arabische Grammatik

Cover Schlüssel zum Verständnis des Koran

Schlüssel zum Verständnis des Koran: Offene Fragen

Jede Methodik hat ihre Stärken und Schwächen. Auch wenn ich von der Stärke der Methodik überzeugt bin und sie meines Erachtens künftig neue Wege eröffnen wird für klassische Richtungen wie die Rechtsfindung (uṣūlu-l-fiqh), so werde ich mit der Methodik nicht alle Fragen klären können. Wir haben einerseits das nützliche Wissen älterer Gelehrten wie zum Beispiel Taqī ad-Dīn Aḥmad b. Taymīya aufzugreifen und es um das Verständnis der Lesung zu erweitern. Nichtsdestotrotz müssen wir eine klare Trennung vornehmen zwischen den in der Lesung behandelten Themen und den Themen, die außerhalb der Schrift diskutiert werden. Ansonsten sehen wir uns mit der menschenverachtenden und anti-gottergebenen Problematik konfrontiert, die wir beispielsweise beim als authentisch eingestuften Ausspruch „man baddala dīnahu faqtulūhu“ (tötet den, der seine Religiön ändert) aus Buchārī erhalten.

Natürlich wird meine Methodik nicht alles erklären können und deshalb möchte ich zwei Beispiele aus den vielen vorhandenen anführen, wonach ich immer noch zu keiner Lösung gelangt bin und keine zufriedenstellende Antwort in der Interpretation fand. Ich vertraue aber darauf, dass Gott mir irgendwann in der Zukunft die Antworten gibt, so Gott will (20:114).

So Gott will werden vielleicht einige Leser dadurch angestoßen, diese Fragen weiter zu studieren und finden unter Umständen gerade dadurch die Antworten?

 

Unterschied von ʿām und sanah

In der Lesung gibt es zwei unterschiedliche Wörter, die für das Wort „Jahr“ verwendet werden:

  • ʿām (Wurzel ʿayn-wāw-mīm: 2:259, 9:28, 9:37, 9:126, 12:49, 29:14, 31:14),
  • sanah, pl. sinīn (Wurzel sīn-nūn-wāw: 2:96, 2:259, 5:26, 7:130, 10:5, 12:42, 12:47, 17:12, 18:11, 18:25, 20:40, 22:47, 23:112, 24:43, 26:18, 26:205, 29:14, 30:4, 32:5, 46:15, 70:4).

Im Moment können wir keine wirkliche Erklärung liefern, wieso es in der Schrift Gottes diese beiden unterschiedlichen Wörter gibt, die beide dasselbe meinen sollten.

Es gibt jedoch zwei Ansätze, die wir während der Erstellung der Hanif-Übersetzung erarbeitet haben.

  1. Möglicherweise wird mit diesen beiden Worten der Unterschied zwischen einem lunaren und solaren Jahr verdeutlicht.
  2. Wird womöglich das eine Wort (ʿām) eher für ein gutes, das andere eher für ein schlechtes Jahr (sanah) gebraucht?

Zum ersten Ansatz: Laut der Lesung gelten beide Kalenderformen (10:5, 55:5). So wäre ʿām für ein Mondjahr gedacht und sanah für ein Sonnenjahr. Dies begründet sich auf den Vers 17:12, wonach das Tageslicht mit der Anzahl an Sanah-Jahren zusammen erwähnt wird, die Sonne also mit sanah in Verbindung gebracht wird. Interessant und gleichzeitig problematisch für diese Betrachtung ist in dieser Hinsicht Vers 29:14, in dem beide Wörter vorkommen und nach welchem Noah 1000 Sonnenjahre minus 50 Mondjahre unter den Menschen verweilt haben soll. In Anbetracht dieser Zahl lässt sich also diese Variante hinterfragen, doch könnte mit dieser Zahl nicht die Lebensdauer gemeint sein, sondern unter Umständen die zeitliche Wirkungsreichweite der Botschaft von Noah?

Hier gibt es auch noch zusätzlich die Anmerkung gewisser Kommentatoren, dass in älteren Kulturen das Wort „Jahr“ für einen Monat nach unserem Verständnis gebraucht wurde. Insofern wären 1000 „Jahre“ also gerundet 83 Jahre nach unserem Verständnis.

Doch in 10:5 wird das Wort sinīn für beide Jahresberechnungen genommen, was diesen Ansatz wiederum in Frage stellt. Für den Moment übersetzen wir in unserer Hanif-Übersetzung die Begriffe nach diesem Ansatz.

Zum zweiten Ansatz: Die Grundlage für diese Betrachtung ist vor allem das zwölfte Kapitel der Lesung. Die Verse 12:47–49 gebrauchen die Wörter spezifisch auf eine bestimmte Bedeutung ausgerichtet:

 

12:47–49 Er sagte: Ihr baut fortwährend sieben Jahre (sinīn) an. Was ihr erntetet, lasst in seinen Ähren, außer ein wenig von dem, was ihr verzehrt. Dann kommen danach sieben harte, die das verzehren, was ihr dafür vorbereitetet, außer ein wenig von dem, was ihr aufbewahrt. Dann folgt darauf ein Lunarjahr (ʿām), in dem den Menschen geholfen wird und in dem sie beregnet werden und sie pressen

 

Auch der Vers 7:130 lässt diesen Ansatz plausibel erscheinen:

 

7:130 Und wir ergriffen bereits die Leute Pharaos mit Jahren (sinīn) mit Mangel an Früchten, auf dass sie sich entsinnen.

 

Mit diesem Ansatz ließe sich auch 29:14 erklären, wonach die Zeitspanne als Sprichwort aufgefasst werden kann: Noah verbrachte nur eine kurze Zeit der Erleichterung und der Güte, wobei die Zeit der Erschwernis viel länger dauerte. Hierbei wird auch davon ausgegangen, dass die Zahl 1000 auf Arabisch auch stellvertretend für „viel“ gebraucht werden kann. Doch dann lässt sich wiederum hinterfragen, wie man in einem durchschnittlich 80–100 (Sonnen)jahre andauernden Menschenleben die 50 jährige, gute Zeitspanne als kurz bezeichnen kann? Oder man nimmt an, dass die 50 Jahre im Gegensatz zum „viel“ dann ebenso einfach die „kleine Zahl neben 1000“ meint. Damit hätten wir keine Informationen mehr in Zahlen, sondern nur noch in der Bedeutung: Ein Großteil seines Lebens war bis auf einen kleinen Teil mühselig.

Beide Ansätze haben ihre Schwächen und müssen deshalb genauer untersucht werden. Die in diesem Buch vorgestellte Methodik hat mich bislang noch zu keinem klaren Ergebnis geführt.

 

Gottes Schwören in der Lesung

Es gibt zahlreiche Verse in der Lesung, nach denen Gott schwört. Was bedeutet das Schwören bei Gott? Wieso sollte der Schöpfer schwören?

 

89:1–5 Beim Morgenanbruch, bei den zehn Nächten, beim Ergänzenden und Anschließenden und bei der Nacht, wenn sie zurückgeht! Ist darin ein Schwur für einen sich Besinnenden?

 

Gleichgültig wie der arabische Begriff qasam für Schwur übersetzt wird, ob Schwur, Eid oder Gelöbnis, so ergibt sich stets dieselbe Problematik. Betrachten wir die 33 Stellen in der Lesung aus den 31 Versen136, so kommt die Wurzel wie folgt vor:

  • Zweimal als erster Verbstamm qasama (قسم) in 43:32: verteilen.
  • Einmal als dritter Verbstamm qāsama (قاسم) in 7:21: schwören, mitteilen (Ansicht verteilen), Anteil haben.
  • Zwanzigmal als vierter Verbstamm aqsama (أقسم): schwören, Mitteilung veranlassen, Anteil zu haben veranlassen.
  • Einmal als sechster Verbstamm taqāsama (تقاسم) in 27:49: untereinander verteilen.
  • Zweimal als das Nomen qasam (قسم) in 56:76 und 89:5: Schwur, Mitteilung.
  • Dreimal als das Nomen qismah (قسمة) in 4:8, 53:22 und 54:28: Anteil, Teilung, Teil.
  • Einmal als das passive Partizip des ersten Verbstammes maqsūm (مقسوم) in 15:44: geteilt.
  • Einmal als das plurale aktive Partizip des zweiten Verbstammes muqassimāt (مُقَسِّمَٰت) in 51:4: verteilenden.
  • Einmal als das plurale aktive Partizip des achten Verbstammes muqtasimīn (مُقْتَسِمِين) in 15:90: Die Geteilten.

Allgemein ist die sprachliche Bedeutung von der Wurzel q-s-m eher teilen, aufteilen, unterteilen, Anteil haben als schwören. So gibt es auch Wörter wie qism (pl. aqsām), die auch auf Türkisch noch verwendet werden (kısım) und Abteilung, Ausschnitt, Bestandteil, Sektion, Stück oder Teil bedeuten. Von einem Schwur ist weit und breit nirgends die Rede. Die Bedeutung „schwören“ hat sich sehr wahrscheinlich dadurch gebildet, dass man sich selbst an das Gesagte binden wollte, also seinen Anteil an der Sache haben wird. Deshalb heißt auf Arabisch qasīm auch nicht Schwörender, sondern vielmehr Partner, der seinen Anteil an der Sache hat, oder auch Teilnehmer. Die Wurzel lässt sich also mit dem Wortstamm „teil“ umschreiben (aufteilen, zuteilen, verteilen, …).

Nebst dieses klaren Bedeutungsschwerpunktes der Wurzel sahen wir uns im Hanif-Team im Zuge unserer Übersetzung noch mit folgendem Problem konfrontiert: Es gibt Verse, die werden grammatikalisch speziell behandelt, obwohl die Grammatik einfach und klar und keine Sonderbehandlung der Verse nötig ist. Gemeint ist die Verneinung des Verbs in folgendem Vers:

 

70:40 So schwöre ich nicht beim Herrn der Aufgänge und der Untergänge, da wir gewiss dazu fähig sind

 

Betrachten Sie nur einmal die Übersetzungen der anderen Übersetzer. Dieser Vers wird fast einstimmig mit einem „Nein“ eingeleitet in den übrigen Übersetzungen. Der Schwur wird nicht mehr verneint:

 

70:40 Nein, Ich schwöre beim Herrn der östlichen und der westlichen Gegenden, Wir haben dazu die Macht,137

 

In der Lesung gibt es acht Verse in dieser Form (56:75, 69:38, 70:40, 75:1, 75:2, 81:15, 84:16, 90:1). Dabei ist die Grammatik doch sehr einfach: lā uqsim. Ein Verb in der Gegenwart wird verneint, indem das Verneinungspartikel lā vorangestellt wird. Die Bedeutung ist also klar: Ich schwöre nicht / ich teile nicht mit.

Natürlich gibt es die Erklärungen alter Kommentatoren wie Ibn Kaṯīr, von dem ich gelinde gesagt nicht viel halte, oder Zamachscharī (gest. 1143) oder auch die Erklärung in Lisān al-ʿarab, die diese Verse erläutern, dass damit ganz sicher ein „ich schwöre“ gemeint sei. In Kapitel lām in lisān al-ʿarab steht das Beispiel aus Vers 75:1 und wird so kommentiert, dass es unter den Menschen keine Uneinigkeit gegeben habe in der Bedeutung dieses Verses als „ich schwöre beim Tag der Auferstehung“.138 Zamachscharī hingegen sieht in dem Ausdruck „lā“ auch eine erhöhte Verstärkung der Bedeutung (مزيدة مؤكدة), womit die Bedeutung in etwa als „Nein, ganz bestimmt schwöre ich!“139 wiedergegeben werden könne. Er gibt hierfür Vers 57:29 als Beispiel an, ohne diesen Vers wiederum weiter zu erklären. Des Weiteren wird das Verneinungspartikel auch als nichtssagender Zusatz verstanden. Dieses Phänomen ist bekannt als redundante Negation oder als pleonastische Verwendung (laghw). Das heißt, dass man diese Verneinungszusätze genauso gut auslassen könnte, da sie keine zusätzliche Information im Satz tragen. Doch wieso sollte Gott aus rhetorischen Gründen eine nichtssagende Verneinung einsetzen? Wieso gerade bei so einem gewichtigen Verb wie schwören?

Darüber hinaus gibt es die Behauptung, dass am Anfang eines Satzes diese Verneinung als ein Ausdruck der Antwort auf etwas Vorhergehendes verstanden werden sollte.140 Dabei spiele es auch keine Rolle, wenn das Verneinungspartikel am Anfang eines Kapitels steht, denn die gesamte Lesung sei auch als Einheit aufzufassen.

Diese Erklärungen sind sehr mager begründet, denn einerseits ist ein Argument wie die Behauptung „keine Uneinigkeit unter den Menschen“ geradezu sinnlos und historisch gesehen falsch, andererseits begründet Zamachscharī seine Meinung fadenscheinig und gibt nur die Mehrheitsmeinung wieder ohne tiefgreifende Analysen aufzuzeigen. Dabei gibt es für den Ausruf der Verneinung „Nein!“ bereits andere Wörter in der Lesung wie kallā (كَلّا – Beispielverse: 70:39, 78 :4 oder 83:15), bal im Sinne von „jedoch“ (بل – Beispielverse: 85:21, 87:16 oder 84:22) oder balá ebenso im Sinne von „doch, aber“ (بلى – Beispielverse: 57:14, 75:4 oder 84:15). Wieso sollte also Gott, dessen Wortschatz unermesslich reich ist, verschiedene Wörter für dieselben sprachlichen Ziele verwenden und die Vielfalt einschränken und Verwirrung stiften?

Auch die Behauptung, dass das Verneinungspartikel am Anfang eines Kapitels oder Satzes als Ausdruck der Antwort verstanden werden sollte, scheitert am Beispiel 75:1, wonach die vorhergehenden Verse 74:53–56 keinen direkten thematischen Bezug zu 75:1 aufweisen.

Es gibt demnach keine stichhaltige Begründung für die Übersetzung „Nein, ich schwöre“ – ganz zu schweigen vom Schwören überhaupt, auch wenn es laut 89:5 die Menschen zum Nachdenken anregen sollte, auf dass sie die besonderen Umstände und Zeichen bedenken mögen. Es soll also unsere Aufmerksamkeit auf den Gegenstand des Schwurs lenken. Dennoch ist das Schwören Gottes eine wichtige theologische Frage, ob Er wirklich schwört. Bedeutet dieses Verb nicht eher etwas mitteilen?

Um den Vorwurf „Wir leben heute über 1400 Jahre später und die damaligen Araber werden es sehr wohl besser gewusst haben, wie die arabische Sprache, insbesondere die arabische Sprache der Lesung zu verstehen sei“ gleich vorneweg aus dem Weg zu räumen, möchte ich einen sehr bedeutenden Gelehrten und großartigen Grammatiker anführen in dieser Thematik: Abū Hayyān Al-Gharnāti (gest. 1344). Er war beispielsweise bezüglich Vers 90:1 auch der Meinung, dass die Verneinung (nafiy) und nicht eine versteckte andere Bedeutung gemeint sei, weil die Angelegenheit so klar ist, dass Gott nicht zu schwören braucht.141

Deshalb finden Sie in unserer Hanif-Übersetzung die folgende Übertragung der Verse 89:1–5 aufgrund des klaren Wurzelschwerpunktes und der offensichtlichen Grammatik:

 

89:1 Und der Morgenanbruch
89:2 Und zehn Nächte
89:3 Und das Ergänzende und das Anschließende
89:4 Und die Nacht, wenn sie zurückgeht
89:5 Ist darin eine Mitteilung für einen sich Besinnenden

 

Dennoch ist die Diskussion um die Bedeutung des Mitteilens/Schwörens nicht vollends abgeschlossen.

Ebenso ließe sich in diesem Zusammenhang diskutieren, ob das „wa“ in der Lesung überhaupt als Schwören verstanden werden kann, wenn es andere Beispielschwüre gibt, wie in 12:85 ersichtlich ist:

 

12:85 Sie sagten: “Bei Gott! (ta-allāh) Du hörst nicht auf, Josef zu erwähnen, bis du dich verzehrt hast oder zugrunde gehst”

 

Das „ta“ in Ta-allāh erfüllt dieselbe Funktion wie „bei“ auf Deutsch in einem Schwur, wie es in 12:85 verwendet wird. Wieso also auch das „wa“ als Einleitung für einen Schwur verstehen? Dieser Frage stehen zunächst andere Verse gegenüber, die sprachlich genauer untersucht werden müssen, bevor wir zu einem Schluss gelangen. Ein Beispiel sei angegeben:

 

19:68 Doch, bei deinem Herrn, wir werden sie versammeln, auch die Satane. Danach werden wir sie um die Hölle kriechend bringen.

Transliteration:
fawarabbika lanaḥschurannahum wasch-schayāṭīn ṯumma lanuḥḍirannahum ḥawla dschahannam dschiṯiyyan

 

In diesem Vers wird „wa“ als eine leichte Schwurform verwendet, zumindest aber um eine rhetorische Bekräftigung zu erwirken. Der Satz ließe sich schwer als „Doch und dein Herr“ übersetzen ohne merklich die Bedeutung zu verwässern. Deshalb muss eine umfassende Betrachtung dieser Verwendungsart nach den in diesem Buch beschriebenen Regeln und Prinzipien vorgenommen werden, um die Unterschiede zu klären und um keine voreiligen Schlüsse zu ziehen.

Schlüssel zum Verständnis des Koran: Beispiel 4 – Buch und Weisheit: Eine Einheit

3:81 Und als Gott den Bund der Propheten annahm für das, was ich euch an Schrift und Weisheit brachte, kam darauf zu euch ein Gesandter, das bestätigend, was mit euch ist. So glaubt an ihn und helft ihm. Er sagte: Habt ihr zugestimmt und diesbezüglich meine Bürde angenommen? Sie sagten: Wir haben zugestimmt. Er sagte: So bezeugt und ich bin mit euch unter den Bezeugenden

 

Es ist leider so, dass ein erheblicher Großteil der Sunniten und Schiiten glaubt, dass einerseits mit „Schrift“ das Buch, also die Lesung selbst gemeint sei, andererseits die Weisheit etwas anderes sei, was wir erst durch die Aussprüche in den Ḥadīṯ-Büchern erfahren könnten. Dies ist ein wichtiger Punkt, denn hier begründet sich die theologische Argumentation vieler klassisch-orthodoxer Sunniten oder Schiiten und ihren Anhängern, die damit der Tradition Gewicht verleihen möchten. Diese Tradition beinhaltet unter anderem auch die Steinigung, die Apostasie-Strafe für Abfällige von der Religion, die Sklaverei, die Unterdrückung der Frau und viele weitere Abscheulichkeiten. Deshalb müssen wir diesem Missbrauch der Verse aus der Lesung Einhalt gebieten.

Dass diese Idee, die Weisheit sei in der traditionellen Sunna, auf einem Fehlverständnis der Lesung beruht, werde ich im Anschluss gleich zeigen. Leider hat dies alles damit angefangen, dass ein mittelalterlicher Gelehrter, nämlich Asch-Schāfiʿī meinte, er müsse die auf Vermutungen, Lügen und Hörensagen begründeten Überlieferungen zu einer Offenbarung (waḥiy) erheben, um so der angeblich prophetischen Sunna Legitimität zuschreiben zu können. Diese Leute des Hadīṯ (ahlu-l-ḥadīṯ) waren dermaßen überzeugt von ihrer eigenen Ansicht und sehr aggressiv, dass sie diese Überlieferungen, welche dem Propheten angedichtet wurden, faktisch höher ansahen als die Lesung selbst. Zumindest wurde die Lesung nicht als kategorisch epistemologisch erhabener als ihrer Meinung nach zuverlässige Aussprüche angesehen. Es wird von ihnen auch folgender Spruch überliefert:

 

جاءت السنة قاضية على الكتاب وليس الكتاب قاضياً على السنة

dschā’at as-sunnatu qāḍiyatan ʿalá al-kitābi wa laysa al-kitābu qādiyan ʿalá as-sunnah

Die Sunna kam als Richtende über das Buch (die Lesung) und nicht das Buch als Richtender über die Sunna.118

 

Natürlich werden die heutigen Gelehrten diesen Satz relativieren und sagen, dass damit gemeint sei, die angeblich prophetische Sunna sei dazu da, um eine Erklärung für die in der Lesung „nicht erklärten“ Verse anzubieten. Den ersten Fehler, den sie hierbei begehen: Sie nehmen an, das Buch Gottes hätte nicht bereits die Erklärung in sich für diese Verse (siehe 25:33). Den zweiten Fehler, den sie begehen: Die meisten Aussprüche, selbst wenn sie in der Überliefererkette (Isnad) und im Inhalt oder Text (Matn) beide als authentisch (ṣaḥīḥ) gelten, sind und bleiben immer eine Vermutung und Gottes Lebensordnung kann nicht auf Vermutungen begründet werden. Die Lesung wird nicht durch Vermutungen begründet, sondern durch sich selbst, indem wir Verse im Lichte anderer Verse betrachten.

