In einem kürzlich in der Tageszeitung Le Parisien veröffentlichten Manifest gaben über 250 französische Intellektuelle ihre Bedenken über den wachsenden Antisemitismus in Frankreich bekannt. Das Manifest entfachte eine große Kontroverse, nicht nur weil die Liste der Unterzeichner Berühmtheiten wie den ehemaligen Präsidenten Frankreichs Nicolas Sarkozy, den ehemaligen Ministerpräsidenten Manuel Valls, den Sänger Charles Aznavour und den Schauspieler Gérard Depardieu umfasste, sondern auch wegen seinem provokativen Unterton. Genauer gesagt macht das Manifesto die Lehren des Koran für die jüngsten antisemitischen Anschläge in Frankreich − dem Land mit der größten muslimischen und jüdischen Bevölkerung − verantwortlich und empfiehlt eindringlich, dass Muslime die Koranverse denunzieren, die ihrer Meinung nach die Muslime dazu motivierten, die Juden zu töten. Sie verlangen auch von Politikern und der französischen Öffentlichkeit damit aufzuhören, politisch korrekt zu sein und zuzugeben, dass der „muslimische Antisemitismus“ eine ernsthaftere Bedrohung als Islamophobie sei.
Dies war weder der erste Versuch noch wird es der letzte sein, eine Verbindung zwischen Islam und Gewalt herzustellen. Zeitgenössische atheistische Denker wie Richard Dawkins und Sam Harris beschuldigen die koranischen Lehren für die terroristischen Angriffe im Westen. Im Jahr 2015 schrieb ein Kulturanthropologe von der Universität Utrecht an The Guardian, dass der Koran für den wachsenden Antisemitismus im Westen verantwortlich sei. Die britische Journalistin Melanie Phillips hat letzte Woche, obwohl vorsichtiger in ihrer Einschätzung, von „muslimischem Antisemitismus“ gesprochen und argumentiert, dass Islamophobie von Muslimen geprägt worden sei, um Kritik am Islam und der islamischen Welt abzuwehren.
Das französische Manifest kränkte Muslime auf der ganzen Welt und erhielt eine Vielzahl von Antworten. Einige Muslime erinnerten die französischen Intellektuellen an gewalttätige und scheinbar antisemitische Verse in der Bibel. Da diese Antwort jedoch nichts über den Islam aussagt, geht sie nicht auf das Hauptproblem ein. Außerdem hatten die Unterzeichner auch bereits ihr Unbehagen mit den sogenannten antisemitischen Versen in der Bibel ausgedrückt. In der Tat haben sie ihre Wertschätzung für die kirchliche Verurteilung gegen den Antisemitismus ausgesprochen und muslimische religiöse Führer aufgefordert, dasselbe zu tun. Andere Muslime, darunter der türkische EU-Außenminister Ömer Çelik, tadelte französische Intellektuelle dafür, die Koranverse für politische Zwecke zu manipulieren und, haarsträubend wie der IS es macht, Gewalt aus dem Koran abzuleiten.
Was sagt der Koran über die Juden aus? Stachelt er die muslimischen Massen zu Antisemitismus an?
Zunächst sind die Handlungen der Muslime oft nicht koranisch motiviert. So gab zum Beispiel Youssouf Fofana, der Anführer der berüchtigten Bande der Barbaren, zu, dass seine Bande 2006 einen jüdischen Mann wegen des Lösegeldes entführt und gefoltert habe. Darüber hinaus stehen manchmal die Handlungen der Muslime im Widerspruch zum Koran. Zum Beispiel haben die Muslime, die den Anschlag auf Charlie Hebdo im Jahre 2015 verübten, den Koran missachtet, da der Koran die Menschen dazu auffordert, diejenigen, die Gott und die Religion ins Lächerliche ziehen, aus Protest alleine zu lassen (4:140). Der Koran verhängt keine weltliche Bestrafung für diejenigen, die den Islam verhöhnen. Dennoch empfanden die Terroristen den im Koran erwähnten Protest als unzureichend und beschlossen, die Mitarbeiter von Charlie Hebdo zu töten. Indem sie ihren eigenen religiösen Gefühlen nachgingen, verrieten diese Terroristen die koranischen Prinzipien.
