Schlachtung

Ist der Weideschuss mit dem Islam vereinbar?

Ḥalāl-Fleisch und Fleisch aus ökologischer, artgerechter Tierhaltung waren lange voneinander getrennt, so dass Muslim:innen sich entscheiden mussten, auf das eine von beiden zu verzichten. Dabei wurde bei der ḥalāl-Zertifizierung hauptsächlich auf die Art des Tötens geachtet und das vorherige Leben vernachlässigt, bei der Öko-Zertifizierung umgekehrt eine gute Lebensweise verlangt, aber die Diskussion um den Tötungsprozess kam zu kurz. Während einerseits mehr und mehr Bewusstsein über ein (möglichst) artgerechtes Leben der Tiere vor der Schlachtung in die ḥalāl-Diskussion einfließt, werden andererseits in der Bio-Haltung neue Schlachtmethoden entwickelt, die dem Tier auch am Lebensende so weit wie möglich gerecht werden. Eine dieser neuen Entwicklungen ist die Hof- und Weideschlachtung, die das Tier in seiner vertrauten Umgebung belassen und ihm dadurch jeglichen Stress ersparen soll.

Warum Weide- bzw. Hofschlachtung?

Der moderne konventionelle Schlachtbetrieb setzt die Tiere, gerade wenn sie es gewohnt sind, ihr Leben in der Herde zu verbringen, unter großen Stress, wenn sie, oft mit Zwang und Hektik verbunden, verladen und in eine neue Umgebung gebracht werden. Zur Entwicklung von der traditionellen Hofschlachtung hin zu groß ausgelegten Schlachthöfen trugen erhöhte Hygienevorschriften bei. Technische Neuerungen sollen nun die Hygiene wieder zum Hof bringen und den Tieren den Transport ersparen.

Die rechtliche Situation

Die Schweiz erlaubt diese Form der Tötung seit 2020, allerdings ist sie durch die kantonale Behörde genehmigungspflichtig. In Deutschland gilt EU-Recht, das seit April 2021 den Mitgliedsstaaten zugesteht, mobile Schlachthäuser unter Einhaltung der Hygienebestimmungen für maximal drei Rinder, sechs Schweine oder drei als Haustiere gehaltene Einhufer (das sind z.B. Pferde) zu erlauben. Damit dürfte die Bedingung hinfällig sein, dass die Tiere das ganze Jahr über auf der Weide gehalten werden. Sowohl in der Schweiz als auch in Deutschland gelten folgende weitere Bedingungen: Bei der Tötung muss ein:e Tierärzt:in anwesend sein, die Zeit zwischen Betäubung und Ausbluten darf 60 Sekunden bei der Hofschlachtung bzw. 90 Sekunden bei der Weideschlachtung nicht überschreiten, das Tier muss innerhalb von 45 Minuten im Schlachthof zerlegt werden. Anträge auf Genehmigung sind von Viehhalter und Schlachthof gemeinsam zu stellen.

Der Ablauf

Beim Weideschuss werden die Tiere aus der Herde heraus mit einem Gewehr aus ca. 3-10 Meter Entfernung in die Stirn geschossen; dies löst eine irreversible Zerstörung des Hirns aus und entspricht dem Hirntod; d.h. das Blut zirkuliert weiter, das Empfinden ist aber nach aktuellem Stand der Wissenschaft ausgeschaltet. In Videos ist zu sehen, wie das getroffene Tier zusammenbricht, die umstehenden Tiere stieben beim Schussgeräusch auseinander, beruhigen sich aber schnell wieder. Laut Aussagen von Landwirten ist diese Art der Tötung sowohl für das geschossene Tier als auch für die anderen Herdenmitglieder stressfrei. Das betäubte Tier wird mit einer Hebevorrichtung, z.B. einem Traktor mit Frontlader, an den Beinen angehoben, durch Stich in den Hals direkt über dem Herzen ausgeblutet und danach auf dem Anhänger zum Schlachthof gefahren.
Bei der Hofschlachtung werden die Tiere spätestens ein paar Tage vor dem geplanten Schlachttermin an das Fanggitter mit Fressplatz gewöhnt. Am Tag der Schlachtung soll das ausgewählte Tier (oder eines der schlachtreifen Tiere) freiwillig das Fanggitter betreten. Es wird dann durch Umlegen eines Metallstabs am Kopf fixiert, bevor der Betäubungsbolzen direkt am Kopf angesetzt wird. Hier wird darauf hingewiesen, dass die Tiere frühzeitig an Berührungen an Kopf und Stirn gewöhnt werden sollen, ggf. mit einer Bolzenschuss-Attrappe. In einem der Videos ist zu sehen, wie das Tier schon mit dem angesetzten Bolzen sich nach dem Futtereimer streckt, was auf seine Ruhe hindeutet.
Nach der Betäubung wird das Tier mit einer Vorrichtung über den Schlachtanhänger gehoben, mit einem Stich ausgeblutet und auf einen speziellen Anhänger gelegt, in dem es zum Schlachthof gefahren wird.
Die Hofnahe Schlachtung funktioniert ähnlich, nur ist hier das Fressgitter Teil einer Mobilen Schlachteinheit; nach der Betäubung wird das Tier in die mobile Schlachtbox gezogen und dort in Seitenlage durch einen Stich in den Hals ausgeblutet. Die gesamte Schlachteinheit wird dann zum Schlachthof gefahren, wo das Tier zerlegt wird.