Die Wurzel ḥā-kāf-mīm (ح ك م), von welcher das arabische Wort für Weisheit abgeleitet ist, beherbergt als Grundbedeutung die Idee der „Weisheit“. Sie kommt in der Lesung in 189 Versen insgesamt 210 Mal vor.119 Aus diesem Grunde werden für Wörter wie „Richter“ oder „Urteil“ Ableitungen dieser Wurzel verwendet, da beispielsweise eine ausgebildete Richterin ohne die eigenen Gefühle ins Zentrum zu stellen bedacht, vernünftig und gerecht Urteile fällen muss. In anderen Worten muss sie weise handeln. Die in der Lesung verwendeten Wortformen sind:

  • 45 Mal als ersten Verbstamm ḥakama (حَكَمَ): urteilen/richten
  • 30 Mal als das Verbalnomen des ersten Verbstammes ḥukm (حُكْم): Urteil
  • Fünfmal als aktives Partizip des ersten Verbstammes ḥākimīn (حَٰكِمِين): Urteilende/Richtende
  • Zweimal als zweiten Verbstamm yuḥakkimu (يُحَكِّمُ): Jemanden zum Richter ernennen
  • Einmal als das aktive Partizip des dritten Verbstammes ḥukkām (حُكَّام): (strafrechtlich) Verfolgender / die rechtlich Zuständigen / Richter
  • Zweimal als vierten Verbstamm uḥkimat (أُحْكِمَتْ): stärken, etwas klar machen
  • Zweimal als passives Partizip des vierten Verbstammes muḥkamāt (مُّحْكَمَٰت) und muḥkamah (مُّحْكَمَة): klar gemacht
  • Einmal als sechsten Verbstamm yataḥākamu (يتََحَاكَمُ): sich gegenseitig vor den Richter bringen, Urteil verlangen
  • Zweimal als die Steigerungsform oder als Elativ aḥkam (أَحْكَم): weiser als / weisest. In der Lesung nominal verwendet als „der Weiseste“ (95:8)
  • Dreimal als das Nomen ḥakam (حَكَم): Schiedsrichter/Vermittler
  • 20 Mal als das Nomen ḥikma (حِكْمَة): Weisheit
  • 97 Mal als das Adjektiv bzw. das Nominal ḥakīm (حَكِيم): weise / der Weise

Wir werden in den nächsten Abschnitten sehen, dass in Tat und Wahrheit die Weisheit und das Buch eine Einheit bilden, die Weisheit also der Lesung innewohnt.

Es gibt viele Arten, wie diese Wurzel in der Lesung verwendet wird. Eins ist aber immer klar: Die Weisheit ist stets Gott und Seiner Offenbarung zu verdanken und die einzige Quelle der Weisheit ist Gott mit Seinem Wort und Wirken.

Wenn wir uns mit der Frage befassen, wie der Prophet urteilte und warum man in der Gottergebenheit nur mit der Offenbarung urteilen darf, so lesen wir:

 

5:48 Und Wir haben zu dir das Buch mit der Wahrheit hinabgesandt, das zu bestätigen, was von dem Buch vor ihm (offenbart) war, und als Wächter darüber. So urteile (uḥkum) zwischen ihnen nach dem, was Gott herabgesandt hat, und folge nicht ihren Neigungen entgegen dem, was dir von der Wahrheit zugekommen ist.

 

Hier ist es eindeutig, dass nur nach der Offenbarung zu urteilen erlaubt ist, dass es demnach nur eine Sunna geben kann, nämlich Gottes Sunna. Der Prophet urteilte also nach der Lesung (vgl. auch 7:203) und zwar nur nach dieser. Daraus können wir schließen, dass auch alle vorherigen abrahamitischen Religionen nach ihren jeweiligen Büchern zu urteilen hatten, denn laut der Lesung ist die Gottergebenheit keine neue Religion, sondern die Bestätigung der vorangegangenen Bücher. Bereits Abraham nannte sich und seine Mitgläubigen Gottergebene (22:78).

 

3:79–80 Nicht gebührt es einem Menschen, dass Gott ihm die Schrift, die Weisung (al-ḥukm) und die Prophetie zukommen lässt, und der danach zu den Leuten sagt: Seid mir Diener anstelle Gottes. Sondern: Seid ein Vorbild dabei, wie ihr die Schrift zu lehren und wie ihr zu studieren pflegtet. Und nicht befiehlt er euch, dass ihr die Engel und die Propheten als Herren nehmt. Befiehlt er euch etwa das Ableugnen, nachdem ihr Ergebene seid

 

Wir erinnern uns daran, dass ein „und“ in der Lesung nicht zwangsläufig bedeutet, dass hierbei unterschiedliche Einheiten in einer Aufzählung gemeint wären. Vielmehr sehen wir in diesem Vers auf deutliche Art und Weise, dass sie miteinander eng verbunden sind. Die Prophetie besteht darin, das Buch Gottes als Offenbarung zu erhalten und die darin innewohnende Weisheit den Menschen zu verkünden.

Die Verse 3:79–80 sind auch eine eindeutige Ansage, sich die Propheten nicht zu Herren zu nehmen und sich ganz auf Gott und Sein Wort zu konzentrieren – geradeaus direkt mit Gott die Verbindung aufzubauen, ohne Nebenwege einzuschlagen in religiösen Belangen! Sollten andere ins Zentrum gestellt werden, wo Gott doch die Quelle allen Heils ist? Würde Gott uns die Beigesellung und Ableugnung anordnen? Die einzige Autorität ist und bleibt Gott:

 

42:10 Und worüber ihr auch immer uneinig seid, das Urteil (al-ḥukm) darüber steht Gott zu. Dies ist doch Gott, mein Herr. Auf Ihn verlasse ich mich, und Ihm wende ich mich reuig zu.

 

Auch hier sehen wir wie eben dargelegt, dass das Urteil bei Uneinigkeiten in religiösen Dingen Gott allein obliegt, dass sich der Prophet nur auf Gott verlässt und sich Ihm in Reue zuwendet – sich also ganz auf Ihn einstellt. Ist nicht dies der Monotheismus in seiner schönsten Weise, von unseren Propheten vorgelebt? So folgen wir seinem prophetischen Beispiel und verlassen uns allein auf Gott.

 

4:105 Gewiss, Wir haben dir das Buch mit der Wahrheit hinabgesandt, damit du zwischen den Menschen richtest (litaḥkuma) auf Grund dessen, was Gott dir gezeigt hat. Sei kein Verfechter für die Verräter!

 

Gott gibt also dem Propheten das Buch, damit er zwischen den Menschen richte. Der Satzteil „was Gott dir gezeigt hat“ bezieht sich auf die in der Lesung vorhandenen moralischen, ethischen wie auch sozialen Prinzipien, die gemäß der Wahrheit offenbart wurden. Dies wird in der Betonung der Wahrheit im Vers sichtbar, die dem Buch innewohnt. Hier wird nochmals die Einheit Gottes ersichtlich, nämlich dass Gott in religiösen Angelegenheiten die einzige Autorität (6:114) und unser einziger Lehrer ist (55:1–2).

Die Lesung liegt uns heute vollständig vor und Gott hat uns dort  alle Urteile, die religiöse Belange betreffen, zu seiner Vollkommenheit mitgeteilt. Gott will im vorangegangenen Vers 4:105 dem Propheten nahelegen, nicht seinen Neigungen gemäß zu handeln. Denn das Buch und ihre Urteile sind eine Sache, die Durchführung und die damit verbundene Konsequenz eine andere. Der Prophet war nämlich nur ein Mensch (18:110) mit allen damit verbundenen Stärken und Schwächen. Denn der Vers 4:105 betont diese Haltung im letzten Satz: „Sei kein Verfechter für die Verräter!“

Und als nächstes muss man sich fragen, wie soll sich eine menschliche Sunna mit den oben behandelten Versen verstehen lassen, die nur der Offenbarung Platz einräumen? Und wieso wird in der Lesung nur Gottes Sunna erwähnt? Darüber hinaus muss die Quelle für die Religion rein und ohne Makel sein und wir finden in der Lesung selbst gleich mehrere Beispiele, die die Sünden des Propheten behandeln (47:19, 48:2). Die Offenbarung selbst wird hingegen als rein bezeichnet:

 

98:2 Ein Gesandter von Gott, der gereinigte Blätter vorliest

 

Wir sehen, eine Offenbarung muss ohne Makel sein und die traditionell gelehrte Sunna ist es nicht. Die traditionelle Sunna ist menschlichen Ursprungs, da bisher niemand behauptet hat, Buchārī oder Konsorten seien ebenso Gesandte Gottes, die in Seinem Namen gehandelt hätten. Allein diese Umstände verunmöglichen es, der traditionellen Sunna irgendeine religiöse Autorität zu verleihen.

Wir fassen das Bisherige zusammen:

  • Gott lehrte den Propheten die Lesung (55:2) und nur die Lesung.
  • Der Prophet wie auch alle Gläubigen dürfen nur dem Herabgesandten, also der Lesung folgen (7:3, 7:203).
  • Der Prophet selbst ist keine weitere Quelle, kein weiterer Herr, wie es 3:80 und 6:19 und auch weitere Verse klar machen.
  • Gott allein steht das Urteil zu (6:114, 5:44 usw.).

Es ist also sehr deutlich, dass der Prophet nur nach dem offenbarten Buch urteilte und keine andere Quelle benutzen durfte und dass nur Gott urteilen darf in religiösen Angelegenheiten. Der Vers 6:114 wird tiefgreifend mit dem Monotheismus verknüpft, denn der Vers sieht nur einen Schiedsrichter vor – Gott allein. Seine Gesetze sind im Buch, die ohne Sekundärquellen auskommen. Die Lesung wurde hier als „ausführlich dargelegt“ beschrieben, somit erübrigt sich die Frage, ob die Lesung Einzelheiten ausgelassen habe, die durch die traditionelle Sunna ergänzt werden müssten. Durch die rhetorische Frage des Verses wird jegliche Quelle außer Gott für überflüssig und auch ungültig erklärt.

 

6:114 Soll ich denn einen anderen Schiedsrichter (ḥakam) als Gott begehren, wo Er es doch ist, der das Buch, ausführlich dargelegt, zu euch herabgesandt hat?

 

Außerdem sagt Gott von der Lesung:

 

11:1 Alif-Lam-Ra. (Dies ist) ein Buch, dessen Zeichen eindeutig festgefügt und hierauf ausführlich dargelegt sind von Seiten eines Weisen und Kundigen.

41:3 Ein Buch, dessen Zeichen ausführlich dargelegt sind, als eine arabische Lesung, für Leute, die Bescheid wissen

 

Es lässt sich aber die Frage stellen, ob Gott denn Seine Befehlsgewalt weiter delegiert und sie in dem Sinne dann indirekt wirken lässt? Gibt es also noch andere Verse, die die Einheit und alleinige Autorität Gottes untermauern und somit die vorige Frage verneinen? Es folgen Verse, die besonders die alleinige Autorität Gottes hervorheben, indem gerade betont wird, dass Er seine Befehlsgewalt nicht aufteilt:

 

18:26 Sag: Gott weiß am besten, wie (lange) sie verweilten. Sein ist das Verborgene der Himmel und der Erde. Wie vorzüglich ist Er als Allsehender, und wie vorzüglich ist Er als Allhörender! Sie haben außer Ihm keinen Schutzherrn, und Er beteiligt an Seinem Urteil (ḥukmihi) niemanden.120

11:12 Vielleicht möchtest du einen Teil von dem, was dir offenbart wird, verlassen und deine Brust ist dadurch beklommen. Dies, weil sie sagen: „Wäre doch ein Schatz auf ihn herabgesandt worden oder ein Engel mit ihm gekommen!“ Du bist aber nur ein Warner. Und Gott ist Sachwalter über alles.

12:40 Anstelle seiner dient ihr nichts außer Namen, die ihr und eure Väter benanntet. Dafür ließ Gott keine Ermächtigung herabsenden. Gewiss, das Richten (al-ḥukm) ist nur Gottes. Er befahl, dass ihr keinem außer ihm dient. Dies ist die wertvolle Lebensordnung, doch die meisten Menschen wissen nicht

6:57 Sag: Ich halte mich an einen klaren Beweis von meinem Herrn, während ihr Ihn der Lüge bezichtigt. Ich verfüge nicht über das, was ihr zu beschleunigen wünscht. Das Urteil gehört allein Gott. Er berichtet die Wahrheit, und Er ist der Beste derer, die entscheiden.121

 

Die vier oben genannten Verse machen mit Aussagen wie „Das Urteil (al-ḥukm) ist allein Gottes“, „Und Er beteiligt an Seinem Urteil (ḥukmihi) niemanden“ oder „Und Gott ist Sachwalter über alles“ klar, dass weitere Quellen neben Gottes Worten keine Autorität haben können. Sie unterstreichen die alleinige Autorität Gottes und zeigen auf, dass es nur die Sunna Gottes gibt. Wenn wir uns die Frage stellen, welche Befugnisse der Gesandte durch Gottes Worte, also durch die Lesung erhält, so finden wir unter anderem folgende Verse dazu:

  • Dem Gesandten obliegt nur die Verkündigung. (5:92, 64:12)
  • Der Gesandte ist nur ein Warner. (88:21, 79:45, 13:7, 11:12)
  • Der Gesandte hat die Botschaft klar zu übermitteln. (16:44)

Es gibt noch viele weitere Verse, die die alleinige Autorität Gottes hervorheben, ich will hier nur mit drei Versen diese Angelegenheit ein letztes Mal verdeutlichen:

 

12:67 … Gewiss, das Richten (al-ḥukm) ist nur Gottes. Auf Ihn vertraue ich und auf Ihn sollen sich die Vertrauensvollen verlassen.

25:2 Er, Dem das Königreich der Himmel und der Erde gehört, Der Sich kein Kind nahm und Der keinen Teilhaber an der Herrschaft hatte und alles erschuf und ihm sein Maß wohlbemessen gegeben hat.

28:70 Und Er ist Gott. Es gibt keine Gottheit außer Ihm. Ihm gehört das Lob im Ersten und im Letzten. Ihm gehört das Urteil, und zu Ihm werdet ihr zurückgebracht.

 

Nach diesen und anderen Versen ist es schwer eine Gewaltenteilung vorzunehmen, dass auf der einen Seite die Lesung stünde und auf der anderen Seite die menschliche Sunna (entgegen der göttlichen Sunna). Gott, „der keinen Teilhaber an der Herrschaft hat“, und von sich aus sagt, dass das Urteil (ḥukm) allein Seines ist und Ihm das Richten gehört, reicht den Gläubigen aus.

 

12:80 Als sie es bei ihm aufgegeben haben, gingen sie gerettet davon. Der Älteste von ihnen sagte: Wisst ihr nicht, dass euer Vater von euch, auch bevor ihr euch von Josef entledigt habt ein verbindliches Versprechen vor Gott entgegengenommen hat. Ich werde das Land nicht verlassen, bis mein Vater es mir erlaubt oder Gott richtet (yaḥkum Allāh), und er ist der beste der Richtenden (al-ḥākimīn).

95:8 Ist Gott nicht der Weiseste der Richtenden (bi-aḥkami al-ḥākimīn)?

5:50 Erstreben sie etwa das Urteil (al-ḥukm) der Ignoranz? Wer ist ein besserer Richter (ḥukm) als Gott für ein Volk, das überzeugt ist?

 

Wir sehen also überaus deutlich, dass die Weisheit und die daraus abgeleiteten Urteilssprüche Gott allein gehören. Es gibt auch klare Aussagen in der Lesung, dass die Lesung selbst die Weisheit darstellt. Wie etwa in Kapitel 17, in welchem beginnend ab Vers 22 ethische Prinzipien und Gesetze erklärt werden, welche ein Gläubiger umzusetzen hat. Dies geht weiter bis Vers 38 und im darauffolgenden Vers lesen wir:

 

17:39 Diese sind von dem, was dein Herr dir von der Weisheit offenbarte. Und setze zu Gott keine andere Gottheit, sonst wirst du in die Hölle geworfen, verschmäht und verstoßen sein

 

Die vorhergehenden Verse werden also direkt als Teil der Weisheit des Herrn beschrieben. Insofern sehen wir in diesem Beispiel, dass die Verse ein Teil der Weisheit Gottes sind. Im nächsten Schritt werde ich aufzeigen, dass diese laut der Lesung eine Einheit sein müssen. Das Prinzip der Einheit von Buch und Weisheit wird also auch von der anderen Richtung her aufgezeigt.

 

2:231 … So nehmt euch Gottes Zeichen nicht zum Spott und gedenkt Gottes Gunst an euch und dessen, was Er aus der Schrift und der Weisheit (al-ḥikmah) auf euch herabsandte, euch damit zu belehren. Und seid Gottes achtsam und wisst, dass Gott in allen Dingen wissend ist.

 

Auf Arabisch heißt es:

 

ولا تتخذوا ءايت الله هزوا واذكروا نعمت الله عليكم وما أنزل عليكم من الكتب والحكمة يعظكم به واتقوا الله واعلموا أن الله بكل شىء عليم

Transliteration:
wa lā tattachiḏū ʾāyāti-llāhi huzuwān waḏkurū niʿmāta-llāhi ʿalaykum wa mā ʾanzala ʿalaykum min al-kitābi wal-ḥikmati yaʿiẓukum bihi wa-ttaqū-llāha wa ʾaʿlamū ʾanna-llāha bikulli schayʾin ʿalīmun

 

Das große fette Wort im Arabischen wird in der Übersetzung als „damit“ wiedergeben und transliteriert „bihi“ ausgesprochen. Wären nun die Schrift und die Weisheit zwei verschiedene Dinge, müsste für den Bezug auf diese beiden verschiedenen Dinge die Dualform benutzt werden, nämlich bihimā (بهما) oder zumindest der Plural bihim (بهم). Der im Vers verwendete Bezug ist aber singular! Somit sind die Schrift und die Weisheit eine Sache, oder anders gesagt: Die Weisheit wird als der Schrift innewohnend angenommen.

Alles in allem kann bekräftigt werden, dass die traditionelle Aufteilung in Buch als die Lesung und Weisheit als die angebliche prophetische Sunna auf einem missglückten, geradezu peinlichem Fehlverständnis des Begriffs „Weisheit“ und der Wurzel selbst beruht, wobei ich hier etliche Verse zitierte, die Gott allein Autorität zusprechen und die Gott allein als Quelle der Weisheit klarstellen.

Schlüssel zum Verständnis des Koran: Erklären, Offenbarung und Gehorsam

Das Verb „erklären“ oder auch „klarmachen“ ist sowohl auf Arabisch als auch auf Deutsch mehrdeutig. So wie die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ keine ausführliche, in jeglicher Hinsicht ausformulierte Erklärung meint, sondern eine Erklärung im Sinne einer Verkündigung, verhält es sich ähnlich mit dem Aufruf an den Gesandten, die Lesung zu „erklären“, ihn also nicht zu verbergen. Mit dieser „Erklärung“ wird die Grundidee einer zu vermittelnden Botschaft dargelegt, wie eben im Falle der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die selbst juristisch für jeden Staat neu ausgelegt werden. Ich belege meine Behauptung durch den Wortgebrauch im folgenden Vers:

 

3:187 Und als Gott die Verpflichtung derer entgegen nahm, die die Schrift erhielten: Ihr müsst sie den Leuten klarmachen (latubayyinunnahu) und dürft sie nicht verborgen halten (taktumūnahu)! …

 

Demnach ist es klar, dass dieser Vers zwei gegensätzliche Verben beinhaltet:

  • bayyana: proklamieren, klar/sichtbar machen, zeigen, etc.
  • katama: verbergen, unsichtbar machen, verstecken, etc.