Terroristen, die angeblich im Namen des Islam handeln, sind in der Regel ungebildet, was den Koran betrifft. Zum Beispiel fehlten den britischen Terroristen Mohammed Ahmed und Yusuf Sarwar grundlegende Informationen über den Islam und so bestellten sie vor ihrer Reise nach Syrien, um sich dem IS anzuschließen, „Koran für Dummies“ und „Islam für Dummies“ über Amazon. Ein durchgesickerter Geheimdienstbericht der Regierung, der auf ausführlichen Interviews basiert, zeigt, dass diese beiden keine Ausnahmen waren; Terroristen sind normalerweise schlecht über die Hauptlehren des Islam informiert und führen islamische Rituale nicht regelmäßig durch. Im Gegenteil, einige von ihnen sind Drogenkonsumenten, trinken Alkohol, essen Schweinefleisch und suchen Prostituierte auf. Der Bericht kommt zum Schluss, dass Religiosität eine Radikalisierung gar verhindern könnte.
Auch wenn einige Täter antisemitischer Angriffe in Frankreich Muslime sind, heißt das nicht, dass sie durch ein richtiges Verständnis des Koran motiviert werden. Um das zu zeigen, müsste man darlegen, dass es im Koran tatsächlich antisemitische Verse gibt.
Der Koran über die Juden
Einige Muslime argumentierten als Reaktion auf das Manifest, dass eine wörtliche Auslegung des Koran der Grund dafür ist, die koranische Einstellung gegenüber Juden zu missverstehen; zeitgenössische Muslime sollten den Koran symbolisch und nicht wörtlich lesen. Das eigentliche Problem betrifft jedoch das Rosinenpicken und die Fehlinterpretation bestimmter Verse über Juden, während man andere, welche die Juden loben, übersieht. Eine korrekte und gründliche Lektüre des Korans – eine, die alle Verse zu diesem Thema berücksichtigt – zeigt, dass der Koran nicht antisemitisch ist.
Nach dem Koran ist keine Rasse und kein Volk ontologisch anderen überlegen. In der Tat warnt der Koran die Gläubigen davor, andere Volksgruppen herabzusetzen:
49:11 Ihr, die ihr glaubtet, lasst nicht ein Volk ein anderes verhöhnen; vielleicht sind diese ja besser als sie. […]
Wenn Juden also im Koran kritisiert oder gelobt werden, geschieht dies gänzlich aufgrund ihrer Taten, nicht aufgrund ihrer Rasse oder Religion – wie es bei Muslimen der Fall ist. Zum Beispiel werden Muslime dafür kritisiert, dass sie tratschen (24:12) und den Koran als Leitfaden aufgeben (25:30). Selbst der Prophet Muhammad wurde für seine Fehler kritisiert, etwa als er dafür kritisiert wurde, einen Blinden abzuweisen, während er den Eliten seiner Gesellschaft den Islam predigte (80:1-10).
Obwohl der Koran besagt, dass Gott seine Gunst den Juden geschenkt hat (2:47), kritisiert er sie auch für ihr Fehlverhalten. So werden gewisse Juden kritisiert, wiederum nur wegen ihrer Taten, da sie ihre Propheten töteten (5:70), andere Götter verehrten (9:30-31), ihren Bund brachen (2:83), behaupteten, dass das Paradies ausschließlich für die Juden bestimmt sei (2:94), Gott verleumdeten (4:50, 5:64), sich über den Islam und die Muslime lächerlich machten (5:57) und Gott gegenüber undankbar (45:16-17) waren. Aber Juden werden in ihren eigenen Schriften – der hebräischen Bibel – aus ähnlichen Gründen kritisiert. In Jeremia (2, 19, 26-28) zum Beispiel werden Juden dafür kritisiert, dass sie ihren Bund mit Gott brechen, Gott undankbar sind, andere Götter anbeten und ihre Söhne töten.
