweisungen, die des Erfahrens von Barmherzigkeit dienstlich sind. Beispiele sind:
- Lerne in Namen deines Herrn! (96:1) -> lebenslanges Lernen erforderlich!
- (…) Und Meine Barmherzigkeit umfasst alles. Ich werde sie denjenigen gewähren, die achtsam sind, zur Läuterung beitragen und die an unsere Zeichen glauben! (7:156) -> Achtsamkeit, Läuterung und aufrichtiger Glaube erforderlich!
- So sei standhaft in Bezug auf das Urteil deines Herrn und sei nicht wie der Gefährte des großen Fisches [Jonas, s.o.], als er voller Gram rief! (68:48) -> Standhaftigkeit erforderlich!
- Die Gläubigen sind einander Geschwister. So stiftet Verbesserung zwischen euren Geschwistern und seid euch Gottes bewusst, auf dass ihr Barmherzigkeit erlangen möget! (49:10) -> Zwischenmenschliches Verantwortungsbewusstsein erforderlich!
Das ist auch der Grund, warum es am Anfang fast jeder Sure nicht bloß „Im Namen Gottes“ heißt, „Im Namen Gottes, des Allhörenden, des Allwissenden“ oder „Im Namen Gottes, des Allmächtigen, des Einzigen“. Es heißt auch nicht „Im Namen Allāhs, ar-Raḥmāns, des Ersten (arab.: al-`Awwal)“, „Im Namen Allāhs, ar-Raḥmāns, des Letzten (arab.: al-`Āchir)“ oder „Im Namen Allāhs, ar-Raḥmāns, des Strengen im Strafen (arab.: schadīd-ul ´aḏāb). Gott hat sich selbst Barmherzigkeit verordnet (6:12, 6:54) und jedes Mal, wenn wir uns hinsetzen, den Koran öffnen und die Einleitung lesen, ist diese eine Erinnerung für uns, alles Alltägliche hinter uns zu lassen, kurz innezuhalten und uns vollständig Seiner Barmherzigkeit für alle Menschen, dem Koran, hinzugeben und von ihr zu lernen, auf dass sie uns das Tor zu vielen anderen Barmherzigkeiten Gottes öffnet, die wir erhalten können. Deswegen heißt es am Anfang (fast) jeder Sure:
„Im Namen Allāhs, ar-Raḥmāns, des Barmherzigen“