Wenn wir auf Arabisch zum Beispiel „dschāʾanā al-bayān at-tālī“ (جاءنا البيان التالي) sagen, so bedeutet dies sinngemäß „Zu uns kam folgende Verkündung.“ Hier wird al-bayān als Verkündung verstanden. Die Wurzel des Verbes bā-yā-nūn (ب ي ن) kommt in der Lesung 523 Mal vor in dreizehn verschiedenen Wortformen (darunter 266 Mal als das Wort „zwischen“: bayn – بَين). In ihrem Kern sagt diese Wurzel aus, dass etwas „klar“ ist. Deshalb werden Wörter wie „Erklärung“ oder „Klarheit“ mit dieser Wurzel verbunden. Und die Lesung selbst trägt den Beinamen „al-qur’ān al-mubīn“: die klare, offenkundige, nicht verborgene Lesung. Die Wurzel wird auch für die Wiedergabe des Wortes „Beweis“ gebraucht, so z.B. in bayyina (بَيِّنَة). Weil die Angelegenheit so klar ist, wird diese Angelegenheit selbst als Beweis angeführt. Dies alles zusammengefasst erklärt die Grundbedeutung der Wurzel, dass es sich um eine Klarheit handelt und nicht um eine Erläuterung (tafsīr). Dass Gott Sein Buch „klar“ bezeichnet, wird auch insofern deutlich, wenn die Verse 54:17, 54:22, 54:32 und 54:40 berücksichtigt werden, die alle in ihrem Wortlaut dasselbe aussagen: Die Lesung wurde zum Nachdenken einfach gemacht.101

Zusammengefasst lässt sich also sagen, dass die Lesung kein verborgenes, unverständliches, irgendwelche Erklärungen benötigendes Buch ist. Eher im Gegenteil, das Buch Gottes wird als klar oder deutlich (mubīn, 28: 2), ausführlich detailliert (mufaṣṣal, 41:3, 6:114, 7:133), leicht (yasīr, 54:17,22,32,40) zu bedenken und vollständig (mutimm, 6:115) bezeichnet, fernab jeglicher Unvollkommenheit und Unklarheit, die durch den Gesandten weiter erklärt werden müsste!

Es sei nochmals betont, dass die Lesung an unzähligen Stellen klar macht (es also mubīn wird), dass Gott allein die Entscheidung obliegt (5:50, 6:57, 12:40, 12:67, 42:10, 42:21). Ein weiterer missdeuteter Vers ist 75:19, welcher gerne im unmittelbaren Kontext dahingehend interpretiert wird, dass hier nicht die Lesung gemeint sei, sondern das Buch des Menschen, welches er am jüngsten Tag bekommt, in dem alle seine Taten verzeichnet sein werden. Folgender Vers widerlegt diese Ansicht:

 

17:14 Lies dein Buch! Du selbst genügst heute als Abrechner über dich.102

 

Also bedarf es keiner Erklärung, um „das Buch des Menschen“ am jüngsten Tag erklären zu müssen – er selbst genügt seiner selbst. Deshalb muss in 75:19 die Lesung selbst gemeint sein.

 

Die Offenbarung, die keine Offenbarung ist

Es gibt noch einen weiteren Vers, mit welchem die Traditionalisten die Sunna sogar mit der Offenbarung gleichzusetzen versuchen:

 

53:1–3 Und der Stern, wenn er sich neigte. Weder irrte euer Gefährte noch wurde er verführt. Und er äußert sich nicht aus der Neigung.

 

Auf die Wiedergabe dieses Verses und dem soeben erwähnten Argument, die Offenbarung und die Sunna seien auf gleicher Stufe, ist die Antwort einfach zu geben, indem lediglich der nächste Vers gelesen wird:

 

53:4 Es ist nichts als eine offenbarte Offenbarung.

 

Weitere Quellen neben Gottes Wort können nicht als Offenbarung gelten, weil dies mittelbar und unmittelbar durch Gott selbst klargemacht wird. Insofern kann auch die traditionell überlieferte Sitte, die dem Propheten untergejubelt wird, keine Offenbarung sein (45:6, 7:185, 77:50). In diesen Versen kommt im arabischen Original das Wort Ḥadīṯ vor und gibt uns zu verstehen, dass die Lesung selbst der einzige Ḥadīṯ sein soll, dem wir zu folgen haben. In diesen Versen wie auch in anderen (zum Beispiel 12:111) wird verdeutlicht, dass Gottes Ḥadīṯ mit keinem anderen Ausspruch gleichgestellt werden kann, da sie als erfunden (yuftará) beschrieben werden. So sind außerkoranische Aussagen keine Offenbarungen und wie wir bereits an Beispielen gezeigt haben, war der Prophet nicht sündenfrei. Er beging mehrere Fehler. Eine Offenbarung hingegen ist fehlerfrei und makellos:

 

41:41–42 Diejenigen, die nicht an die Ermahnung glauben, wenn sie zu ihnen kommt (sind die Verlierenden). Und fürwahr, es ist ein ehrwürdiges Buch. Falschheit kann nicht daran herankommen, weder von vorn noch von hinten. Es ist eine Offenbarung von einem Allweisen, Preiswürdigen.103

 

Darüber hinaus ist sehr viel Falschheit in die Sammlung der Aussprüche gelangt.

Fest steht: Wir müssen dem Gesandten folgen und ihm gehorchen, damit wir Gott gehorchen können (2:143, 3:20, 3:31, 24:54, 2:129, 3:164, 4:80 und 62:2). Nur wie folgen wir ihm? Das wird in der Lesung geklärt. Der Prophet folgte nämlich nur dem, was ihm offenbart wurde (6:50, 6:106, 7:203, 10:15, 33:2, 46:9). Allgemein wird betont, dass das blinde Nachahmen der Vorväter, wie Buchārī oder Asch-Schāfiʿī, uns eher davon abhalten wird, die Botschaft zu begreifen. Wir werden durch sie davon abgehalten, unsere Seelen durch die Lesung zu reformieren (6:116, 2:170, 31:21, 5:104, 10:78, 6:155, 3:53). Doch der wichtigste Vers in dieser Angelegenheit ist der folgende, der sowohl an unseren Propheten als auch an uns gerichtet ist:

 

7:3 Folgt dem, was zu euch von eurem Herrn herabgesandt worden ist, und folgt außer Ihm keinen (anderen) Schutzherren! Wie wenig ihr bedenkt!104

 

Anzumerken ist hier noch weiter, dass nicht dem Gesandten die Rechtleitung obliegt, sondern Gott rechtleitet. Also selbst mit dem Wissen, wie sich der Prophet angeblich verhalten haben soll (die Quellen der Aḥādīṯ sind nicht zweifelsfrei), können wir nicht sicher sein, dass wir dadurch die Rechtleitung erhalten (2:272, 28:56). Hieraus wird klar, dass Gott im Gesandten seinen Verkünder in Bezug auf Seine Botschaft sieht und das nur so die eben angeführten und genauso die nachfolgenden Verse einen logischen Sinn ergeben können:

 

9:1 Eine Loslösung seitens Gottes und dessen Gesandten von den Beigesellern, mit denen ihr vereinbartet

9:3 Und eine Bekanntmachung von Gott und seinem Gesandten für die Leute am Tag der großen Debatte, dass Gott sich von den Beigesellern loslöst und auch sein Gesandter. Bereutet ihr, dann ist es gut für euch. Kehrtet ihr euch ab, dann sollt ihr wissen, dass ihr euch Gott nicht entziehen könnt. Und verkünde denjenigen, die ableugneten, eine schmerzhafte Qual.

 

Gott hatte sich selbstverständlich nicht zuerst mit dem Gesandten beraten, wie sie vorgehen sollten, sondern Gott offenbarte durch den Gesandten die Bekanntmachung, an die wir uns alle zu halten haben. Wenn wir also Gott gehorchen wollen, müssen wir der durch den Gesandten überlieferten Botschaft gehorchen, was nichts anderes bedeutet, als Gott zu gehorchen. Im vierten Kapitel der Lesung finden wir zu Beginn zahlreiche Gesetze Gottes, wonach dann folgender Vers erscheint:

 

4:13–14 Dies sind die von Gott gesetzten Schranken. Und jene, die den Befehlen Gottes und des Gesandten folgen, werden in Gärten eingelassen, durch die Bäche fließen, und wo sie für ewig verweilen. Das ist der größte Triumph. Und wer Gott und Seinem Gesandten den Gehorsam versagt und Seine Schranken übertritt, den führt Er ins Feuer, worin er ewig bleibt. Und er soll eine schmerzhafte Strafe haben.

 

In diesen Versen wird erklärt, uns also klar gemacht, dass die Einhaltung der Befehle und Gesetze Gottes dem Gehorsam gegenüber Gott sowie Seinem Gesandten gleichkommt. Da dies die Gesetze Gottes sind, die der Gesandte verkünden musste, agiert er im Namen Gottes und als Gesandten. Der Prophet nahm dadurch unweigerlich den Charakter einer Autorität an, der die Verfügungen Gottes durch göttliche Eingebung übermitteln oder aufheben kann. Dem Gesandten zu gehorchen bedeutet also der Lesung als Ganzes zu folgen.

 

Allen Gesandten ist zu gehorchen, nicht nur einem

Noch eine weitere Anmerkung zur Behauptung, dass der Aufruf, dem Gesandten zu gehorchen, angeblich der dem Propheten zugeschobenen Sunna zu folgen bedeute: Wir haben die gottergebene Pflicht, keinen Unterschied zwischen irgendeinem der Gesandten Gottes anzustellen (2:285). Lesen wir darüber hinaus beispielsweise folgende Verse:

 

26:108,110 (Noah sagte:) So fürchtet Gott und gehorcht mir.

26:126,131 (Hūd sagte:) So fürchtet Gott und gehorcht mir.

26:144,150 (Ṣāliḥ sagte:) So fürchtet Gott und gehorcht mir.

26:163 (Lot sagte:) So fürchtet Gott und gehorcht mir.

26:179 (Schuʿayb sagte:) So fürchtet Gott und gehorcht mir.

 

So lässt sich folgende berechtigte Frage stellen: Wo ist dann die Sunna von Noah, Hūd, Ṣāliḥ, Lot, Schuʿayb und all den anderen Gesandten? Wo ist die Sunna Abrahams, wenn er ebenso als Vorbild für uns gilt (60:4)?

Indem wir nur einer einzigen spezifischen Sunna folgen, begehen wir gleich mindestens in drei Angelegenheiten Fehler:

Erstens gilt das Wort „Sunna“, dessen Wurzel in der Lesung 21 Mal in 15 Stellen vorkommt105, nur für Gott. Es ist also Gott, der eine wie auch immer zu definierende Sunna bestimmt. Es wird darüber hinaus betont, dass die Sunna Gottes nie verändert wurde (17:77, 33:62, 35:43, 48:23). Diese Sunna Gottes galt also für die vorherigen wie auch die nachkommenden Gesandten. Von einer „Sunna Mohammeds“ als religiöser Quelle zu reden kommt deshalb einer Beigesellung des Propheten und seiner Lebensweise neben Gott und seiner Sunna gleich.

Zweitens dürfen wir keinen einzigen Unterschied zwischen den Gesandten aufstellen. Der Wortlaut aus den Versen 2:136, 2:285 und 3:84, nach denen wir unseren Glauben bekräftigen müssen, ist in dieser Hinsicht klar, deutlich und eindeutig:

 

Wir machen keinen Unterschied zwischen irgendeinem von ihnen / von den Gesandten.
Transliteration: lā nufarriqu bayna aḥadin minhum / min rusulihi.

 

Dies ist die Aussage von aufrichtigen, überzeugten Gottergebenen, die Gottes Wort ernst nehmen. Indem ein einziger Gesandter speziell behandelt wird und man der ihm zugeschriebenen Lebensweise folgt, missachten wir in Tat und Wahrheit diesen Vers und handeln gegen Gottes Wort.

Drittens wurden die Lebensweisen der Propheten und Gesandten, Frieden sei auf allen, nicht von ihnen selbst niedergeschrieben, sondern sind der missglückte Versuch ihrer Anhänger die Vermutungen und das Hörensagen über diese Menschen festzuhalten. Sie handelten entgegen der Absichten der Propheten und Gesandten und schufen einen Personenkult um sie herum. Kurz gesagt haben sie die Propheten in ihrer Botschaft nicht verstanden.

Das Prinzip der stillen Post, also die Verzerrung und Verfälschung von Überlieferungen durch die wiederholte mündliche Weitergabe, gilt auch hier. Die Überlieferungen müssen deshalb als verzerrt, verfälscht und unwahr angenommen werden, wie am Beispiel der erfundenen und meist widerlichen Aussprüche, die dem Propheten Mohammed angedichtet wurden, deutlich der Fall ist. Sie sind als Gerüchte, Hörensagen und Missverständnisse zu deuten.

gehorcht dem gesandten

Schlüssel zum Verständnis des Koran: Beispiel 1 – Die Aufgabe der Gesandten und „gehorcht dem Gesandten“

Da wir nun die Werkzeuge und die Fallen des Verstehens kennengelernt haben, möchte ich in diesem Teil des Buches unsere Methodik an einigen Beispielen anwenden und beginne mit einer Kurzanalyse des Aufrufs aus der Lesung: Gehorcht dem Gesandten! Ich werde hierbei nicht an jeder Stelle deutlich erwähnen, welcher Schritt wo angewandt wurde, sondern es geht hierbei mehr darum zu vermitteln, was bei einer solchen Methodik für Ergebnisse zu erwarten sind.

Natürlich sind die Beispiele bei Weitem nicht ausschöpfend analysiert worden, denn das ist nicht das Ziel dieses Buches. Bei vielen Beispielen könnte ich noch weiter in die Tiefe gehen. Jedoch möchte ich sie einfach und relativ kurz halten. Vielmehr geht es bei jedem Beispiel um die Betonung verschiedener Aspekte der vorgeschlagenen Methodik.

Wenn Sie nach den Beispielen in diesem Teil ein Gefühl erhalten haben, wie die Anwendung der vorgeschlagenen Methodik im Wesentlichen funktioniert, so bin ich bereits zufrieden.

Sie und ich begeben uns nun auf eine weitere, gemeinsame Reise durch die Lesung.

 

Beispiel 1 – Die Aufgabe der Gesandten und gehorcht dem Gesandten

Die Lesung beinhaltet zahlreiche Stellen, in denen von den Gläubigen gefordert wird, dass sie gegenüber dem Gesandten gehorsam sein sollen, wenn sie Gott gehorchen wollen (3:31–32, 3:132, 4:80, 5:92, 24:52, 24:56, 64:12, 72:23). Dabei stellt Gott aber auch klar, dass Gehorsam gegenüber dem Gesandten in Zusammenhang mit Gehorsamkeit gegenüber der überlieferten Botschaft und nichts anderem steht. Traditionalisten bringen dann gerade aufgrund dieser Verse Argumente vor wie: „Es wird uns befohlen, den Vorschriften Gottes und des Propheten zu gehorchen, was wir nur durch den Koran und die Sunna bewerkstelligen können“. Dass dies auf einem tiefgreifenden Fehlverständnis und einer falschen theologischen Verortung dieser koranischen Aussage beruht, werde ich gleich zeigen.

Erstens ist zu betonen, dass in den besagten Versen der Prophet nur als Gesandter (rasūl) genannt wird. Zweitens ist anzumerken, dass Mohammed auch namentlich erwähnt wird in der Lesung, nämlich dreimal in Bezug auf seine Gesandtenfunktion (3:144, 33:40, 48:29) und einmal in 47:2, in der er im direkten Bezug zur Herabsendung erwähnt wird. Den Vers 61:6 könnte man unter Umständen ebenso hinzuzählen, obwohl dort nicht der Name des Propheten beschrieben wird, sondern eine Umschreibung als „aḥmad“, aber auch dieser Vers betont die Gesandtenfunktion von Mohammed.

Nirgends stoßen wir auf eine Aussage wie „Gehorcht Gott und Mohammed“. Einzig und allein die Aussage „Gehorcht Gott und Seinem Gesandten“ wird verwendet. Also ergibt sich der Gehorsam gegenüber dem Propheten nur in seiner Funktion als Übermittler der Botschaft. Die Lesung selbst wird in einem anderen Vers als „das Wort eines edlen Gesandten“ (69:40) beschrieben und gleich drei Verse später (69:43) als „eine Herabsendung vom Herrn der Welten“, um jeglichen Missverständnissen vorzubeugen. „Gehorcht dem Gesandten“ bedeutet deshalb nicht, dass er eine persönliche Vorgehensweise hatte, der man gehorchen soll, als ob sie Gottes Offenbarung sei. Gott befiehlt dem Propheten zu sagen, dass er zwar unfehlbar in der Überlieferung der Botschaft ist, aber Fehler begehen könnte, wenn es um seine eigene Meinung geht:

 

34:50 Sage: „Wenn ich irregehe, gehe ich nur aufgrund mir selbst irre. Wenn ich rechtgeleitet bin, so geschieht das durch das, was mir mein Herr offenbart. Er ist hörend und nahe.“

 

Das, was ihm offenbart wurde, ist natürlich die Lesung selbst, was wir leicht aus einer anderen Stelle der Lesung verstehen können (6:19). Der Gesandte darf hierbei in keiner Sache, sei sie noch so klein und scheinbar unbedeutend, von den Richtlinien Gottes abweichen (10:15–18, 17:73–75, 69:40–47). Als er aus Versehen jedoch einmal abwich, wurde er von Gott getadelt und korrigiert (66:1). Die Lesung ist Gottes Buch und Sein Wort an uns. Dennoch hörten sie die Menschen aus dem Munde Seines Gesandten Mohammed (4:13, 9:1, 9:3, 9:29). Hierbei ist es wichtig zu verstehen, dass der Gesandte selbst keinerlei Autorität über die Verordnungen der Lebensordnung (dīn) besitzen konnte. Die Aufgaben des Gesandten, nur Verkünder und Warner zu sein, bedeuten dasselbe, denn der Prophet sprach Gläubige und Ableugner an. Für Gläubige ist es eine frohe Botschaft, eine Verkündigung, für die Ableugner aber eine Warnung (18:56, 6:70 – der Bezug zur Lesung wird in den Versen 6:54 und 6:55 klar).

 

33:21 Für euch ist ja im Gesandten Gottes ein schönes Vorbild…

 

Es wird gefragt, wie man diesem Beispiel folgen kann, ohne eine Quelle zu haben, in der beschrieben ist, wie sich der Gesandte verhielt. Dieser Frage will ich in diesem Buch nicht nachgehen. Den Interessierten empfehle ich die Lektüre meines Artikels „Koranischer oder sunnitischer Mohammed?“.97

In der Lesung ist in zahlreichen Stellen vom Gesandten die Rede, dessen einzige Pflicht die Verkündigung der Botschaft ist (5:92, 5:99, 16:35, 16:82, 24:54, 29:18, 42:48, 64:12), wovon wir zwei Verse zitieren möchten:

 

29:18 … Und dem Gesandten obliegt nur das deutliche Übermitteln.

16:35 Diejenigen, die beigesellten, sagten: „Hätte Gott gewollt, hätten wir nichts an seiner Stelle gedient, weder wir noch unsere Väter, und wir hätten nichts an seiner Stelle verboten.“ So handelten auch diejenigen vor ihnen. Obliegt denn den Gesandten etwas anderes als das deutliche Übermitteln?

 

Es sei hier betont, dass in Vers 16: 35 der Plural des Wortes „Gesandter“ verwendet wird (الرُسُل – ar-rusul) und demzufolge stets ein Bestandteil der göttlichen Sunna (sunnatullah) war, dass sämtliche Gesandten nur diese eine Aufgabe hatten, was das eigenständige Interpretieren der Lesung im Namen Gottes also ausschließt. Die Gesandten haben also nur die Botschaft zu übermitteln.