Anforderungen an die Schlachtung laut Koran

Relevant für den Verzehr von Fleisch sind im Koran vor allem die Verse 2:173, 5:3-5, 6:118-121, 6:145 und 16:115, die, nachdem sie im selben oder im vorhergehenden Vers grundsätzlich alle Nahrung erlaubt haben, gewisse Einschränkungen machen, nämlich das Verbot von Schweinefleisch, Verendetem (mayta) und Blut sowie von dem, das jemand anderem als Gott gewidmet (uḥilla) wurde; in einer Notlage sollen diese Einschränkungen aber nicht gelten. Vers 6:145 spezifiziert das Blut als ausgeflossenes und erklärt das Verbot des Schweinefleischs mit dessen Unreinheit, wobei nicht eindeutig ist, ob sich die Unreinheit auf das Fleisch oder das Schwein an sich bezieht; grammatikalisch möglich wären beide Varianten. 5:3-5 weicht etwas von den anderen Versen ab: zunächst werden die Verbote vorgestellt, erst danach die grundsätzliche Erlaubnis konstatiert; zudem wird das Verendete spezifiziert als das Erwürgte, das Erschlagene, das zu Tode Gestürzte, das zu Tode Gestoßene und das von wilden Tieren Angefressene, wiederum mit der Einschränkung dessen, was geschlachtet wurde (ʾillā mā ḏakkaitum), und was auf Steinaltären geopfert wurde. 5:4 gibt darüber hinaus die Erlaubnis zur Jagd mit abgerichteten Tieren und zum Verzehr des Gejagten, es soll aber der Name Gottes darüber erwähnt werden; Vers 5:5 gibt die Erlaubnis, die guten Dinge (ṭayyibāt) sowie die Speisen derjenigen, die die Schrift bekamen (d.h. Juden und Christen, je nach Verständnis auch weitere Religionsgruppen), zu essen, so wie diesen auch die Speisen der Angesprochenen (d.h. der Muslime) erlaubt sein sollen.
Erwähnt werden ferner vorislamische Speiseverbote, die der Koran zurückweist (6:143-144) bzw. bei den Juden als Ausnahme darstellt (6:146). In den Versen 118-121 der Sure 6 schließlich wird dazu aufgefordert, das zu essen, worüber der Name Gottes gesprochen wurde, aber sich dessen zu enthalten, worüber nicht der Name Gottes gesprochen wurde (ḏukira smu llāhi ʿalaihi bzw. lam yuḏkari smu llāhi ʿalaihi). Allerdings beschränkt der Wortlaut diese Vorgabe nicht auf tierische Produkte bzw. Fleisch; zum anderen wird auch nicht gesagt, wann der Name Gottes gesprochen werden soll.

Stellung der Tiere im Koran

Die Erwähnung von Tieren im Koran geht weit über die Verse zu Schlachtung und Verzehr hinaus, ihr Funktion ist vielfältig: Einerseits werden sie in ihrer Funktion für die Menschen hervorgehoben: als Nahrung (Fleisch und Milch), Schutz (Haut und Wolle), aber auch zum Transport oder aufgrund ihrer Schönheit (z.B. 16:5-8, 66, 80; 23:21-22; 36:71-73; 43:12-13); umgekehrt symbolisieren sie aber auch (minderwertige) weltliche Werte im Gegensatz zum höherwertigen Jenseits (Pferde in 3:14) oder sind eine Versuchung (Fische in 7:163) oder gar Hilfsmittel Satans (Pferde in 17:64). Einige Tiere wie Schweine und Affen (5:60; 2:65/7:166), aber auch Esel (31:19; 62:5) symbolisieren schlechte Eigenschaften des Menschen. Andere Tiere wie der Wiedehopf (27:20-29) und die Ameise (27:18-19) haben eine aktive Rolle und sprechen mit den Menschen; ein Rabe lehrt Kain, seinen Bruder zu bestatten (5:31); die Biene erhält gar Eingebung (waḥy) von Gott (16:68-69), und generell wird über die Landtiere und Vögel gesagt, sie seien Gemeinschaften wie die der Menschen (6:38) und beteten zu Gott (24:41). Verse wie 36:71, die die Herrschaft der Menschen über die Tiere konstatieren (als Tatsache, nicht als Erlaubnis), beklagen gleichzeitig den Hochmut der Menschen, die es versäumen, Gott für diese gute Versorgung zu danken.