Der Koran, wie die Hebräische Bibel auch, behauptet nicht, dass alle Juden Übeltäter wären. Durchaus bestätigt er die Rechtschaffenheit von Juden und Christen (3:113-115; 3:199; 7:159; 7:168). Während der Koran einige Juden wegen ihrer Ungerechtigkeit kritisiert, lobt er andere für ihre Rechtschaffenheit. Hierbei stellt er keine pauschalen Behauptungen über alle Juden als Volksgruppe auf.
Wie Muslime werden auch Juden, die an Gott glauben und gute Taten vollbringen, belohnt:
2:62 Gewiss, diejenigen, die glaubten und die Juden und die Christen und die Sabäer, wer an Gott und den letzten Tag glaubte und Rechtschaffenes tat, sie haben ihren Lohn bei ihrem Herrn und weder Angst sei über ihnen noch sollen sie traurig sein.
Außerdem werden Synagogen und Kirchen zusammen mit Moscheen im Koran gepriesen, da diese Orte sind, an denen der Name Gottes oft erwähnt wird (22:40).
Wenn der Koran feststellt, dass Juden, die den Bund brechen, Gesandte töten und andere Götter verehren, verflucht sind, werden sie nicht wegen ihrer Rasse, sondern aufgrund ihrer Taten verflucht. Solange sie gute Taten vollbringen, hilft Gott den Juden in dieser Welt weiter und verspricht ihnen, sie im Jenseits zu belohnen.
Verbietet es der Koran Muslimen, Juden zu Freunden zu nehmen?
Während es einen Vers gibt (5:51), der zu implizieren scheint, dass Muslime niemals Juden und Christen als Freunde oder Verbündete nehmen sollten (Awliyāʾ), erklärt der Koran nur sechs Verse später in derselben Sure selbst, welche Arten von Juden und Christen nicht als Awliyāʾ genommen werden sollten (5:57-58):
5:51 Ihr, die ihr glaubtet, nehmt euch nicht die Juden und die Christen zu Verbündeten. Sie sind untereinander Verbündete. Wer von euch sie zu Verbündeten nimmt, gehört zu ihnen. Gewiss, Gott leitet das ungerechte Volk nicht recht.
5:57 O ihr, die ihr glaubtet, nehmt euch aus den Reihen derer, denen die Schrift vor euch zugekommen ist, nicht diejenigen, die eure Religion zum Gegenstand von Spott und Spiel nehmen, und auch nicht die Ableugner zu Verbündeten. Und seid Gottes achtsam, so ihr gläubig seid.
5:58 Wenn ihr zum Gebet ruft, nehmen sie es zum Gegenstand von Spott und Spiel. Dies, weil sie Leute sind, die ihren Verstand nicht brauchen.
So schließt der Koran nicht Freundschaften mit allen Juden und Christen aus, sondern nur mit jenen, die sich über Gott und die Religion lächerlich machen. Tatsächlich gibt dieselbe Sure, als Beweis für die tiefen Freundschaften, die Muslime mit Christen und Juden haben dürfen, Muslimen die Erlaubnis (5:5), sowohl Christen als auch Juden zu heiraten. Wenn der Koran es Muslimen nicht erlaubte, Freundschaften mit Christen oder Juden zu schließen, wie sollten sie diese dann heiraten können? Zu guter Letzt können die Muslime, in Anbetracht der Umstände zur Offenbarungszeit des Koran, jüdische und christliche Freunde haben, die gegenüber Muslimen nicht feindlich gesinnt sind, Muslime kriegerisch bekämpfen oder Muslime aus ihren Ländern vertreiben (60:1, 60:8-9).
Weltliche Bestrafung für die Fehler der Juden?