Eine der vorbildlichen Eigenschaften des Gesandten war es, dass er nur die Lesung befolgte (7:203). Wenn wir seinem Vorbild folgen möchten, dann gilt für uns auch, dass wir nur die Botschaft der Lesung ins eigene Leben übertragen und ebenso an unsere Mitmenschen übermitteln, ohne dabei Missionierung zu betreiben. Wir müssen, wie bereits erwähnt, uns auch daran erinnern, dass der Prophet nicht uneingeschränkt als positives Vorbild dient (9:43, 66:1).

In der Lesung wird der Charakter des Propheten an vielen Stellen umschrieben. Auch er war dem Glauben verpflichtet und hatte sich nur Gott zu unterwerfen. Der Prophet wird an mehreren Stellen ermahnt nicht seinen Neigungen nach zu handeln (2:120, 2:145, 4:135). Schließlich wäre eine menschliche Sunna nicht vollkommen wie Gottes Worte. Wir dürfen laut Gottes Wort auch keinen einzigen Unterschied unter den Gesandten machen (2:285), also können wir uns nicht auf einen einzigen beschränken und nur diesen als Vorbild nehmen. Wir haben auch an Abraham ein schönes Vorbild (60:4), und offensichtlich wurde uns keine „Sunna Abrahams“ überliefert. Die Lesung beschreibt die vorangegangenen Propheten in ihren Geschichten und genau da sind ihre Beispiele und Vorbildfunktionen zu finden:

 

12:3 Wir erzählen dir die besten Geschichten, indem wir dir diesen Quran offenbaren, da du zuvor von den Achtlosen warst.

12:111 In ihren Geschichten war ja eine Lehre für die Verständigen. Es war keine erdichtete Erzählung (ḥadīṯ), sondern eine Beglaubigung für das, was er zwischen den Händen hielt und eine genaue Darlegung für alles und eine Rechtleitung und Barmherzigkeit für die Leute, die glauben.

 

Des Weiteren führen traditionell eingestellte Muslime gerne folgenden Vers an:

 

59:7 … Was nun der Gesandte euch gibt, das nehmt; und was er euch untersagt, dessen enthaltet euch. …98

 

Hier soll also die „Sunna“ gemeint sein, die über den Gesandten gesammelt sein soll. Doch wenn man den Kontext des Verses anschaut, wird schnell klar, dass hier etwas völlig anderes gemeint ist:

 

59:7 Was Gott Seinem Gesandten von den Leuten der Dörfer an Gütern zugeteilt hat, das gehört Gott, Seinem Gesandten und den Verwandten, den Waisen, den Armen und dem Obdachlosen. Dies, damit es nicht nur im Kreis der Reichen von euch bleibt. Was nun der Gesandte euch gibt, das nehmt an, und was er euch unterbindet, dessen haltet euch fern. Und seid Gottes achtsam. Gewiss, Gott ist hart in der Bestrafung.

 

Hier geht es also um die Beuteaufteilung, die von Gott dem Gesandten zugeteilt wird. Es wird nicht pauschal mitgeteilt, dass wir das Verhalten des Propheten blindlings annehmen sollen. Das Prinzip der Nachahmung (at-taqlīd) in der traditionellen Betrachtungsweise hat hier keinen Bestand. Vielmehr ist es so, dass der Gesandte Gottes von Gott eben Anordnungen mittels Offenbarungen erhält, die er zu verkünden und zu übermitteln hat. Diesen Anordnungen müssen wir Folge leisten, und genau in dem Sinne ist dann der Ausdruck „Was nun der Gesandte euch gibt, das nehmt; und was er euch untersagt, dessen enthaltet euch.“ zu verstehen. Genau so und nicht anders wird dann auch der Schlusssatz im Vers besonders bedeutsam, indem wieder auf Gott hingewiesen wird, dass wir Gottes achtsam sein sollen.

Einer der weiteren häufig angeführten Verse ist 16:44:

 

16:44 … Und wir haben zu dir die Ermahnung hinab gesandt, damit du den Menschen klar machst, was ihnen herabgesandt wurde, und auf dass sie nachdenken mögen.99

 

Hiermit wird behauptet, dass der Ausdruck „damit du klar machst“ meine, der Gesandte brächte außerkoranische, zusätzliche eigene Erklärungen. Oft wird der Versteil dementsprechend als „damit du den Menschen erklärst“ übersetzt. Der Vers sei ein klarer Beweis dafür, dass wir das Verhalten und die Ansichten des Propheten zu befolgen hätten, um die Lesung vollends zu verstehen. Wenn wir diesen Vers auf diese Weise auslegen, widerspricht dies den zuvor genannten Versen, die Gott die alleinige, absolute Autorität zusprechen. Darüber hinaus lassen die Verse 75:19, 25:33 und 55:2 keinen anderen Schluss zu, als dass in erster Linie Gott die Lesung erklärt. Er hat uns die Lesung vollständig herabgesandt (6:114, 5:3). Sein Buch ist in Wahrheit und Weisheit vollkommen (6:115), und deshalb sollte der Prophet nur nach dem urteilen, was darin steht (5:44, 5:48). Es herrscht auch weitgehend Einigkeit, was diese Frage betrifft.

Schaut man 20 Verse weiter, sehen wir in 16:64 folgendes stehen:

 

16:64 Und Wir haben auf dich das Buch nur hinabgesandt, damit du ihnen das klar machst, worüber sie uneinig gewesen sind, und als Rechtleitung und Barmherzigkeit für Leute, die glauben.100

 

Auch hier wird wie in 16:44 das Wort „litubayyina“ benutzt, muss aber in der Bedeutung von „klar übermitteln“ verstanden werden, denn selbst wenn man mit „erklären“ (im Sinne von ausführlich verständlich machen durch den Propheten) übersetzen will, ist dies nur mit der Lesung selbst zu tun. 16:64 lässt nämlich nur eine Möglichkeit zu: Die einzige Bedingung ist die Erklärung oder die Klarmachung von dem, „worüber sie uneinig gewesen sind.“ Dies aber auch eben nur mit der Lesung, denn nur dazu wird sie hinabgesandt. Würde man in diesem Vers mit „erklären“ im Sinne von „zu verstehen machen“ übersetzen, also dass der Prophet eigenmächtig auslegen muss, damit die Lesung verständlich wird, würde das dem Sinn des Verses widersprechen, nämlich dem einzigen Grund, warum die Lesung hinabgesandt wurde. Folgender Vers unterstreicht diese These:

 

69:44–47 Und wenn er sich gegen uns einige der Aussagen selbst in den Mund gelegt hätte, hätten wir ihn gewiss an der Rechten gefasst. Danach hätten wir ihm sicherlich die Schlagader durchschnitten, und niemand von euch hätte ihn davor bewahren können.

 

Aus der Lesung wird ersichtlich, dass der Gesandte damals eine untergeordnete Rolle zu spielen hatte, sofern es die Auslegung und Interpretation der Schrift betraf. So steht in 10:15, dass er die Lesung nicht aus eigenem Antrieb ändern durfte. Wie oft wird der Prophet angehalten, nicht seinen Neigungen zu folgen und nur der Offenbarung zu folgen (2:120, 2:145, 5:48, 7:3, 10:15, 46:9, usw.)? Des Weiteren wird aus 25:33 nochmals deutlich, dass er eine passive Rolle innehatte, da die besten Erläuterungen (aḥsan tafsīr) ihm als Offenbarungen weitergegeben wurden. Wir können also dem Propheten nacheifern, indem wir unsere religiösen Antworten nur in der Offenbarung suchen.

Weiterlesen: Schlüssel zum Verständnis des Koran: Erklären, Offenbarung und Gehorsam

Siehe auch: Die erfundene Religion und die Koranische Religion – Kapitel 27: Was bedeutet „Gehorcht dem Gesandten“?

Cover Schlüssel zum Verständnis des Koran

Schlüssel zum Verständnis des Koran: 5. Verse gleichen Themas zusammenstellen

Die eine Schwäche bei den meisten Gottergebenen, die leider schon seit mehreren Jahrhunderten besteht, ist die Fähigkeit, die Verse ihrem Thema gemäß zusammenzustellen, um die dahinterliegende Bedeutung zu suchen. In der Lesung selbst steht, dass wir eine Zusammenstellung machen sollen – auch bekannt als der Befehl „rattil“:

 

73:2–4 Bleibe die Nacht auf, außer ein wenig: Ihre Hälfte oder verringere davon ein wenig oder füge dazu. Und ordne (rattil – رَتِّل) die Lesung auf ordnende Weise.

 

Wegen der falschen Bedeutung, die in den gängigen Übersetzungen wiedergegeben wurde, ist hier eine Erklärung vonnöten. Rattala (رتّل) steht als arabisches Wort im zweiten Verbstamm, was im Allgemeinen die Verstärkung der Bedeutung aus dem ersten Verbstamm andeutet. Alles in allem geht es bei dieser Wurzel um die „Wohlordnung einer Sache“, nämlich dass sie „regulär“ und „aufgeräumt“ ist. Das Wort „ratila“ kann nicht verwendet werden, wenn etwas irregulär oder nicht geordnet ist oder aus dem Konzept fällt. So wird auf Arabisch eine in einer Linie aufgestellte Reihe an Panzern „ratil dabābāt“ (رتل دبابات) genannt oder auch einfach „ein Konvoi von Panzern“. Wir würden „ratil“ nicht verwenden, wenn die Dinge nicht ähnlich wären. Auch wenn wir zum Beispiel eine Rede vorbereiten und die Rede in ihrem Aufbau ordnen und jemand ausdrücken will, dass der Redner die Zusammenstellung der Rede in ihren Einzelteilen gut strukturiert und die Aussprache klar und deutlich gestaltet hat, so sagt er oder sie einfach „rattala al-kalām“ (رتّل الكلام), weil sowohl der Inhalt als auch die Artikulation eine wohlgeordnete Art und Weise der Rede aufzeigen. Hier sei aber Vorsicht geboten, denn sowohl dieses Verb wie auch das Verbalnomen hierzu, tartīl ( تَرْتِيل ), wurde durch die Jahrhunderte hindurch auf eine einzelne Bedeutung beschränkt, was sich dann auch in die gängigen Übersetzungen eingeschlichen hat. Statt die ursprüngliche Bedeutung der Wurzel als Grundlage zu nehmen, bei der es um diese Wohlordnung geht, wird dieses Wort nur noch im Sinne eines „langsamen Vortragens“ der Lesung verstanden, also nur noch im artikulativen Sinne, was aber den ganzheitlichen Sinn verfehlt.

Aus diesem Grund müssen wir, wenn wir irgendein Thema in seiner Tiefe studieren wollen, alle Verse, die dieses Thema behandeln und über das Buch hinweg gestreut sind, finden und in ihre „Zusammenstellung“ und „Ordnung“ (tartīl) bringen. Nach dieser Zusammenstellung ist der nächste Schritt das „Relativieren der Bedeutung“.

 

73:20 Gewiss, dein Herr weiß, dass du weniger als zwei Drittel der Nacht, die Hälfte oder ein Drittel von ihr aufbleibst, ebenso eine Schar von denjenigen, die mit dir sind. Und Gott bemisst sowohl die Nacht als auch den Tag. Er wusste, dass ihr ihn nicht erfassen werdet; deshalb vergab Er euch. So lest (iqra’ū) von der Lesung, was leicht ist. Er wusste, dass es unter euch Kranke geben wird und andere, die sich auf der Erde durchschlagen, um nach Gottes Gunst zu streben, und andere, die auf dem Weg Gottes kämpfen. So lest von ihm, was leicht ist und haltet den Kontakt aufrecht und steuert zur Verbesserung bei und hinterlasst bei Gott einen schönen Vorschuss. Was ihr für euch selbst an Gutem vorausschickt, werdet ihr bei Gott finden. Es ist besser und ein größerer Lohn. Und bittet Gott um Vergebung. Gewiss, Gott ist vergebend, gnädig.

 

Es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen dem Ablesen eines Textes, einer bloßen Rezitation, und dem gründlichen Lesen, dem studierenden Lesen, dem verstehenden Lesen. Anders gesagt geht es hierbei darum, dass wir das Gelesene mit dem Rest der Lesung in Bezug setzen, dass wir also seine Bedeutung gesamtheitlich relativieren. Beim Vortragen eines Textes, wie etwa wenn eine Person die Nachrichten von einem Blatt Papier oder einem Teleprompter abliest, wird auf Arabisch eher “talā-yatlu” (rezitieren) verwendet und nicht „qara’a“ (lesen). Ein weiteres Beispiel haben wir, wenn eine Lehrerin in Physik ihren Schülern das Konzept der Relativität beibringt, so “taqra’u” (liest sie vor und erklärt dabei) die Bedeutung, ähnlich wie bei einer Vorlesung. Dies lässt sich auch aus den ersten Versen des 96. Kapitels ableiten:

 

96:1–5 Lies im Namen deines Herrn, Der erschuf. Er erschuf den Menschen aus einem Embryo. Lies! Dein Herr ist Der Edelste, Der durch den Stift lehrte. Er lehrte den Menschen, was dieser nicht wusste.

 

Hier wird dem Zuhörer oder Leser nicht einfach das bloße Lesen nahegelegt, sondern auch darauf hingewiesen, dass der Mensch durch den Stift lernt. Durch das flüchtige Lesen eines Buches hab ich es nicht studiert und deshalb nicht tiefgreifend begriffen. Es scheint so zu sein, dass das selbständige Wiederholen durch den Gebrauch des Stiftes das Wissen festigt. Durch den Stift, der heute auch in Form von Rechnern in Einsatz kommt, wurden die Wissensbücher geschrieben, auf denen wir unser Wissen aufbauen und das, was wir noch nicht wussten, mittels desselben Stiftes festhalten, dass es anderen Menschen dienlich sein mag. Dieser Vers legt uns also nahe, „lesen“ als „verstehendes, lernendes Lesen“ aufzufassen. Das Prinzip des ordnenden, verstehenden Lesens führt uns zum wichtigen Schritt, Verse zur selben Thematik auch gleichzeitig zu betrachten. Dies ist das Prinzip des „Das Eine sehen und an das Andere denken.“

 

Beispiel einer Zusammenstellung von Versen über dasselbe Thema – Scheidung

Wenn wir das Thema „Scheidung“ untersuchen, so sehen wir, dass das Thema über drei verschiedene Kapitel verteilt ist (Kapitel 2, 33 und 65), welche erst miteinander kombiniert ein komplettes Bild der Prozeduren und den Gesetzen bzgl. der Scheidung liefern.

 

2:226 Für diejenigen, die sich von ihren Frauen abwenden, ist ein Abwarten von vier Monaten. Und wenden sie sich wieder zu, so ist Gott gewiss vergebend, gnädig.53
2:227 Entschlossen sie sich jedoch zur Scheidung, so ist Gott gewiss hörend, wissend.
2:228 Und die in Scheidung stehenden Frauen selbst haben drei Menstruationszyklen abzuwarten und es ist ihnen nicht erlaubt zu verschweigen, was Gott in ihren Gebärmüttern erschuf, wenn sie an Gott und den letzten Tag zu glauben pflegten. Und ihre Ehemänner sind berechtigter, sie zurückzunehmen, falls sie eine Schlichtung möchten. So gilt für die Frauen Gleiches, wie über ihnen ist, in erkenntlicher Weise, und für die Männer eine Stufe über ihnen.54 Und Gott ist ehrenvoll, weise
2:229 Ist die Scheidung zweimal55, dann entweder in erkenntlicher Weise behalten, oder gutwillig freigeben.56 Und es ist euch nicht erlaubt, etwas von dem zu nehmen, was ihr ihnen zukommen ließt, außer wenn beide fürchten, die Grenzen Gottes nicht aufrecht zu erhalten. Fürchtet ihr aber, dass beide die Grenzen Gottes nicht aufrechterhalten, dann ist für beide kein Verstoß darin, worauf sie verzichtete. Jene sind die Grenzen Gottes, übertretet sie also nicht. Und wer die Grenzen Gottes übertritt – solche sind die Ungerechten
2:230 Ließ er sich dann von ihr scheiden, so ist sie ihm danach nicht erlaubt, bis sie einen anderen Partner heiratet. Lässt dieser sich von ihr scheiden, so ist es kein Verstoß für beide, dass sie zurückkehren, wenn sie meinen, dass sie die Grenzen Gottes aufrechterhalten. Jene sind die Grenzen Gottes, die Er klarstellt für ein Volk, das weiß
2:231 Und wenn ihr euch von den Frauen scheiden ließt und sie ihre Frist vollendeten, dann behaltet sie in erkenntlicher Weise oder gebt sie frei in erkenntlicher Weise. Und behaltet sie nicht aus Schadenfreude, um zu übertreten. Und wer dies tut, tat sich selbst Unrecht. So nehmt euch Gottes Zeichen nicht zum Spott und gedenkt Gottes Gunst an euch und dessen, was Er aus der Schrift und der Weisheit auf euch herabsandte, euch damit zu belehren. Und seid Gottes achtsam und wisst, dass Gott in allen Dingen wissend ist
2:232 Und wenn ihr euch von den Frauen habt scheiden lassen und sie ihre Frist vollendet haben, dann zwängt sie nicht ein, auf dass sie ihre Partner heiraten, wenn sie miteinander in erkenntlicher Weise zufrieden sind. Damit wird der von euch belehrt, der an Gott und den letzten Tag zu glauben pflegte. Dies ist lauterer für euch und reiner. Und Gott weiß, ihr aber wisst nicht

33:49 O ihr, die ihr glaubt! Wenn ihr gläubige Frauen heiratet und euch dann von ihnen scheiden lasst, ehe ihr Geschlechtsverkehr mit ihnen gehabt habt, so besteht keine Wartefrist von ihnen euch gegenüber, die eingehalten werden muss. Darum beschenkt sie und entlasst sie auf geziemende Weise.