Ist die Weideschlachtung mit islamischen Grundsätzen vereinbar?

Orientiert man sich ausschließlich an den im Koran gemachten Vorgaben, dürfte das Hauptproblem beim Verzehr von Fleisch aus Hof- oder Weideschlachtung sein, dass in den meisten Fällen vermutlich nicht die tasmiya (Bismillah, d.h. Im Namen Gottes, vgl. 6:121) gesprochen wurde. Hier ist nun die Frage, ob man durch Vers 5:5 die Notwendigkeit der tasmiya aufgehoben sieht oder nicht, ob diese vor der Schlachtung geschehen muss oder zu einem beliebigen Zeitpunkt vor dem Essen und ob man von der Gleichsetzung der in Deutschland lebenden Menschen mit ahl al-kitāb ausgeht. Interessant ist, dass zwei der in den Videos (s.u.) interviewten Bäuer:innen die Seele des Tieres erwähnen, was zumindest für eine spirituell geprägte Grundeinstellung spricht, die der im Koran bezeugten respektvollen Haltung gegenüber Tieren als Schöpfung Gottes nahekommt.
Zum anderen muss man selbst entscheiden, ob man den Hirntod und ggf. kompletten Tod einige Sekunden bis zu 1,5 Minuten vor der Entblutung als zu mayta führend betrachtet oder nicht. Ebenso könnte man den Bolzenschuss mehr noch als den Kugelschuss mit mawqūḏatu (zu Tode gestoßen) gleichsetzen. Auch hier steht aber ggf. Vers 5:5 als generelle Erlaubnis dem Verbot entgegen.
Umgehen liessen sich beide Probleme durch eine eigene Schlachtung, die die tasmiya einschließt, und statt des Bolzenschusses die (reversible) Methode der elektrischen Betäubung wählt, die allerdings auch die Gefahr der Überdosierung (mit Folge Herzstillstand) oder Unterdosierung (und damit mangelnde Betäubung und Verstoß gegen deutsches Gesetz) birgt.
Islamische Gelehrte haben sich schon seit hunderten von Jahren mit der Frage beschäftigt, welches die Prinzipien hinter den offenbarten Aufforderungen sind, um diese auf neu aufkommende Fragen anzuwenden (die sog. maqāṣid al-šāriʿ [Ziele der Scharia]). Auch wenn Tiere in den traditionellen Zielen nicht gesondert erwähnt wurden, sind sie doch in den damals herausgearbeiteten Zielen Leben (nafs) und Nachkommenschaft (nasl) nicht explizit ausgeschlossen. Freiheit von Leid war interessanterweise nicht unter den traditionell erarbeiteten Zielen, diese sind jedoch sowieso nicht zwangsläufig die einzig möglichen. Aus dem koranischen Verbot bestimmter Tötungsarten kann man ableiten, dass der Tod, wenn er denn stattfinden soll, möglichst schonend sein soll.

Fazit

Wie oft bei Fragen des Islam lässt sich auch bei der Frage der Zulässigkeit der Hof- und Weideschlachtung keine eindeutige Antwort geben.
Wenn man die grundsätzliche Erlaubnis der Speisen über die strenge Auslegung einiger Vorschriften stellt, wird man eher dazu kommen, dass Hof- und Weideschlachtung kein Problem für den Verzehr des Fleisches darstellen.
Mir persönlich scheint die stressarme Hof- bzw. Weidetötung eher mit dem Respekt vor der Schöpfung Gottes vereinbar. Diesen Respekt kann ich bekräftigen, indem ich vor dem Essen (generell und speziell von Fleisch) bismillah sage.
Im Zusammenleben wird man aber immer vor der Problematik stehen, dass viele Muslim:innen mehr Wert auf Ḥalāl-Zertifikate legen und diese oft strengere bzw. andere Kriterien anlegen. Im Zweifelsfall bleibt die Option vegetarischer Speisen, so dass alle guten Gewissens davon essen können.

Dieser Artikel ist die Kurzfassung einer Hausarbeit; Quellen können gern erfragt werden.

Die im Text genannten Videos zur Weideschlachtung sind hier zu finden:

https://www.youtube.com/watch?v=MLwhspkLKx4
https://m.youtube.com/watch?v=hE5omWWEwWQ
https://m.youtube.com/watch?v=r6dIiFGtOcU