Selbst wenn die muslimischen, antisemitischen Angreifer in Frankreich Recht gehabt hätten, dass die von ihnen angegriffenen Juden nicht rechtschaffen waren, gibt der Koran den Muslimen nicht die Erlaubnis, sie zu bestrafen. Im Gegenteil, im Koran wird dem Propheten Muhammad befohlen, Übeltäter zu vergeben und sie zu tolerieren:
5:13 Weil sie aber ihren Bund brachen, verfluchten wir sie und ließen ihre Herzen hart werden. Sie entstellen den Sinn der Worte. Und sie vergaßen einen Teil von dem, womit sie ermahnt worden waren. Und du wirst immer wieder Verrat von ihrer Seite erfahren — bis auf wenige von ihnen. Aber verzeih ihnen und lass es ihnen nach. Gewiss, Gott liebt die Gütigen.
Gott wird laut Koran über ihre Handlungen richten:
45:16 Wir gaben ja den Kindern Israels die Schrift, das Urteil und das Prophetentum und versorgten sie von den guten Dingen und begünstigten sie vor den Weltenbewohnern.
45:17 Und Wir gaben ihnen Klarheiten in der Angelegenheit. Sie wurden aber erst uneinig, nachdem das Wissen zu ihnen gekommen war – aus Missgunst untereinander. Gewiss, dein Herr wird am Tag der Auferstehung zwischen ihnen über das entscheiden, worüber sie uneinig zu sein pflegten.
Natürlich erlaubt es der Koran, gegen jüdische Feinde zu kämpfen, wenn sie gegen Muslime Krieg führen oder denen helfen, die gegen Muslime Krieg führen. Diese Verse sind jedoch nicht auf Juden beschränkt. Der Koran erlaubt es Muslimen, sich gegen alle Angreifer unabhängig von ihrem Glauben zu verteidigen:
22:39 Erlaubnis (zum Verteidigungskrieg) wurde denjenigen, die bekämpft werden, erteilt, weil ihnen Unrecht zugefügt wurde. Und gewiss, Gott hat die Macht, ihnen zu helfen.
Aber Muslime dürfen keinen Krieg gegen eine Gruppe führen, nur weil diese Gruppe an eine andere Religion glaubt. Muslime dürfen nur kämpfen, wenn sie angegriffen werden. Was wiederum zählt, sind die Handlungen der „Anderen“, nicht ihre Identität.
Französische Politik und das Manifest
Obwohl nur ein winziger Teil der sechs Millionen Muslime in Frankreich an antisemitischen Angriffen beteiligt war, wird dieses Manifest wahrscheinlich die Islamophobie verstärken, indem es offiziell eine Verbindung zwischen dem Koran und dem Antisemitismus in den Köpfen der Franzosen herstellt.
Das ist genau das, was der IS will. IS-Führer haben erklärt, dass sie die große Mehrheit der Muslime im Westen anvisieren, um gewöhnliche Muslime zu „Dschihadisten“ zu machen. Die Islamophobie, die durch dieses Manifest verstärkt wird, hilft dem IS, Muslime davon zu überzeugen, dass der Westen sie hasst. Das Manifest hilft dabei, fruchtbaren Boden für potenzielle IS-Rekruten zu schaffen.
Schließlich hätten der frühere Präsident Sarkozy und der ehemalige Premierminister Manuel Valls, anstatt dieses provokante Manifest zu unterzeichnen, härter daran arbeiten können, die politischen und sozialen Bedingungen zu reformieren und zu verbessern, die zu anti-muslimischen und antisemitischen Gefühlen in Frankreich beitragen. Die Entwicklung von Strategien für die Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts, die Verringerung der sozialen Ungleichheit und die Verbesserung der sozialen Gerechtigkeit, die Reform der Bedingungen in französischen Gefängnissen und die Verhinderung von Radikalisierung unter den Insassen wären definitiv effektiver als die Muslime dazu aufzurufen, ihre heilige Schrift anzuprangern.
aus dem Englischen von Kerem Adıgüzel