65:1 O Prophet! Wenn ihr euch von den Frauen scheidet, beachtet die Wartezeit, die ihr genau berechnen sollt! Fürchtet Gott, euren Herrn! Ihr dürft sie aus ihren Wohnungen nicht ausweisen, es sei denn, sie begehen eine abscheuliche Tat. Das sind die Rechtsbestimmungen Gottes. Wer Gottes Rechtsbestimmungen übertritt, hat sich selbst unrecht getan. Du weißt nicht, vielleicht läßt Gott nach der Scheidung etwas Unerwartetes geschehen.
65:2 Wenn die Wartezeit ihrem Ende zugeht, dürft ihr die Scheidung rückgängig machen und die Frauen in Würde behalten oder euch würdig von ihnen trennen. Ihr sollt zwei rechtschaffene Leute von euch als Zeugen nehmen. Das Zeugnis vor Gott soll genau eingehalten werden. Damit soll der ermahnt werden, der an Gott und an den Jüngsten Tag glaubt. Wer Gott fürchtet, dem schafft Gott aus jeder Not einen Ausweg
65:3 und gewährt Gaben, von wo er sie nicht erwartet. Wer sich auf Gott verläßt, dem genügt Er. Gott setzt Seinen Willen durch. Für alles hat Gott Maß und Zeit bestimmt.
65:4 Für die Frauen, die in der Menopause sind, beträgt die Wartezeit drei Monate, wenn ihr Zweifel hegt. Die Wartezeit für Frauen, die keine Menstruation haben und schwanger sind, endet mit der Entbindung. Wer auf Gott hört, dem erleichtert Gott seine Angelegenheiten.
65:5 Das ist Gottes Vorschrift, die Er euch herabgesandt hat. Wer Gott fürchtet, dem tilgt Gott die schlimmen Taten, und dem erhöht Er den Lohn.
65:6 Laßt sie, euren Möglichkeiten entsprechend, in einem Teil eurer Wohnstätten wohnen. Ihr sollt sie nicht belästigen, um sie in der Wohnstätte zu beengen. Wenn sie schwanger sind, kommt ihr für ihren Unterhalt auf, bis sie gebären. Wenn sie eure Kinder stillen, habt ihr ihnen ihre Aufwendungen zu entrichten. Beratet darüber miteinander auf würdige Weise, wie es Brauch ist. Wenn ihr euch aber nicht einigen könnt, so soll eine andere Frau das Kind stillen.57

 

Hier ist eine Zusammenfassung dieser Regeln für die Scheidung, erhalten durch die Zusammenstellung der ähnlichen Verse:

  • Eine „Abkühlzeit“ von vier Monaten wird benötigt, bevor eine Scheidung überhaupt beginnen kann. (2:226)
  • Wenn immer noch auf die Scheidung bestanden wird, so müssen die Ehefrau und der Ehemann nach dieser Abkühlzeit während der Wartefrist im gleichen Haus zusammenbleiben. (65:1)
  • Wenn sich das Paar versöhnt, lässt sich der Scheidungsprozess widerrufen und die Wartefrist wird unterbrochen. (2:229)
  • Die Scheidung wird automatisch widerrufen, wenn die Partner während der Wartefrist geschlechtlichen Verkehr miteinander hatten. (2:226, 65:1)
  • Die benötigte Wartefrist beträgt drei Menstruationszyklen. Die Wartefrist bei Frauen, die keine Menstruation mehr haben, beträgt drei Monate. Die Zeit bei schwangeren Frauen beträgt solange, bis sie ihr Kind bekommen. (2:228, 65:4)
  • Es kann keine Wartefrist geben (bzw. es wird keine benötigt), wenn noch nie ein geschlechtlicher Kontakt stattfand. Es kann also wieder geheiratet werden. (33:49)
  • Wenn das Paar immer noch wünscht, die Scheidung nach der Wartefrist zu vollziehen, so werden zwei Zeugen gebraucht, um die Prozedur zu vervollständigen. (65:2)
  • Ist dies die dritte Scheidung, so kann das Paar nicht mehr miteinander heiraten, bis die Frau mit einem anderen Mann verheiratet war und sich geschieden hat. (2:230)

Wie in diesem Beispiel der Scheidung gezeigt wird, erbringt der simple Schritt der Untersuchung aller relevanten Verse eine sehr detaillierte Beschreibung der Scheidungsschritte, welche in jeder modernen und zivilen Gesellschaft angewandt werden können. In vielen Ländern hält man sich sogar an die koranischen Gesetze, wenn man die Gesetze des Landes befolgt! Statt diese Methodik anzuwenden haben viele Gelehrte unzählige, nicht mehr zeitgemäße, teils der Lesung extremst widersprechende Gesetze erfunden, die viel Leid hervorgebracht haben, wie etwa Steinigung oder die Strafe für die Apostasie. Es ist Zeit, sich nur noch an Gottes Lesung zu orientieren, denn:

 

 65:3 … Wer sich auf Gott verlässt, dem genügt Er. …

Cover Schlüssel zum Verständnis des Koran

Schlüssel zum Verständnis des Koran: Das „wa“ in der arabischen Sprache

Es gibt noch zahlreiche weitere Feinheiten dieser kunstvollen Sprache. Da ich aber kein Buch über die arabische Sprache schreiben will und auf dem Büchermarkt bereits viele gute Lehrbücher vorhanden sind, werde ich mich hier nur auf die wichtigste Feinheit beschränken, die eine wichtige Bedeutungsänderung nach sich ziehen kann. Erinnern Sie sich an den in diesem Kapitel eingangs zitierten Vers:

 

41:44 Hätten wir sie zu einer fremdsprachigen Lesung gemacht, hätten sie gesagt: „Hätten ihre Verse nicht erklärt werden müssen?“ Fremdsprachig oder arabisch? Sprich: „Sie ist eine Führung und eine Heilung für die Gläubigen.

 

Die rhetorische Frage „Fremdsprachig oder arabisch?“ in Vers  41:44 wird in den meisten Übersetzungen anders wiedergegeben, in etwa wie folgt: „Ein fremdsprachiges Buch für einen Araber?“24

Wörtlich kann der entsprechende Teil auch so verstanden werden: „fremdsprachig und arabisch? “, ءاعجمى وعربى – transliteriert: ʾa-aʿdschamiyyun wa ʿarabiyyun. In diesem Ausdruck sind vereinfacht gesagt vier Wörter, die von den Übersetzern auf unterschiedliche Weise wiedergegeben wurden. Vier Möglichkeiten ergeben sich in der Bedeutung dieses kleinen Satzes:

  • ein Fremder und/oder ein Araber (Zaidans Übersetzung ist hier anzusiedeln)
  • ein Fremder und/oder arabisch
  • fremdsprachig und/oder ein Araber (die meisten Übersetzer entschieden sich hierfür)
  • fremdsprachig und/oder arabisch (unsere Variante)

Wieso habe ich mich für die vierte Variante entschieden? Zu Beginn wird ein Fragepartikel verwendet, welches klarstellt, dass dieser Ausdruck eine Frage und keine Aussage ist. Die Frage kann auch rhetorischer Natur sein, um auf etwas aufmerksam zu machen. In dem Sinne könnte der Ausdruck auch rhetorisch als „Ob fremdsprachig oder arabisch?“ verstanden werden.

Es ist zwar korrekt, dass ʿarabī „ein Araber“ und ʾaʿdschamī „ein Fremder“ bedeuten kann, jedoch fordere ich Sie auf die von unserem Hanif-Team wiedergegebene Bedeutung mit den anderen Übersetzungen zu vergleichen, welche logisch gesehen nicht ganz einwandfrei sind. Wenn der Einwand der Araber „Ein fremdsprachiges Buch für einen Araber?“ als folgerichtig angesehen wird, so muss auch eingeräumt werden, dass der Einwand von Milliarden von Nichtarabern, also Fremden, der dann „ein arabisches Buch für einen Fremden?“ lautete, ebenfalls berechtigt ist. Man müsste hierzu lediglich die Wortreihenfolge ändern: aʿarabīyun wa aʿdschamīyun. Bei der gängigen Übersetzung wird dieses Recht des Einspruches den Nichtarabern geradezu gegeben.

Was will der Vers aussagen? Wenn Sie diese Frage in Gedanken halten und den jeweiligen Vers einige Male aufmerksam lesen, so werden Sie treffender in ihrer Auswahl der richtigen Übersetzung sein. Sprachlich gesehen gibt es zwei Punkte, die ich genauer erläutern muss:

Erstens, in der Lesung wird für die Araber das Wort „aʿrāb“ verwendet, welches in der Mehrzahlform steht (vgl. 9:97–98,101,120; 33:20; 48:11,16; 49:14; anders als im heutigen Standardarabisch nicht ʿarab). Für Nichtaraber hingegen wird die Mehrzahl des Wortes aʿdscham verwendet, also „aʿdschamīn“ (vgl. 26:198). Die Wörter aʿdschamī und ʿarabī werden hingegen für Sprachbezeichnungen verwendet. Der Buchstabe “yā” (ي – ī), welcher an das Ende der Wörter ʿarab und aʿdscham hinzugefügt wird, setzt die Bedeutung dieser Wörter auf „arabisch“ und „adschemisch“. Wenn wir nämlich alle Verse betrachten, in denen das Wort ʿarabī vorkommt, so werden Sie sehen, dass alle auf die Bedeutung „arabisch“ hinauslaufen (12:2; 13:37; 16:103; 30:113; 26:195; 39:28; 41:3, 44; 43:3; 46:12). In gleicher Weise verhält es sich mit dem Wort aʿdschamī, welches die Bedeutung „fremdsprachig“ erhält (16:103; 41:44). Durch den konsistenten Gebrauch dieser Worte als eine Beschreibung der verwendeten Sprache (arabisch, fremdsprachig) außerhalb von 41:44 ergibt es wenig Sinn, die Bedeutung in 41:44 als „ein Fremder und ein Araber“ festzulegen.

Wenn wir den Tunnelblick verlassen und den gesamten Vers im Kontext seiner umliegenden Verse lesen, wird es noch deutlicher, weshalb unsere Variante passender ist:

 

41:43 Es wird dir nur das gesagt, was schon den Gesandten vor dir gesagt wurde. Dein Herr ist wahrlich voll der Vergebung und verhängt (auch) schmerzhafte Strafe.25

 

Im Vers davor geht es also um die Botschaften, welche den vorherigen Gesandten auch schon mitgeteilt wurden. In Anbetracht der Tatsache, dass diese Botschaft durch die Gesandten stets in der Sprache des Volkes mitgeteilt wurde (14:4), wird es klar, dass es sich hierbei um den Inhalt der Botschaft und nicht die eingesetzte Sprache handelt. Denn gerade dieser Inhalt der Lesung wird als Rechtleitung und Heilung beschrieben. Es wäre verkehrt anzunehmen, dass Gott nur jene Menschen rechtleitet, die Arabisch beherrschen. In der traditionellen Vorstellung von Paradies und Hölle wurde nicht selten die Ansicht geäußert, dass die Sprache im Garten Eden das Arabisch der Lesung sei! Dies hat natürlich nichts mit der Botschaft der Lesung gemein, welche gerade betont, dass die Sprache keine Rolle spielt.

Betrachten wir den nächsten Vers, so wird die Angelegenheit weiter verdeutlicht:

 

41:45 Und Wir gaben bereits Musa die Schrift, doch wurde man darüber uneinig. Und wenn es nicht ein früher ergangenes Wort von deinem Herrn gegeben hätte, so wäre zwischen ihnen wahrlich entschieden worden. Und sie sind darüber fürwahr in starkem Zweifel.26

 

Wenn wir also berücksichtigen, dass die Sprache von Moses die Sprache seines Volkes war, ihnen die Schrift in ihrer Sprache mitgegeben wurde, so wird es hier auch klar, dass es der Inhalt ist, um den es sich hier handelt und weshalb die Leute von Moses darüber uneinig waren.

Zweitens haben Sie sich bestimmt gefragt, wieso ich in den vier Varianten „und/oder“ geschrieben habe und somit eigentlich acht Varianten gemeint sein könnten. Dazu ist es wichtig zu wissen, wie das Wort „wa“ (و – allgemeine Bedeutung „und“) in der klassisch-arabischen Sprache verwendet wird, denn die Lesung zeigt uns deutlich auf, dass dieses Wort, das aus nur einem Buchstaben besteht, je nach Anwendung zahlreiche Bedeutungen annehmen kann und so der Interpretation eine gewisse Vielfalt einräumt.

Das Bindewort „und“ hat auch auf Deutsch mehrere Bedeutungen, die das arabische „wa“ auch umfasst:

 

1. Logische Verknüpfung zweier Aussagen:

Es ist Nacht und es regnet.

Hier werden zwei verschiedene Dinge angesprochen. Die Nacht ist kein Regen und der Regen ist zeitlich nicht auf die Nacht eingeschränkt. Ein Beispielvers:

 

10:5 Er ist es, der die Sonne zur Leuchte und den Mond zum Licht gemacht und ihm Stationen zugemessen hat, damit ihr die Zahl der Jahre und die Zeitrechnung wißt.27

Transliteration: huwa allaḏī dschaʿala asch-schamsa ḍiyā’an wa al-qamara nūran wa qaddarahu manāzila litaʿlamū ʿadada as-sinīna wa al-hisāba …

 

2. Zusammenfassung zu Gruppen in Verbindung mit Substantiven:

Cem und Peter trugen den Sack voller Bonbons hinunter.

Hierbei ist es ersichtlich, dass beide zu einer Einheit zusammengefasst werden, sie beide zusammen haben dieselbe Sache erledigt. Es war nicht so, dass jeweils Cem einen Sack trug und Peter einen weiteren. Ein Beispielvers hierzu:

 

33:36 Weder hat ein Gläubiger noch eine Gläubige, wenn Gott und Sein Gesandter eine Angelegenheit entschieden haben, die Entscheidungsmöglichkeit in ihrer Angelegenheit. Und wer sich Gott und Seinem Gesandten widersetzt, der befindet sich ja in klarem Irrtum.

 

Hier werden Gott und Sein Gesandter, also der Prophet Mohammed, als eine Einheit zusammengefasst erwähnt. Dies liegt darin begründet, dass der Gesandte Gottes naturgemäß seiner Pflicht nachzukommen und die Entscheidungen Gottes eins zu eins zu verkünden hat. Da der Gesandte die Entscheidungen Gottes auch umsetzt, sind es auch seine Entscheidungen als Gesandter, ob er nun damit als Mensch einverstanden wäre oder nicht. Zu diesem Punkt werde ich später im zweiten Teil des Buches unter „die Aufgaben des Gesandten“ noch einmal näher eingehen.

 

3. Angabe einer zeitlichen Reihenfolge, wonach die Stellung bedeutungsrelevant ist:

Man kann dies tun, wenn man alt wird und Zeit hat.

Mit diesem Satz wird ausgedrückt, dass man Zeit haben wird, nachdem man alt wurde. Ein Beispiel hierzu aus der Lesung:

 

79:29 und ließ seine Nacht verdunkeln und seine Morgendämmerung hervorkommen

Transliteration: wa ʾaghṭascha laylahā wa ʾachradscha ḍuḥāhā

 

Zuerst wird das Licht dem Tag entzogen und erst danach kann das Licht der Morgendämmerung wieder hervortreten.

Weiterer Beispielvers:

 

4:1 O ihr Menschen, seid eures Herrn achtsam, der euch aus einer einzigen Seele erschuf und aus ihm ihren Partner erschuf und aus ihnen beiden viele Männer und Frauen ausbreiten ließ. …

Transliteration: yā ʾayyuhā an-nāsu ittaqū rabbakumu al-laḏī chalaqakum min nafsin wāḥidatin wa chalaqa minhā zawdschahā wa baṯṯa minhumā ridschālan kaṯīran wa nisāʾan …

 

Die Erschaffung des Menschen geschah zuerst aus einer einzigen Seele (nafs), und nicht aus einem einzigen Menschen heraus, wonach ihr Partner erschaffen wurde. Die Menschen haben sich im Anschluss dann aus diesen durch Fortpflanzung vermehrt und sich auf der Erde ausgebreitet – gemäß den von Gott auferlegten Regeln, die wir heute als Evolutionstheorie erforschen. Es sollte also hierbei deutlich angemerkt sein, dass aus dieser einen Seele zur selben Zeit auch mehrere Menschen erschaffen sein können und der Partner allgemein das „andere Geschlecht“ beschreibt und auch mehrere Menschen umfassen kann.

Dies alles kann also auch mit dem arabischen „und“ ausgedrückt werden. Wenn wir jedoch „wa“ bloß als „und“ verstehen, schränken wir die Bedeutungsvielfalt des arabischen Wortes ein, wonach das „wa“ weitere Funktionen erfüllen kann. Dies ist eine wichtige Angelegenheit, denn selbst gewisse Araber und solche, die Arabisch sprechen können, vergessen diesen Umstand und kommen dann im Verstehen der Lesung zu falschen Schlüssen.

Weitere Bedeutungen:

4. Anzeige für den Anfang eines Satzes ohne weitere große Bedeutung. Beispielvers:

 

74:3 Und deinen Herrn preise hoch
74:3 Preise deinen Herrn!28

Transliteration: wa rabbaka fakabbir29

 

Hiervon gibt es eine schier unzählige Menge an Beispielen in der Lesung.

 

5. Ausdruck eines Schwurs, bekanntestes Beispiel wäre „Wallahi“ (bei Gott!). Beispielvers:

 

100:1 Bei denen, die schnaubend laufen.

Transliteration: wa al-ʿādiyāti ḍabḥan

 

6. Gebrauch im explikativen („erklärenden“) und einschließenden Sinne. Beispielvers:

 

33:7 Und (damals) als wir von den Propheten ihre Verpflichtung entgegennahmen, und von dir, und von Noah, Abraham, Moses und Jesus, dem Sohn der Maria! Wir nahmen von ihnen eine feste Verpflichtung entgegen.30

Transliteration: wa ʾiḏ ʾachaḏnā min an-nabīyīna mīṯāqahum wa minka wa min nūḥin wa ʾibrāhīma wa mūsá wa ʾīsá ibni maryama wa ʾachaḏnā minhum mīthāqan ghalīẓan

 

Hier bedeutet „min an-nabīyīna“ „von den Propheten“ und „wa minka“ „und von dir“. Obwohl derjenige, der mit „dir“ gemeint ist, auch ein Prophet ist, und obwohl auch Noah, Abraham, Jesus, der Sohn der Marias, und Moses – obwohl alle Propheten sind, werden diese mit „wa“ verknüpft.

Ein weiterer Beispielvers:

 

3:102 O ihr, die ihr glaubt, fürchtet Gott, wie Er richtig gefürchtet werden soll, und sterbt nicht anders denn als Gottergebene.31

Transliteration: yā ʾayyuhā al-laḏīna ʾāmanū ittaqū allaha ḥaqqa tuqātihi wa lā tamūtunna ʾillā wa ʾantum muslimūna

 

Viele Kommentatoren, unter ihnen beispielsweise auch Ibn Kaṯīr, verstehen dies als zwei separate Aufforderungen und verbinden die beiden Bedeutungen nicht. Doch bei genauerer Betrachtung entpuppt sich das „wa“ in diesem Kontext als die Einleitung eines Satzes, welches die genaue Erklärung und Klarstellung liefert, wie man richtige Ehrfurcht vor Gott empfinden kann. Gott zu fürchten, wie Er richtig gefürchtet werden soll, bedeutet sein eigenes Leben in der Ergebung (Islam) zu Gott im Wissen zu gestalten, dass man jederzeit sterben könnte. Gottes achtsam zu sein (taqwá üben) bedeutet auch zu verstehen, in welch einem schlimmen Zustand ein Gestorbener ist, der als jemand starb, der Unrecht beging und von Gott verurteilt wird. Ein in dieser Hinsicht Achtsamer (muttaqī) weiß um die Selbstillusion, seine moralischen Pflichten vor sich herzuschieben, indem man meint, man werde Gott noch genug anbeten und Rechtschaffenes tun, wenn man alt wird und Zeit hat. Der Prophet Josef dient uns hier als Beispiel (12:101), der sich nicht durch weltliche Errungenschaften ablenken ließ.

Wem dieses Beispiel zu unklar erscheint, der schaue sich folgendes Beispiel genauer an:

 

55:68 In ihnen gibt es Obst: Datteln und Granatäpfel.

Transliteration: fīhimā fākihatun wa nachlun wa rummānun

 

Der Granatapfel (ihre rote Frucht) wie auch die Dattel sind Obstsorten. Das erste „wa“ steht hier demzufolge im explikativen Sinne, wohingegen das zweite „wa“ als Aufzählung verstanden werden kann. Noch ein Beispiel:

 

2:238 Wacht über die Gebete und das mittlere Gebet, und steht demütig vor Allah.32

Transliteration: ḥāfiẓū ʿalá aṣ-ṣalawāti wa aṣ-ṣalāti alwuṣṭá wa qūmū lillahi qānitīna

 

Es ist offensichtlich, dass das „mittlere Gebet“ (Mittagsgebet) auch ein Teil der Gebete ist. Weitere Beispiele für diese explikative oder auch einschließende Funktion des „wa“ lassen sich in 8:60 (einsatzbereite Pferde sind auch eine Kraft) oder in 5:15 (das Buch ist ein Teil des Lichts33) finden.

 

7. Empathische Funktion, um etwas besonders hervorzuheben:

Dasselbe „wa“ aus 2:238 kann nebst einer erklärenden Funktion auch eine empathische Funktion innehaben, wonach das „wa“ im Sinne von „besonders“ verwendet wird.34

Diese empathische Funktion ist eng verknüpft mit der explikativen Funktion. Weiteres Beispiel:

 

70:4 Die Engel und der Geist steigen zu ihm auf an einem Tag, dessen Maß fünfzigtausend Jahre ist.

 

Mit „Geist“ ist hier traditionell der Engel Gabriel gemeint und kein weiteres Wesen nebst den Engeln. Gemäß dem aschʿarītischen Philosophen Fachr ad-Dīn ar-Rāzī (gest. 1209) wird der „Geist“ deshalb separat erwähnt, um auf seine Größe, seinen Wert bei Gott und seinen besonderen Stand bei den Engeln hinzuweisen. In diesem Sinne können dann auch die Verse 2:97–98 verstanden werden.

 

8. Gebrauch in einer Aufzählung. Wir können den Beispielvers von vorhin verwenden:

 

33:7 Und (damals) als wir von den Propheten ihre Verpflichtung entgegennahmen, und von dir, und von Noah, Abraham, Moses und Jesus, dem Sohn der Maria! Wir nahmen von ihnen eine feste Verpflichtung entgegen.

Transliteration: … wa min nūḥin wa ʾibrāhīma wa mūsá wa ʾīsá …

 

Das arabische „wa“ verschwindet im Deutschen in einer Aufzählung im Kommazeichen außer vor dem zweiten und letzten Wort. Natürlich könnte man hier jedes einzelne „und“ ausschreiben, jedoch störte dies den Lesefluss erheblich und widerspräche den gängigen Regeln einer Aufzählung in der deutschen Sprache.

 

9. Im Sinne von „oder“, obwohl die arabische Sprache auch eigene Wörter für „oder“ hat, wie etwa am (أم – meist in einer Frage) oder aw (أو – meist in einer Gegenüberstellung), welche beide auch in der Lesung auftauchen (z.B. in 2:6, 2:19). Beispiel für das „wa“ als „oder“:

 

73:20 Gewiss, dein Herr weiß, dass du weniger als zwei Drittel der Nacht oder die Hälfte oder ein Drittel von ihr aufbleibst …

Transliteration: ʾinna rabbaka yaʿlamu ʾannaka taqūmu ʾadná min ṯuluṯayi al-layli wa niṣfahu wa ṯuluṯahu

 

Es ist unmöglich, gleichzeitig zwei Drittel, die Hälfte und ein Drittel der Nacht aufzubleiben, weil man ansonsten davon ausgehen müsste, dass zwei Drittel gleichviel sind wie die Hälfte und dieses wiederum gleichviel wie ein Drittel der Nacht, was aber widersprüchlich ist. Deshalb wird hier das wa definitiv als Gegenüberstellung unterschiedlicher Einheiten aus demselben Bereich verwendet. Nächstes Beispiel:

 

2:177 Aufrichtigkeit ist nicht, wenn ihr eure Gesichter in Richtung des Ostens oder des Westens wendet, sondern Aufrichtigkeit ist, …

Transliteration: laysa al-birra ʾan tuwallū wudschūhakum qibala al-maschriqi wa al-maghrib

 

Es ist auch offensichtlich, dass man sich nicht gleichzeitig in Richtung des Ostens und des Westens wenden kann.35

Weitere Beispiele ließen sich auch hier finden. Da in 41:44 kontextuell zwei Gegensätze gegenübergestellt werden  (fremdsprachig – arabisch), ist die Wahl von „oder“ an dieser Stelle am passendsten.

 

10. Im Sinne von „aber“, obwohl auch hier ein eigenes „aber“ vorhanden ist, wie in lākin (لكن – z.B. in 2:12) oder in ammā (أما – z.B. in 80:8).36 Ein Beispielvers:

 

2:70 Sie sagten: Rufe deinen Herrn für uns, um uns darüber aufzuklären, wie sie ist, da uns die Kühe gleich erscheinen, aber dann sind wir, so Gott wollte, rechtgeleitet.

Transliteration: qālū adʿu lanā rabbaka yubayyin lanā mā hiya ʾinna al-baqara taschābaha ʿalaynā wa ʾinnā ʾin schāʾa allahu lamuhtadūna

 

Das „aber“ in diesem Vers ist ebenso in den Übersetzungen von Khoury, Azhar, Paret und Bubenheim (hier als „doch“) zu finden.

Zusammengefasst haben wir also mindestens folgende Anwendungsmöglichkeiten:

  1. Logische Verknüpfung
  2. Zusammenfassung zu einer Gruppe oder Einheit
  3. Angabe einer zeitlichen Abfolge
  4. Am Anfang eines Satzes
  5. Schwurausdruck
  6. Explikative Funktion
  7. Empathische Funktion
  8. Aufzählung
  9. Im Sinne von „oder“
  10. Im Sinne von „aber“

Im Normalfall ist die Bedeutung einfach „und“ und wird im Alltag auch so gebraucht. Doch es ist nicht immer leicht, die Bedeutung von „wa“ genau zu bestimmen. Manchmal passen auch mehrere Varianten. Meist wird eine kontextuelle Analyse Aufschluss über die genaueren Bedeutungsmöglichkeiten geben. Manchmal muss man sich die Bedeutung aus dem Gesamtkontext der Lesung erschließen. Denn viele der heutigen Gottergebenen machen immer noch den Fehler, ihre Meinung, ihre Ideen und ihre Ansichten in den Versen der Lesung bestätigt finden zu wollen und zitieren dann unvorsichtig Verse, die scheinbar das Gesagte oder das Geschriebene bestätigen. Stattdessen sollte man zu verstehen versuchen, was die Lesung genau aussagen will und einzelne Verse nicht aus dem Gesamtkontext der Lesung herausreißen. Auch wenn es sich hierbei „nur“ um die Bedeutung eines einzelnen arabischen Buchstabens dreht.

 

Quellen für die Wortanalyse

Wir haben nun bereits einiges über die arabische Sprache kennengelernt. Für die Studentin oder den Studenten der Lesung werden nebst der Lesung selbst die Sprache und ihre Wörterbücher auch eine entscheidende Rolle spielen, falls diese Person es sich zur Aufgabe machen will, tiefer in die Bedeutungen der Worte einzutauchen. Die arabischen Wörterbücher sind, anders als in der deutschen Sprache, nicht nach den Anfangsbuchstaben der Worte geordnet, sondern nach den bereits erwähnten Wortstämmen, den Wurzeln (dschizr), welche den jeweiligen Worten zugrunde liegen. Für den Anfänger ist es natürlich schwieriger, die Wurzeln selbständig zu erkennen. Durch entsprechende Hilfsmittel37 oder mit der Hilfe einer der arabischen Sprache mächtigen Person können Sie schnell herausfinden, um welche Wurzel es sich in einem bestimmten Wort handelt.

Doch auch hier sei Vorsicht geboten, denn wenn die Vokalisation des arabischen Textes entfernt wird, können sich Mehrdeutigkeiten einschleichen, die genau untersucht werden müssen. Ein Beispiel ist das Wort al-miḥāl (المِحال) in 13:13, was mit einem Kasra (i) vokalisiert wird und von der Wurzel m-ḥ-l (م ح ل) abstammt und in etwa „Blockaden aufstellen“ oder „eine List planen“ bedeutet. Dies wird dann beispielsweise von Paret so übertragen: „… Dabei streiten sie (d.h. die Ungläubigen) über Gott, wo er (sich doch so gewaltig zeigt und) voller Tücke ist (wa-huwa schadiedu l-mihaali).

Entvokalisiert kann man durch Abändern des Kasra zu einem Ḍamma (u) das Wort al-muḥāl (المُحال) bilden, was aber von der Wurzel ḥ-w-l (ح و ل) abstammt und in etwa das „Undenkbare, Unmögliche, Unerreichbare“ beschreibt. Beide Wörter tragen in sich die Bedeutung einer Barrikade oder Blockade38, weshalb unsere Übersetzung dieses Wortes als Folge der kontextuellen Analyse, in der die Souveränität und absolute Position Gottes dargestellt wird39, wie folgt lautet:

 

13:13 Und der Donner preist ihn mit seinem Lob, auch die Engel aus Furcht vor Ihm. Und Er sendet die Donnerschläge und trifft damit, wen Er will. Und sie streiten noch über Gott, wo Er der völlig Absolute ist.

 

Es gibt viele gute Wörterbücher, an die man sich wenden kann bei Bedarf. In Anhang C werden die wichtigsten unter ihnen aufgelistet.

Zu Sura 33, Vers 33: Frauen zuhause einsperren?

Frieden sei mit Ihnen, liebe LeserInnen,

eine Schwester fragte nach Vers 33:33 nach, ob man daraus tatsächlich ableiten könne, dass gottergebene Frauen zuhause bleiben müssen – oder anders formuliert: dürfen Männer ihre Frauen zuhause einsperren, weil sie laut Koran zuhause bleiben müssen? Eine gängige Übersetzung dieses Verses lautet wie folgt:

 

33:33 Und bleibt in euren Häusern und prunkt nicht wie in den Zeiten der Unwissenheit und verrichtet das Gebet und entrichtet die Zakah und gehorcht Gott und Seinem Gesandten. Gott will nur jegliches Übel von euch verschwinden lassen, ihr Leute des Hauses, und euch stets in vollkommener Weise rein halten.

 

Zu diesem Vers gibt es zwei wichtige Umstände anzumerken. Erstens, dass hier lediglich die Frauen des Propheten gemeint sind (siehe Vers 33:32). Die Aussagen können deswegen nicht verallgemeinert werden. Das Problem besteht jedoch darin, dass diese Frauen, von denen die Rede ist, als Vorbilder für eine Gottergebene (arabisch: muslīma) gelten und diese Verse deshalb je nach Absicht und kulturell-traditioneller Prägung zu bestimmten Zwecken missbraucht werden.

Zweitens, und dies ist der wichtige Punkt, kann das erste Verb im Vers auf zwei Arten gelesen werden (an den arabischen Buchstaben wird hierbei nichts geändert), abhängig davon, ob man den Buchstaben „waw“ als Teil des Verbes sieht (Wurzel waw-qaf-ra) oder nicht (Wurzel qaf-ra-ra). Die arabische Sprache ist im Wesentlichen eine sogenannte Konsonantensprache, welche auf Wurzeln aufgebaut ist. Diese Wurzeln stützen sich in den meisten der Fälle auf drei, in wenigen Fällen auf vier Konsonantenbuchstaben, aus denen die Verben, die Nomen und Adjektive abgeleitet werden.

Die traditionelle Lesung „wa qarna“ (und bleibt ihr; Imperativ des femininen Plurals), die aus diesem Wort die Wurzel q-r-r herausliest und was ansiedeln, auf dem Boden sitzen, absitzen bedeuten kann, ist in den gängigen Übersetzungen zu finden (wie eingangs zitiert). Wir wissen bereits aus der Übersetzung des Verses 34 aus Sura 4, dass die Übersetzer nicht sehr vorsichtig sind in ihren Übersetzungen und noch mit patriarchalischen Denkmustern an den Koran herangehen, also mit ideologischen Vorurteilen.

Die gängige Übersetzung des zu Beginn zitierten Verses wird dahingehend missbraucht, um die Frauen zuhause einzusperren oder um zumindest eine patriarchalische, nicht islamische Sichtweise in der eigenen Kultur zu rechtfertigen. Andere missbrauchte Verse wie 4:34 tragen dazu bei. Etliche unsinnige Gesetze aus den Aḥādīṯ (sekundäre, im Koran nicht vorkommende Literatur; fälschlicherweise dem Propheten Mohammed zugeschrieben und untergejubelt) stärken diese Sicht, beispielsweise indem eine Frau alleine nicht mehr als 80 Kilometer reisen dürfe ohne einen „zulässigen männlichen Begleiter“, sei es auch nur der fünfjährige kleine Cousin. Auch hierzu gibt es dann noch etliche Variationen.

Nun was ist denn die zweite Lesart?

Meine bevorzugte Lesevariante wäre, weil sie dem Missbrauch keinerlei Raum bietet: wa qirna, abgeleitet von (waqara-yaqiru; وَقَرَ-يَقِرُ), was von der Wurzel Waw-Qaf-Ra abstammt und in etwa soviel bedeutet wie: handelt/seid ehrwürdig, respektabel, ernst, achtsam. Siehe auch hier für den Gebrauch im heutigen Arabisch. Diese Lesung wäre erst dann nicht korrekt, stünde „qararna“ (Wurzel Qaf-Ra-Ra) im Vers statt „qarna“. Die Verse dieser Wurzel q-r-r:

2:36 2:84 3:81 3:81 6:67 6:98 7:24 7:143 11:6 14:26 14:29 19:26 20:40 22:5 23:13 23:50 25:24 25:66 25:74 25:76 27:40 27:44 27:61 28:9 28:13 32:17 33:51 36:38 38:60 40:39 40:64 54:3 54:38 75:12 76:15 76:16 77:21

Diese Wurzel wird im Allgemeinen dazu gebraucht, um etwas oder jemandem „Gewicht zu verleihen“. Einige Araber oder Personen, die der arabischen Sprache mächtig sind, mögen hier einwenden, dass diese Wurzel auch im Sinne von „bleiben“ gebraucht werden kann und wird. Und tatsächlich, im symbolischen Sinne „dem Ort Schwere zu verleihen“ bedeutet nichts anderes als „sitzen, bleiben“. Für die Bedeutung des „bleiben“ werden im Koran aber bereits andere Wurzeln verwendet, weshalb diese Wurzel primär nicht als „bleiben“ verstanden werden sollte. Hier die entsprechenden Wurzeln:

– Wurzel qaf-ra-ra (قرر), auch im Sinne von „entscheiden“, Beispielvers:

40:39 O mein Volk, dieses irdische Leben ist nur Nutznießung. Das Jenseits aber ist die Wohnstätte zum Bleiben. (دَارُ ٱلْقَرَارِ – dāru-l-qarār)

 

– Wurzel qaf-ʾAyn-dal (قعد), Beispielvers:

9:46 Wenn sie hätten hinausziehen wollen, hätten sie fürwahr Vorbereitungen dazu getroffen. Aber Allah war ihr Ausziehen zuwider, und so hielt Er sie zurück. Und es wurde gesagt: „So bleibt (daheim) mit denjenigen, die (daheim) sitzen bleiben!“ (اقْعُدُوا مَعَ الْقَاعِدِينَ – aqʾudū maʾa al-qāʾidīn)

 

– Wurzel ba-qaf-ya (بقى), auch im Sinne von „übrig bleiben“, Beispielvers:

43:28 Und er machte es zu einem bleibenden (bâqiyyatan – بَاقِيَةًۭ) Wort unter seinen Nachkommen, damit sie umkehren.

 

Aus diesem Grund ist die Wurzel w-q-r in einem anderen Sinne zu verstehen. Etwas Gewicht zu verleihen bedeutet auch eine Wichtigkeit beizumessen, jemandem Ehre erweisen oder eine Angelegenheit nicht einfach verfliegen zu lassen. Gewicht zu verleihen bedeutet auch Ruhe und Gelassenheit. Und genau in diesem Sinne wird diese Wurzel in den berühmtesten Wörterbüchern der arabischen Sprache beschrieben. Für jene unter den Leserinnen und Lesern, die kein Arabisch, aber dafür Englisch beherrschen, sei das Lexikon von E.W. Lane empfohlen, Seiten 2960-2961. Beispielverse, in denen diese Wurzel w-q-r vorkommt:

 

48:9 Damit ihr an Gott und seinen Gesandten glaubt, ihm beisteht und ihn ehrt (تُوَقِّرُوهُ – tuwaqqirūhu), und (damit ihr) Ihn preist morgens und abends.

71:13 Was ist mit euch, dass ihr Gott kein Gewicht beimesst? (وَقَارًا – waqāran)

 

Der Vollständigkeit halber liste ich hier noch die komplette Liste an Versreferenzen zu dieser Wurzel auf: 6:25 17:46 18:57 31:7 41:5 41:44 48:9 51:2 71:13. Also würde die korrekte, sinngemäße Übersetzung dann lauten:

33:33 Und seid ehrwürdig in euren Häusern und prunkt nicht wie in den Zeiten der Unwissenheit und verrichtet den Kontakt und steuert zur Verbesserung bei und gehorcht Gott und Seinem Gesandten. Gott will nur jegliches Übel von euch entfernen, ihr Leute des Hauses, und euch in Reinheit reinigen.

 

Mittels dieser Übersetzung wird der Kontext auch um einiges klarer und die Aufforderung ergibt mehr Sinn, da es sich hierbei um Haltungen und Lebensweisen handelt.

Leqaa Hussein, Teacher, Jordan - World Bank Photo Collection

Was ist gleich? Foto: Dana Smillie, CC BY-NC-ND 2.0

Es ist auch bekannt, dass die Frauen des Propheten ein eigenes Einkommen und Vermögen hatten (man denke dabei zum Beispiel an Khadija). Es ist offensichtlich, dass diese Lesevariante eher dem Wesen der Gottergebenheit (arabisch: Islām) entspricht, wonach Frauen allgemein positiv bewertet und ihnen Rechte und Verantwortungen gleich wie dem Manne erteilt werden, dass ihnen gar Königspositionen (Königin von Saba; siehe 27:23,44) zugesprochen werden können und die Königin von Saba gerecht, mächtig und am Ende rechtgeleitet war. Und dies, obwohl der Koran das Königstum als etwas grundsätzlich Negatives (18:79, 27:34) beschreibt. Wie würde Gott also wollen können, dass Frauen zuhause eingesperrt bleiben und demzufolge keine gesellschaftlichen Aufgaben (z.B. in der Politik) übernehmen können sollen, wenn Er als der Allwissende gerade eine Frau als positives Beispiel anführt, wo die Männer dafür gesorgt haben, das Bild des Königs zu vermasseln?

Im Gegensatz dazu haben wir die Ahadith, welche meinen, dass keine Nation Erfolg hätte, wäre ihr Anführer eine Frau. (Sahih Bukhary Band 9, Buch 88, Nr. 219)

Noch einmal wird ersichtlich, welch erhebliche Kluft zwischen den Ahadith, die leider fälschlicherweise als Teil der Gottergebenheit (Islam) wahrgenommen werden, und dem Koran besteht, der eine ethische Hochreligion beschreibt, die friedensstiftend zwischen den Völkern wirkt bei angemessener Ausübung und Auslebung der im Koran vollständig erhaltenen und beschriebenen Religion.

 

49:13 Oh ihr Menschen, Wir haben euch aus Mann und Frau erschaffen und zu Völkern und Stämmen gemacht, auf dass ihr einander kennenlernen möget. Wahrlich, vor Gott ist von euch der Angesehenste, welcher der Rechtschaffenste ist. Wahrlich, Gott ist allwissend, allkundig.

Schlüssel zum Verständnis des Koran: Wieso wurde der Koran auf Arabisch offenbart?

In diesem Kapitel werden wir die arabische Sprache in ihrem rudimentären Aufbau ein wenig näher kennenlernen und der Frage nachgehen, weshalb die Lesung auf Arabisch offenbart wurde. Ebenso werden wir die Grundlagen für die Hermeneutik erarbeiten und Beispiele hierfür vorführen.

 

Die arabische Sprache

Ich glaube, dass wenn die Lesung vernünftig in andere Sprachen übersetzt wird, sie ihre Eigenschaft der Heilung und der Rechtleitung nicht verliert. Nichtsdestotrotz kann man die Sprache nicht gänzlich ignorieren.

 

Glaube und Methodik vor Kenntnis der Sprache

41:44 Hätten wir sie zu einer fremdsprachigen Lesung gemacht, hätten sie gesagt: „Hätten ihre Verse nicht ausgeführt werden müssen?“ Fremdsprachig oder arabisch? Sage: „Sie ist eine Führung und eine Heilung für die Gläubigen.“ Die Ableugner aber sind schwerhörig in ihren Ohren und sie (die Lesung) ist für sie unzugänglich. Sie sind so, als werde ihnen etwas aus großer Entfernung zugerufen.

 

In irgendeiner menschlichen Sprache musste die Lesung offenbart werden, sonst wäre sie nicht verständlich für uns. Die Lesung ist aber anders als andere Bücher. Die erste Voraussetzung, um sie zu verstehen, ist eine rechte und ehrliche Absicht. Sei es sogar der beste Arabischkenner der Welt, wenn diese Absicht nicht gegeben ist, kann die Lesung nicht recht verstanden werden. Den ehrlichen, aufrichtigen Gläubigen wird, gleich welche Muttersprache sie auch haben mögen, der Zugang zur Lesung versprochen (41:44), da sie als Rechtleitung und Heilung für die Gläubigen beschrieben wird. Darüber hinaus werden in der Lesung die Menschen nicht mit „O ihr Arabischkenner“ angesprochen, sondern mit “O ihr Gläubigen”. Die Wahrheiten der Lesung sind nicht eingeschränkt durch die Mängel der menschlichen Sprachen. Der Lehrer ist Gott persönlich (55:2, 75:19). Den Ableugnern jedoch wird kein tieferer Zugang gewährt, selbst wenn sie Professoren und Experten der arabischen Sprache wären:

 

17:45 Und wenn du die Lesung liest, machen wir zwischen dir und denjenigen, die nicht an das Letzte10 glauben, einen unsichtbaren Vorhang.

18:57 Wer ist ungerechter als jener, welcher an die Zeichen seines Herrn erinnert wurde und sich dann von ihnen abwendete und vergaß, was seine Hände vorausschickten. Gewiss, Wir legten über ihre Herzen Hüllen, sodass sie sie (die Lesung) nicht begreifen, und in ihre Ohren Schwerhörigkeit; und wenn du sie zur Rechtleitung rufst, dann werden sie sich niemals rechtleiten lassen.

56:77–79 Dass dies wahrlich eine edle Lesung ist in einer geschützten Schrift. Keiner kann sie berühren, außer den Reinen.11

 

Arabisch zu können und zu beherrschen ist nicht gleichbedeutend mit einer automatisch gewonnenen Einsicht in die tiefsten Erkenntnisse der Lesung. Mit Gewissheit werden die Menschen ihn verstehen können, sei es durch Übersetzungen oder andere Wege, wenn ihre Herzen und ihr Verstand für Gottes Botschaft offen und rein sind, sie also zu den Reinen aus 56:79 gehören. Nur die Gläubigen, die ihren Verstand gebrauchen (10:100), die ihre vergangenen Ahnen und die Religionsgelehrten nicht idolisieren (2:170; 5:104), die nicht von Vermutungen abhängen (10:36), die nicht etwas spöttisch verfolgen, worüber sie kein Wissen haben (17:36; 6:115) und die ihre Lebensordnung (dīn) Gott allein widmen, verstehen die Botschaft der Lesung. Gott lehrt sie die Lesung. Er kann die Geschehnisse so einleiten, dass sie die Lesung richtig verstehen. Gott ist der Herrscher aller Welten, auch der inneren Seelenwelten, und der beste Rechtleiter.

Jene, die ihren Verstand nicht gebrauchen und ihren eigenen Gelüsten und Neigungen folgen, ihre Ahnen idolisieren, Vermutungen und Spekulationen wie die dem Propheten angedichteten Aussprüche (aḥādīṯ) zu ihrer Religionsquelle erheben und jene, die in der Religion Gott andere Gesetzesgeber beigesellen (wie zum Beispiel Buchārī, dem bekanntesten der Aussprüche-Sammler) könnten ihr Leben lang versuchen, die Lesung zu verstehen, doch ihnen ist es verwehrt.

Auch wenn natürlich der Aufrichtigkeit gegenüber dem Schöpfer eine höhere Bedeutung zuteil wird, so kann man die arabische Sprache und ihre Feinheiten dennoch nicht ignorieren. Denn das klassische Hocharabisch der Lesung ist ein Arabisch des siebten Jahrhunderts. Nichtaraber gelangen erst durch den mühsamen Erwerb der Sprache zum Arabisch der Lesung. Wenn jedoch gewöhnliche Araber ihn lesen, verstehen sie kaum die Hälfte des Geschriebenen – rein sprachlich betrachtet. Aus diesem Grund ist es kein Wunder, dass sich die Araber schwer tun im Forschen und Verstehen, insbesondere in der theologischen Verortung der Inhalte. Eine fehlende Auseinandersetzung mit den Inhalten der Lesung führt dazu, dass der Inhalt eher oberflächlich behandelt wird und sich somit viele Fehler einschleichen. Die Nichtaraber haben hier einen immensen Vorteil gegenüber Arabern, weil sie sich selbst nicht durch ihr „Arabischkönnen“ hinters Licht führen, sie sich auch nicht mit der bloßen Rezitation begnügen, sondern durch verstehendes Lesen der Übersetzungen die Lesung besser kennen als so mancher „Muslim“. Bei ihnen basiert der Glaube nicht auf dem, was ihnen auf Basis von Hörensagen und Tradition erzählt wird, sondern sie kommen aus einer eher freieren Denkweise. Selbst ausgebildete Theologen greifen auf unzeitgemäße, teils gravierend rückschrittliche Aussagen von Theologen des 9. und 10. Jahrhunderts zurück, weil sie dies im Studium so erlernt haben.

Eine angemessene Vorgehensweise im Verstehen der Lesung ist also vonnöten, die frei ist von jeglichen Zwängen der Gelehrten, jedoch auch ihre Werke berücksichtigt und das Gute aus ihnen herausholt. Sowohl das Ignorieren der Gelehrten wie auch die blinde Traditionsbefolgung werden aufgrund der ideologisch geprägten Vorgehensweise zu schlechten Ergebnissen führen.

 

39:18 Die dem Wort zuhören und dem Besten von ihm folgen. Sie sind es, denen Gott den Weg gewiesen hat, und sie sind es, die mit Verstand begabt sind.

 

Präzision und Effizienz der Sprache

Arabisch ist eine der effizientesten Sprachen der Welt, insbesondere dann, wenn es um präzise Gesetzestexte geht. Da die Lesung unter anderem auch ein Buch mit Gesetzen ist, war es wesentlich, dass solche Gesetze klar formuliert werden müssen. Gott wählte vermutlich die arabische Sprache für Sein Wort aus dem offensichtlichen Grund, dass sie für diesen Zweck äußerst tauglich ist. Arabisch ist einzigartig in seiner Effizienz und Exaktheit. Beispielsweise wissen wir auf Deutsch nicht, ob das plurale „sie“ männliche oder weibliche Personen beschreibt. Auf Arabisch gibt es ein „sie“ für Männer (هم – hum) und ein „sie“ speziell für die Frauen (هن – hunna).12 Es gibt sogar ein “sie” für zwei Männer (هما – humā) und ein “sie” für zwei Frauen (هاتان – hātāni).13 Rashad Khalifa schreibt zur Effizienz der arabischen Sprache folgendes:

 

Ich habe die Effizienz der arabischen Sprache zu schätzen gelernt, als ich zum Beispiel Vers 2:228 übersetzt habe. Dieser Vers mahnt die in Scheidung lebende Frau eindringlich, ihre eigenen Wünsche, sich von ihrem Mann zu scheiden, aufzugeben, wenn sie merkt, dass sie schwanger ist und der Ehemann sich wieder versöhnen will, da das Wohl des Kindes Vorrang hat. Die Effizienz der arabischen Sprache war sehr hilfreich dabei, dieses Gesetz festzulegen. Jede andere Sprache hätte es fast unmöglich gemacht darzulegen, wessen Wünsche verdrängt werden sollen, zumindest nicht in so wenigen Worten, wie wir es in 2:228 sehen. Zum Beispiel wird das Wort „Qālatā“ in Vers 28:23 mit vier Worten übersetzt: „die zwei Frauen sagten“. Das ist die Effizienz der Arabischen Sprache.14

 

Ein weiterer möglicher Grund, wieso Arabisch als Offenbarungssprache gewählt wurde, ist die Tatsache, dass „sie“ (singular) und „er“ auf Arabisch nicht zwangsläufig das angeborene Geschlecht implizieren. Dies hat eine wichtige Konsequenz auf das Wort „Allāh“, oder „der Gott“. Wenn deshalb auf Gott als „Er“ Bezug genommen wird, deutet dies überhaupt kein Geschlecht an. Gott sei gepriesen, Er ist weder männlich noch weiblich. Der Gebrauch von „Er“, um auf Gott zu verweisen, trug deshalb zu einem falschen Bild von Gott bei. Daran änderte sich auch nichts durch Äußerungen wie „Vater“, womit Gott angesprochen wird. Sie werden in der Lesung nie einen derartigen Bezug zu Gott finden.

Es ist allgemein falsch nach einem biologischen Geschlecht im grammatikalischen Geschlecht zu suchen. In der deutschen Sprache verhält es sich auch auf ähnliche Art und Weise. „Der Tisch“ ist auf Deutsch männlich, obwohl „er“ keinem menschlich-biologischen Geschlecht zugeordnet werden kann. „Das Mädchen“ ist in gleicher Weise sächlich, obwohl es biologisch feminin ist! Gott ist also weder männlich noch weiblich noch sächlich. Gott ist einzigartig und steht über diesen menschlichen Kategorisierungen.

 

Flexibilität und gleichzeitig hoher Erhaltungsgrad

Eine Nebenerscheinung ist, dass es Lehrbücher gibt, die Arabisch lehren, und zwar aufgrund der Lesung. Die Lesung ist so eingerichtet, dass die gesamte Grammatik, alle Formen und alle syntaktischen Variationen darin vorkommen. So braucht man, um die gesamte Grammatik des modernen Standardarabisch zu lernen, keinen weiteren Text als die Lesung. Dazu empfehle ich das Buch von Alan Jones von der Cambridge Universität, „Arabic Through The Quran“. Es gibt zwei Besonderheiten der arabischen Sprache, die ich an dieser Stelle hervorheben möchte: Erstens können aus einem einzigen Wort nicht nur 35 neue Wörter gebildet werden, sondern mindestens 100 – unter besonderen Umständen sogar noch erheblich mehr, was der arabischen Sprache einen unglaublichen Reichtum beschert, zumindest in der Theorie. Zweitens bauen die Regeln für die Neubildung von Wörtern darauf auf, dass ein Wort aus drei (selten vier) Konsonanten gebildet wird. Die Grundlage der arabischen Wörter sind die Wortstämme, die aus drei Konsonanten bestehen. In der Lesung gibt es nur eine Handvoll Wörter, die vier Konsonanten haben. Die Beugung und Abwandlung der Wörter geschieht im Allgemeinen dadurch, dass man bestimmte Vokale dazwischen fügt. Wenn also von vornherein klar ist, welche Konsonanten es sein müssen, und die Beugungsschemata einheitlich sind, dann können die Vokale auch nicht variieren, oder nur sehr wenig. Und die Regeln umfassen, welche Vokale “dazwischen gestopft” werden. Ein Beispiel: Die drei Konsonanten k-t-b ( ك ت ب ) bilden eine Wurzel, deren Grundbedeutung das Aneinanderreihen von Einheiten, insbesondere von Buchstaben vermittelt. Einfacher ausgedrückt: Diese Wurzel hat mit „schreiben“ zu tun. So heißt dann „kataba“ ( كتَب ) er schrieb, „kutiba“ ( كتِب ) es wurde geschrieben und „yaktubu“ ( يكتب ) er schreibt. Aus derselben Wurzel wird dann „kitāb“ ( كتاب ) abgeleitet, was „Buch“ oder „Schrift“ bedeutet, weil ein Buch auch geschrieben wurde. Ein weiteres Beispiel: die drei Konsonanten q-r-’a ( ق ر أ ) bilden die Grundbedeutung „lesen“. Aus demselben Wortstamm wird auch das Wort al-qur’ān (القرءآن) gebildet, was deswegen „die Lesung“ oder auch „das Vorgelesene“ bedeutet.

KoranMan kann nicht einfach irgendein ausländisches Wort nehmen und es nach Belieben umwandeln, wie es beispielsweise auf Türkisch ginge. Es wurden zwar gewisse Wörter übernommen, etwa „kumbyūtir“ für Computer, aber im Großen und Ganzen wird dies nicht oder nur in der Umgangssprache gebraucht. Man kann einfach ein neues Wort erzeugen, wann immer es gebraucht wird, und jeder, der die arabische Grammatik kennt, weiß, wie das geht.

Ich möchte dies anhand eines Beispiels verdeutlichen: Sie haben einen kleinen Sohn, 9 Monate alt, und er hat eins von diesen modernen Dingen bekommen, in dem er sitzt – das „Ding“ hat Räder und er soll dadurch angeblich lernen zu gehen. Es wurde Ihnen geschenkt. Wie heißt so ein Ding auf Deutsch? Lauftrainer? Gehmaschine? Laufmaschine? Wir haben keine Ahnung, wie es auf Arabisch heißen soll, aber es wurde automatisch „masch’schāya“ genannt – aus den drei Konsonanten m-sch-y (م ش ي), welche zusammen „gehen“ bedeuten, und in dieser Abwandlung einfach „Gehmittel“ heißt, so wie „naẓẓāra“ Sehmittel (Brille) oder „darrādscha“ Fahrrad bedeutet. Alles Wörter, die nach dem gleichen Muster gebildet wurden.

Man kann eine Zahnbürste beispielsweise Miswak oder Siwak (s-w-k) nennen, das sind zwar unterschiedliche Beugungsformen, es sind aber nicht verschiedene Wörter. In verschiedenen Gegenden wird entweder das eine oder das andere Wort benutzt. Fest steht, dass beide Wörter gültig sind, und beide sind hocharabisch. Man kann aber anstelle von Miswak nicht sagen Musbek oder Sobak oder andere Neubildungen, denn dann sind die Konsonanten geändert, und es ist ein gänzlich anderes Wort.

Man kann natürlich anstatt Dār (Haus) auch Bayt (Haus) sagen. Das ist egal. Man kann ja auch auf Deutsch umgangssprachlich Blaukraut anstatt Rotkohl sagen, das ändert ja nicht die Sprache an sich. So sind einige arabische Wörter in Vergessenheit geraten und andere sind heute gebräuchlicher. Wir könnten natürlich auch sagen: Er verabschiedete sich, anstatt wie früher „er empfahl sich“. Beides ist korrektes Hochdeutsch. Korrektes Hocharabisch beinhaltet auf dieselbe Weise viele Ausdrucksweisen, die heute nicht mehr gebraucht werden. Sie sind aber trotzdem unverändert korrekt.

Angesichts dieses ungeheuren und in der Welt einmaligen Reichtums der arabischen Sprache und angesichts der Tatsache, dass zur Wortneubildung immer gleichbleibende Konsonanten gebraucht werden, ist Arabisch eine Sprache, die sich nur sehr wenig für grundlegende Veränderungen anbietet. Es ist eine Sprache, die aufgrund ihrer Natur so etwas wie eine Kunstsprache
(und Hochsprache) ist, die sich aber nur sehr wenig ändern wird. Aus dem gleichen Grund wird angenommen, dass Arabisch auch als eine der ältesten noch gesprochenen Sprachen überhaupt gilt.

 

„Die von den arabischen Nationalgrammatikern mit unermüdlichem Fleiße und bewundernswerter Hingabe aufgestellten Regeln haben die klassische Sprache in allen ihren Aspekten phonetisch, morphologisch, syntaktisch und lexikalisch so umfassend dargestellt, daß ihre normative Grammatik einen Zustand der Vollendung erreicht hat, der keinerlei Weiterentwicklung zulässt.“15

 

Beachten wir dazu, dass die immer gleichbleibenden Wortbildungsmuster dazu führen, dass unheimlich viele Wörter gleich klingen, nur mit anderen Konsonanten. Das heißt, dass sich diese Wörter reimen. Aus dem gleichen Grund ist es sehr einfach, Gedichte auf Arabisch zu schreiben. Man hat sich im Ausland immer darüber gewundert, dass sich die ganze Lesung reimt, wenn man sie vorträgt, so als wäre die Lesung ein langes Gedicht. Das bedeutet, dass sich die Lesung auf Arabisch besonders einfach einprägen lässt. Wie viel einfacher ist es doch zum Beispiel Al-Fātiḥa oder An-Nās oder ein anderes Kapitel auf Arabisch auswendig zu lernen als auf Deutsch. Dies ist meiner Ansicht nach ein weiterer Grund für die Erwählung der arabischen Sprache für die Lesung, damit sie in aller Ewigkeit unverändert bleibt.

Die Schriftsprache des klassischen Arabisch ist identisch mit der Schriftsprache des modernen Standardarabisch – und zwar unabhängig davon, ob die Vokale gesetzt werden oder nicht. Nur die Aussprache ist unterschiedlich, und die beruht wiederum auf den Vokalzeichen, die im täglichen Leben nie benutzt werden.

Nur die Lesung wurde von Anfang bis Ende durchvokalisiert, damit auch „Ausländer“ wie wir, die nicht Arabisch muttersprachlich können, wissen, wie die Lesung ausgesprochen wird. Die Lesung ist auf Arabisch zudem noch mit anderen Zeichen versehen, die besagen, wo Pause gehalten wird, und Hinweise auf die Ausdrucksweise geben. Dies sind dann die Regeln der klassischen Rezitation (aḥkām at-tadschwīd).

Es gibt übrigens eine arabische Redewendung: „ḍaʿa an-nuqāṭ ʿalá-l-ḥurūf“ ( ضع النقاط على الحروف – wörtlich: Setze die Punkte auf die Buchstaben) – oder zu Deutsch: „Sprich jetzt Klartext mit mir“.

Halten wir fest: Wenn die Konsonanten und die Vokalbehandlung bewahrt werden, wie soll sich die Sprache dann ändern? Die arabische Sprache ist damit eine Weltsprache, die sich sehr wenig ändert und deshalb bestens für die Offenbarung geeignet ist.

Zu den Zeichen der Lesung gehört auch, dass sie auf Arabisch offenbart wurde.

Die besten Erkenntnisse sind die eigenen Wahrnehmungen und die Wahrheit steht immer vor der eigenen Nase, wenn das Herz dabei offen ist.

Zweideutigkeit gewisser Koranverse

Ich suche Zuflucht beim Herrn vor dem verworfenen Teufel,
Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Erbarmers

Es ist im Koran öfters so, dass ein gewisses Wort, ein Satz, ein Versabschnitt oder gar mehrere Verse unterschiedlich verstanden werden können – wenn man das Arabische betrachtet. Ich verfolge die Methodologie, dass solange eine spezielle Lesart (die sich im Groben an die ursprünglich vokalisierte Fassung hält, aber die Vokalisation nicht als zwingend gegeben erachtet) dem Koran nicht widerspricht oder neue Widersprüche erzeugt, sie ebenso anzunehmen ist. Zweideutigkeit wird also nicht als Widerspruch, sondern als Bereicherung verstanden. Ein „sowohl-als auch“ statt eines „entweder-oder“.

Ich möchte hier gewisse Verse anführen, die man unterschiedlich oder zweideutig lesen kann. Die Auswahl ist subjektiv, da ich nach eigenem Ermessen die „interessanten“ Beispiele heranziehen will und die durchaus unterschiedliche Motivationen im Glauben aufwerfen können. Ich persönlich sehe JEDE dieser Lesarten als einen wesentlichen Inhalt des Islam an, solange sie keine Widersprüche im logischen Sinne oder mit den mehr oder weniger abgesicherten Tatsachen der heutigen Wissenschaften erzeugen.

 

Der Zweifel, den es nicht geben soll

Ein Beispiel, was ein Satzteil eines Verses an unterschiedlichen Bedeutungen ausmachen kann, ist „la rayba fihi“ aus dem zweiten Vers der zweiten Surah. Dieses Beispiel wird im von hier zitierten Artikel näher betrachtet:

In der ersten regulären Sure, der zweiten nach der gebetsformelhaften Eröffnungssure, heißt es in Bobzins Übertragung: „Dies ist das Buch, in dem kein Zweifel ist – es ist Geleit für Gottesfürchtige.“ Die Übersetzung „Buch“ ist ein Anachronismus, der jeden Leser unbewusst in die Irre führt, weil er suggeriert, der vorliegende Text sei zu gebrauchen wie das, was man in Buchhandlungen findet. Nun ist dieser berühmte Vers, der zweite der zweiten Sure, für koranische Verhältnisse von der leichtverständlichen, durchaus übersetzbaren Sorte, und doch lauern bereits hier alle Tücken. In der Übersetzung von Muhammad Asad, einem Text, den der Patmos Verlag aus dem Englischen ins Deutsche weiterübertragen lassen musste, heißt die Stelle: „Diese göttliche Schrift – keinen Zweifel soll es darüber geben – ist eine Rechtleitung für alle Gottesbewussten.“

Der Zweifel, den es nicht geben soll

Und schon der Zweifel, den es nicht geben soll. Glauben wir dem deutschen Professor oder dem intellektuellen Abenteurer und Islamkonvertiten deutsch-jüdischen Ursprungs? Wer die bei Asad schon anklingende elliptische Emphase mag, kann auch zu der Übersetzung von Ahmad Milad Karimi und Bernhard Uhde im Herder Verlag greifen. Um die deutsche Syntax wird hier kein Federlesens gemacht: „Dies die Schrift, darin kein Zweifel, Rechtleitung für die Gottesfürchtigen.“ So expressionistisch das klingt, man könnte einen oder sogar zwei klassische Übersetzungsfehler vermuten. Das Arabische kennt die Kopula „ist“ nicht, man muss sie also ergänzen. Aber handelt es sich überhaupt um einen Aussagesatz, wie Bobzin nahelegt? Wir schlagen in seinem zweihundertseitigen Kommentar nach. Dort steht: „Den Vers könnte man auch übersetzen: ‚Dieses Buch – kein Zweifel ist in ihm.‘“ Nun scheint wieder Asad mit seiner Fassung recht zu haben. Aber was heißt eigentlich, „darin“ sei kein Zweifel? Ist das nur schlechtes Deutsch für „daran“, eine Art sprachlicher Ansteckung durch das arabische fî, wörtlich „in“? Was soll es bedeuten, wenn ein Zweifel „in“ einer Schrift ist – außer dass sie angezweifelt werden kann? Dann aber hieße der Satz sinngemäß nichts anderes als: „Diese über jeden Zweifel erhabene Schrift ist ein Wegweiser für Gottesfürchtige.“

Genau so wird die Bedeutung klar, und doch wird in allen Übersetzungen ein Krampf daraus. Karimi und Uhde scheinen zu glauben, gerade die Treue zum Original sei besonders archaisch-expressionistisch. Bei Asad kommt es allein auf die ihm genehme theologische Stimmigkeit an – der Wortlaut, zumal bei dieser Zweitübersetzung aus dem Englischen, zählt gar nicht. Bei Bobzin wiederum schwingt die ganze Geschichte der abendländischen Koranrezeption mit. Daher das „Buch“, daher die um Genauigkeit an falscher Stelle bemühte Halbherzigkeit bei der syntaktischen Einordnung des „Zweifels“, daher das altertümliche, fast heideggerianisch anmutende „Geleit“ – eine Eskorte ist doch wohl kaum gemeint! Erfahrene Übersetzer würden diesen irreführenden Interpretationsmöglichkeiten nicht auf den Leim gehen. Genau das ist Teil des Problems: Alle Koranübersetzer, die neuen wie die alten, der gute alte Rückert ausgenommen, sind keine Übersetzer, geschweige denn erfahrene. Sie sind nur und allein Koranübersetzer und ansonsten Akademiker (Bobzin), Schwärmer (Karimi/Uhde) oder Gläubige mit einer spezifisch exegetischen Agenda (Asad).

 

Nahm sich Gott einen Freund?

Es ist eine sehr schöne Angelegenheit einen vertrauten Freund zu haben, mit dem seine Geheimnisse teilen oder auch zusammen arbeiten kann, ohne zu befürchten, von ihm verraten zu werden. Ein wahrhaftiger Freund kann mir auch näher stehen als nahe Verwandte. In Vers 4:125 soll es jedoch davon handeln, dass Gott solch einen Freund zu sich nahm. Ist es möglich?

Exemplarisch zitiere ich eine deutsche und auch eine englische Übersetzung, die dies behaupten:

ومن أحسن دينا ممن أسلم وجهه لله وهو محسن واتبع ملة إبرهيم حنيفا واتخذ الله إبرهيم خليلا

Khoury Und wer hat eine schönere Religion als der, der sich völlig Gott hingibt und dabei rechtschaffen ist und der Glaubensrichtung Abrahams, als Anhänger des reinen Glaubens, folgt? Gott hat sich Abraham ja zum Vertrauten genommen.

Khalifa Who is better guided in his religion than one who submits totally to God, leads a righteous life, according to the creed of Abraham: monotheism? God has chosen Abraham as a beloved friend.

Hierbei handelt es sich nicht um eine falsche Wiedergabe des Verses, sondern das durch die klassische Vokalisation übernommene Verständnis führt zur Annahme, Gott habe sich einen Freund genommen. Eine ähnliche Stelle im Koran ist auch:

ومن الناس والدواب والأنعم مختلف ألونه كذلك إنما يخشى الله من عباده العلمؤا إن الله عزيز غفور

35:28 Auch die Menschen, die Zug- und Lasttiere und das Vieh sind von verschiedenen Arten und Farben. Nur die Wissenden unter Seinen Dienern fürchten Gott. Gottes Allmacht und Vergebung sind unermesslich.

Die Reihenfolge der fett markierten, arabischen Worte ist anders als man es durch die Übersetzung vermuten würde, nämlich: … denn Gott fürchten einige Seiner wissenden Diener

In diesem Beispiel haben diejenigen, welche die Vokalisation vor ca. zwölf Jahrhunderten einführten, um das Lesen des Koran für Nichtaraber wie auch für Araber zu vereinfachen, aufgepasst. Sie setzten ein Fatha-Zeichen auf das Wort Allah. Der unkundige und unvorsichtige Leser würde sonst ein Damma-Zeichen voraussetzen und „Allahu“ lesen, was bedeutete, dass Gott sich vor den Wissenden fürchten würde.

Genauso verhält es sich bei Abraham und Seinem Herrn. Doch dieses Mal wurde ein Damma-Zeichen auf das Wort Allah gesetzt statt eines Fatha-Zeichens. Deshalb wird heutzutage verstanden, Gott hätte sich einen Freund genommen. Selbst auf Deutsch könnte es bei entsprechend knapper Ausdrucksweise zu solchen Verwechslungen kommen. Denn die Phrase „Gott nahm sich Abraham als Freund“ könnte auf zweierlei Arten verstanden werden:

  1. „Gott nahm sich den Abraham als Freund“  oder
  2. „Gott nahm sich der Abraham als Freund“

Derjenige, der damals die Vokalisation einführte, hat sich fälschlicherweise für die erste Möglichkeit entschieden. Diese Art der Interpretation, dass Abraham der Freund Gottes sei, ist ähnlich zur Bibelstelle Jesaja 41,8 und es lässt sich fragen, ob der Vokalisator von diesem Vers Bescheid wusste. Doch die entscheidende Frage kann hier gestellt werden: Braucht Gott einen Vertrauten? Gepriesen sei Gott über das, was behauptet wird ….

72:3 Und hoch erhaben ist Unser Herr. Er nahm sich weder Partnerin noch einen Sohn

Nein, nicht Gott ist es, der die Menschen braucht oder der Schwächen hat, die er jemandem anvertraut, oder der sich einsam fühlt und deshalb Freunde, Lebenspartnerin oder Kinder braucht. Es ist eher so, dass sich Abraham Gott als Vertrauten nahm. Gott, dem man alles erzählen kann, ohne zu befürchten, von ihm nicht ernst genommen zu werden, oder von Ihm verraten zu werden. Abraham, der in seiner Einsamkeit nicht einsam war, denn er hatte ständig einen außergewöhnlichen Freund neben sich, Der ihm immer wieder mit einem guten Rat weiterhelfen kann. So soll das Beispiel Abrahams nicht als Sonderfall gelten, sondern uns allen als Vorbild dienen, dass wir uns Gott in dieser Form annähern mögen.

 

Gott bezeugt oder wird als Zeuge genommen?

Ein weiteres, durchaus interessantes Beispiel aus Sura 2, die Kuh: die Verse 204 und 205. Unsere Übersetzung, das heißt, unsere Entscheidung für diesen Vers:

204 Und unter den Menschen gibt es den, dessen Rede dir im weltlichen Leben gefällt. Doch Gott bezeugt, was in seinem Herzen ist, dabei ist er der Übelste der Streitsüchtigen
205 Und wenn er sich abwendet, so strebt er auf der Erde danach, auf ihr zu verderben und den Acker und die Fortpflanzung zu vernichten. Doch Gott liebt nicht das Verderben

Im Vergleich dazu eine der gängigen deutschen Übersetzungen des entsprechenden Abschnitts: und er nimmt Allah zum Zeugen für das, was in seinem Herzen ist, und doch ist er der streitsüchtigste Zänker.

Die ganze Sache entscheidet sich an einer einzigen Vokalisation! Nämlich im Wort „Gott“ aus dem Vers 204. Die Vokalisation lässt sich wie folgt wiedergeben:

  • kurzes a: Fatha
  • kurzes i: Kasra
  • kurzes u: Damma
  • kein Vokal: Sukun

Der Akkusativ- wie auch Nominativfall sind die möglichen Fälle für diesen Vers. Setzt man den Akkusativ für Gott, also ein Fatha auf das „ha“ bei Allh, so endet der Satz noch lange nicht und der Mensch, dessen Rede rhetorisch eindrücklich sein soll, ruft Gott noch zum Zeugen auf für das, was er in seinem Herzen trägt – „Gott“ wird in den Akkusativ gesetzt, also zum Objekt des Bezeugens. In diesem Sinne übersetzen auch fast alle anderen Übersetzer (Khoury, Al Azhar, Ahmadeyya, Paret, Bubenheim, Rassoul, Bobzin und Zaidan als einige Beispiele), weil sie die klassische Vokalisation übernehmen. Natürlich weckt auch der nachfolgende Satzteil „wa huwa aladdu alkhisami“ den Eindruck, als sei der Satz vorher noch gar nicht beendet worden.

Setzt man jedoch den Nominativfall, also ein Damma auf das „ha“ bei Allh, so hat der Satz vorher seine grammatikalische Trennung erhalten und wird nun in einer folgenden Betrachtung weiter kommentiert. Nämlich dass Gott sehr wohl weiß, was in seinem Herzen ist. Gott ist also das Subjekt, welches bezeugt. Der nachfolgende Satzteil „wa huwa …“ greift dann inhaltlich gesehen wieder zurück auf den Redner. Von der Syntax her wäre es möglich, dass mit „huwa“ Gott gemeint wäre. Allerdings macht es vom Semantischen, also von der Bedeutung her überhaupt keinen Sinn, Gott als den „Übelsten unter den Streitsüchtigen“ zu bezeichnen – was jeglichem gesunden Menschenverstand und jedem Gottergebenen zuwider sein muss. Wir haben also zwei mögliche Bedeutungen:

  • Gott wird innerhalb einer Rede zum Zeugen aufgerufen; als Bekräftigung und Nachdruck für das, was der rhetorisch gewandte Redner im Herzen tragen soll
  • Gott weiß genau was in seinem Herzen (d.h. im Herzen des Redners) ist und sagt aus, dass Er darüber Zeuge ist.

Da die deutschen Übersetzungen bereits die erste Variante weitgehend verbreitet haben, legen wir mit unserer Übersetzung die zweite Variante vor und unterstützen beide Sichtweisen. Ungleich wie im Deutschen sieht man aber an den englischen Übersetzungen, dass beide Varianten vorkommen, wir also nicht die ersten sind, die so übersetzen (was uns aber erst bei der näheren Besprechung des Verses aufgefallen ist).

Inhaltlich an Vers 204 gebunden ist der nachfolgende Vers, Vers 205. Dieser ist zwar nicht mehr zweideutig von der Übersetzung her, doch gebunden an das Verständnis aus Vers 204. Die folgenden (nicht sehr wesentlich unterschiedlichen) Konsequenzen ergeben sich:

  • in der rhetorisch gewandten Rede wurde Gott als rhetorisches Mittel verwendet, sozusagen als Spiel mit den Gefühlen, ein Bluff; ein falsches Versprechen, zum Beispiel eines Politikers, der sich auf Gott beruft in seinen Aussagen – im Anschluss aber Unheil und Verderben anstiftet im Land (auf der Erde)
  • Gott wurde in der Wortkultur des Redners nicht zwingend zum Objekt und schließt somit auch alle die ein, die Gott nie in den Mund nehmen würden. Allerdings ist ihre Rede ebenso geheuchelt. Sie verstehen es zwar, die Menschen mit ihren Worten zu beeinflussen und zu manipulieren, doch vergessen dabei, dass Gott Zeuge über sie ist – nämlich was sie wirklich in ihren Herzen tragen, was ihre wahre Absicht ist hinter dieser Rede (21:110). Oder auch, ob sie das überhaupt ernst meinen, was sie sagen. Es kann auch aus einer sozialen Notwendigkeit herausgehen, so zu reden, wie sie reden.

Zu Punkt 2 gibt es noch einige weitere Betrachtungen, die man vornehmen kann: bezüglich den Heuchlern im Glauben gibt es zum Beispiel den Vers, der ihr Gebet als „Pfeifen und Klatschen“ (8:35) charakterisiert. Sehr viele von diesen können durchaus gut reden, doch ihr Glaube ist leer, nichts weiter als eine seelenlose Abfolge von Körperbewegungen und Einhalten von Ritualen. Bezüglich des „leeren Geredes“ gibt es ebenso Verse, die den Punkt weiter erläutern. So zum Beispiel all die Menschen, die zwar an Gott glauben, Ihn aber nicht beachten, wenn sie für sich alleine sind (70:27, 3:102, 8:29, 36:11, 64:16, 8:2, 35:18, 5:94, 21:49 uvm). In ihrem Herz hat Gott kein Gewicht und keine Wichtigkeit (71:13). Sie glauben aus sozialen Normen heraus und nicht aus Wissen, Herzensüberzeugung und gefühlter Nähe zu Gott. Das ist insbesondere auch dann zu sehen, wenn Sunniten oder Schiiten meinen den Islam zu leben, ihm aber in Wahrheit schaden (31:6) und mit ihrem Verhalten und ihrer Unterstützung dieses sozialen Gefüges dabei helfen, das Verderben auf Erden aufrechtzuerhalten. Insbesondere Vers 6:23 legt nahe, wie ignorant und unwissend die meisten Menschen über das Konzept der Beigesellung (shirk) sind. Shirk wird im Koran oft mit sehr negativen Handlungen verbunden, wie etwa politischer Unterdrückung oder gesellschaftlichen Fehlentwicklungen.

Somit sind all die Verhaltensweisen miteingeschlossen, die sowohl direkt wie auch indirekt dem Verderben auf der Erde dienlich sind. Anders gesagt helfen sie damit dem Teufel. Es ist wohl nicht nötig zu erwähnen, dass dies ein weiteres Beispiel nebst den zahlreich vorhandenen ist, dass der Koran sich selbst erklärt und deutlich, einfach, alles umfassend und detailliert (!) ist, sogar detaillierter als man es erwartet hätte. Das System des Koran ist wie ein lebendiger Organismus. Gott sei gepriesen!

Für den Gottergebenen, der zum Gläubigen aufsteigen will und Gottes Liebe sucht (denn Gott liebt die Verderbenden nicht), ergibt sich eine klare Konsequenz:

Lerne die Kunst des Wortes (Rhetorik), um dich nicht beeindrucken oder hinters Licht führen zu lassen und beobachte dich selbst in dieser Hinsicht, ob du auch so bist, wie du redest.

Als Abschluss dieser Betrachtung ein Koranvers, denn wessen Wort wäre geeigneter als letztes?

61:2 O ihr, die ihr glaubt, warum sagt ihr, was ihr nicht tut?
61:3 Großen Abscheu erregt es bei Gott, dass ihr sagt, was ihr nicht tut.

19:80 – Erben oder vererben

Im Namen Gottes Des Erbarmers Des Gnädigen

Die diakritischen Zeichen dienen im Arabischen als Hilfsmittel zur Kenntlichmachung der arabischen Buchstaben, die Vokalisierung der Kenntlichmachung der dazwischen geschobenen Vokale. Die Vokalisierung der arabischen Buchstaben und ihre diakritischen Zeichen wurden erst im neunten Jahrhundert von dem Poeten Abou Alaswad Aldoualy im Auftrag des Omayyaden Kalifats erfunden. Man hat befürchtet, dass die Bevölkerung der neuen Länder, die später der islamischen Dynastie angehörten, den Sinn mancher Wörter durch falsches Aussprechen verdrehen könnten. Durch die diakritischen Zeichen schuf man eine einheitliche Lesart bzw. ein einheitliches Verständnis des gleichen Textes im gesamten islamischen Gebiet.

Wir zweifeln auf keinen Fall an der Ehrlichkeit des Erfinders dieses Systems, doch die Frage, ob die Vokalisierung bzw. das Aussprechen der Wörter in allen Einzelheiten so stimmt, wie sie Abou Alaswad Aldoualy festgesetzt hatte, beschäftigt uns doch. Ein einziger Vokal kann den Sinn eines Verses völlig verfremden, so dass man etwas anderes versteht als das, was der Vers aussagt.

Vers 80 in Sura Maria Nr. 19

Während unserer Übersetzungsarbeit in Sura 19 ist uns Vers 80 aufgefallen, der von allen Übersetzern auf eine merkwürdige Weise wiedergegeben wurde. Hier zeigen wir den Vers, wie wir ihn übersetzt haben und auch die Gründe für unser Verständnis des Verses auf diese Art und Weise.

19:80 Dann lassen Wir ihn erben, was er sagt. Darauf kommt er als Einzelner zu Uns


Und hier sehen wir sechs verschiedene Übersetzungen, um vergleichen zu können, was genau wir gemeint haben.

Adel Khoury
Und Wir erben von ihm das, wovon er spricht. Und allein kommt er zu Uns.

Zaidan
Und WIR werden ihm das wegnehmen, worüber er sprach. Auch wird er ja ohnehin alleine zu Uns kommen!

Bubenheim
Und Wir erben von ihm das, was er sagt, während er einzeln zu Uns kommt.

Rasul
Und Wir werden all das von ihm erben, wovon er redet, und er wird allein zu Uns kommen.

Azhar
Wir werden ihm alles abnehmen, wovon er spricht, und er wird am Jüngsten Tag allein vor Uns erscheinen.

Paret
Und wir werden von ihm erben, was er sagt (daß er bekommen werde). Und er wird einzeln zu uns (zum Gericht) kommen.

Ahmadeyya
Und Wir werden all das von ihm erben, wovon er redet, und er wird allein zu Uns kommen.


Ich möchte niemandem vorwerfen, dass er etwas wiedergibt, das dem Original nicht entspricht. Vielmehr will ich sagen, dass man zu intensiv an den Zeichen festhält, auch wenn man den Sinn darin nicht zu erfassen vermag. Das Problem liegt unser Meinung nach am Zeichen (Fatha), das über dem Buchstaben N im ersten Wort gesetzt ist.

وَنَرِثُهُ مَا يَقُولُ وَيَأْتِينَا فَرْدًا


Das Vokalzeichen (Fatha) über dem N-Buchstaben veränderte den Sinn des Verses auf eine Art und Weise, dass der Vers von den Übersetzern nicht anders wiederzugeben war. Würden wir den Vers wortwörtlich mit diesem Zeichen übersetzen, dann würde ein grammatikalischer Fehler bzw. Fehler in der Logik des Satzes erscheinen:

Dann erben wir ihn, was er sagt, und danach kommt er einzeln zu uns.


Wie man hier sieht, ist die Aussage des Satzes unklar im Bezug auf Grammatik und auch auf den Sinn, der uns vermittelt wird. Aber so ähnlich haben die Übersetzer gehandelt, wobei sie die Grammatik so hingebügelt haben, dass es passt. Nur der Sinn bleibt immer noch unklar: Warum die Aussagen eines Ungläubigen von den Engeln geerbt werden.

Statt Fatha ein Dammah

Wir haben, Gott sei Dank, diese Einstellung bemerkt, da wir in unserem Quran-Program jegliche diakritischen Zeichen entfernt haben und die Texte so belassen, wie sie mal waren, bevor diese Zeichen zum Koran hinzugefügt worden sind. Auf diese Art und Weise haben wir beim Lesen der Texte mehr Freiheit im Bezug auf Sinn und Grammatik der heiligen Schrift, ohne uns durch die Regeln zu begrenzen. Denn eine kleine Änderung mit einem einzigen Zeichen würde dazu führen, dass der Satz auf einmal verständlich und auch richtig ist:

وَ نُرِثُهُ مَا يَقُولُ وَيَأْتِينَا فَرْدًا


Der Vers ist jetzt auch bei einer wortwörtlichen Übersetzung leicht zu verstehen:

Dann lassen Wir ihn erben, was er sagt. Darauf kommt er als Einzelner zu Uns


Beim Vers geht es darum, dass manche Leute von sich selbst überzeugt sind, und dass sie meinen die Zukunft im Griff zu haben, Vermögen und Nachfahren zu haben, ohne darauf zu achten, dass sie alleine nicht fähig sind etwas zu schaffen. Man vergöttert sich in seiner Selbstverherrlichung und spricht die Unwahrheit, bis der Tag kommt, an dem ihre Aussagen an ihrer Seele haften und jeder muss damit alleine fertig werden.

Aus diesem Verständnis heraus haben wir Vers 19:80 auf diese Art und Weise übersetzt und auch hier die Stelle kommentiert, damit jeder sieht, aus welchem Grund wir so gehandelt haben.

Möge uns Gott verzeihen in Seiner Barmherzigkeit. Salam.