Tradition

Replik auf Homosexualität und Islam Teil 2: Zwei Männer in Anzügen unter einem Regenbogen Regenschirm

Replik auf den Artikel über Homosexualität und Islam (2/2)

Vorbemerkung: dieser Artikel darf nur als Meinung des Gastautors angesehen werden. Die Betreiber oder andere Autoren der Seite sind nicht pauschal mit den Inhalten des Textes einverstanden.

Hat die Geschichte Lots etwas mit Homosexualität zu tun oder nicht?

Als Arabischsprechender ist mir diese Frage unverständlich. Weder in meinem früheren Sunni-Leben noch in den letzten 11 Jahren, als ich mich entschieden habe, den Qur’an als einzige göttliche Quelle meiner religiösen Überzeugung zu sehen, habe ich etwas anderes von der Geschichte Lots verstanden, als dass sie über den Unglauben und die Homosexualität seines Volkes spricht. Mein Verständnis der Geschichte Lots ergab sich immer direkt aus dem Qur’an, auch wenn ich natürlich die Details in der Sunna ebenfalls kannte, doch die Essenz, wonach es um Homosexualität geht, war mir beim wiederholten Lesen der Geschichte und ihrer Gegebenheiten im Qur’an stets klar.

Durch den Artikel von Bruder Amin fühlte ich mich aber gezwungen, mich tiefer mit der Geschichte auseinanderzusetzen – auf der alleinigen Grundlage des Qur’an.

Meiner Meinung nach sind Bruder Amin bei seiner ausführlichen Untersuchung einige Fehler unterlaufen, unter anderem:

1. Er hat sich nicht immer an seine Vorgabe gehalten, sich nur am Qur’an zu orientieren

2. Er hat bei der Übersetzung und seiner Interpretation das Qur’an-Arabisch und den Kontext zu wenig oder gar nicht berücksichtigt; ich werde das später genauer erklären.

Zum 1. Punkt:

Ich glaube wir sind uns alle einig, dass folgende Qur’anverse berücksichtigt werden müssen bei der ganzen Diskussion:

Genügt es ihnen denn nicht, daß Wir dir das Buch herniedergesandt haben, das ihnen verlesen wird? Wahrlich, hierin ist eine Barmherzigkeit und Ermahnung für ein Volk, das glaubt. [Qur’an 29:51]

So legen Wir die Verse dar, damit sie sagen können: „Du hast geforscht“, und damit Wir sie für die Leute, die Wissen haben, klar machen. Folge dem, was dir von deinem Herrn offenbart wurde, es ist kein Gott außer Ihm und wende dich von den Götzendienern ab. [Qur’an 6:105-106]

Das Buch Allahs soll uns genügen. Die Verse sollen wir genau lesen und gründlich untersuchen, dann macht Allah sie für die Wissenden klar.

Anschliessend folgt der ausdrückliche Befehl Allahs, dem zu folgen, was Er offenbart hat, denn es gibt niemanden ausser Ihm, der die Befehlsgewalt besitzt und die volle Wahrheit kennt.  Dabei mahnt Er uns, sich von denen abzuwenden, die der Vielgötterei, dem Schirk, huldigen. Leider hat Bruder Amin in seiner Argumentation nicht darauf vertraut. Obwohl er 43 Verse über und rund um die Geschichte Lots erwähnt hat, bediente er sich sage und schreibe 18 zusätzlicher Quellen, um sein beabsichtigtes Verständnis der Geschichte von Lot zu untermauern. Bedarf der Qur’an tatsächlich der Nachhilfe, ist er allein zu undeutlich?

Folgt dem, was zu euch von eurem Herrn herabgesandt wurde, und folgt keinen anderen Beschützern ausser Ihm. Wie wenig seid ihr (dessen) eingedenk!  [Qur’an 7:3]

Wenn der Qur’an so unverständlich gewesen wäre, hätten die Quraischiten zu Lebzeiten desGesandten Muhammads, Friede mit ihm, einen willkommenen Beweis gehabt, dass der Qur’an gar nicht von Gott sein könne.  Die damaligen Araber sagten aber nie, dass der Qur’an undeutlich sei, im Gegenteil! Weil sie ihn sehr wohl verstanden, aber ihnen der Inhalt nicht immer passte, forderten sie einen anderen, der ihren Neigungen eher entsprechen würde. Darüber steht folgendes:

Und wenn ihnen Unsere deutlichen Verse verlesen werden, sagen jene, die nicht mit der Begegnung mit Uns rechnen: „Bring einen Qur’an, der anders ist als dieser oder ändere ihn.“ Sprich: „Es steht mir nicht zu, ihn aus eigenem Antrieb zu ändern. Ich folge nur dem, was mir offenbart wurde. Ich fürchte, falls ich meinem Herrn ungehorsam bin, die Strafe eines gewaltigen Tages.“ [Qur’an 10:15]

Gegenstand der damaligen Auseinandersetzung war also nicht das Verständnis, sondern der Gehorsam gegenüber dem Qur’an.

Das ist genau der Gehorsam, den Allah von mir, Bruder Amin und allen, die an Ihn glauben, verlangt, nämlich dem Buch und nur dem Buch allein zu folgen.

Das Verständnis der Botschaft des Qur’ans und seinen Details entnimmt ein Muslim dem Qur’an selbst. Mit der Zeit entwickelt man das Gespür, wie er die Glaubensprinzipien beschreibt, die Gebote und Verbote vermittelt, die vielfältigen Geschichten erzählt, damit daraus Lehren gezogen werden können, und wie er eine Orientierung für unser Leben und ein Licht von Allah zur klaren Sicht der Dinge ist.

Die 18 ausserqur‘anischen vom Autor zitierten Quellen bestehen aus Lexikon Referenzen, der „geographische Geschichte des Qur’ans“ von Muzzafar ud-Din Nadvi,  Wortbedeutung von Günter Lüling in seinem Buch „Über den Ur-Quran“, Muhammad Alis Kommentaren zu seinem „The Holy Quran“, Reclams Bibellexikon, dem Archäologischem Bibel-Lexikon, Wikipedia, „Homosexuality and the Western Christian Tradition“ von Derrick S. Bailey, „Kulturgeschichte des Orients“ von Alfred von Kremer, „Rabbinic Legends in Hadith“ von Samuel Rosenblatt, The Jewish Encyclopedia, The Authenticity of the Tradition Literature von Juynboll und von E.W. Lane in seinem „Arabic-English Lexicon“. Von letzterem hat sich der Bruder bestätigen lassen, dass Lot ja „faithful“, also ehrlich gewesen sei.

Ich bin der Überzeugung, dass wir all dies nicht brauchen, denn alle Geschichten im Qur’an wurden uns von unserem Schöpfer erzählt.

Wir berichten dir die schönsten Geschichten dadurch, daß Wir dir diesen Qurʾān (als Offenbarung) eingegeben haben, obgleich du zuvor wahrlich zu den Unachtsamen gehörtest. [Qur’an 12:3]

Wer ist denn besser als Allah, um uns die Geschichten von früheren Propheten und Gesandten mit ihren Völkern wahrheitsgetreu zu erzählen?

Und Wir berichten dir von den Geschichten der Gesandten, um dein Herz zu festigen. Und hierin ist die Wahrheit zu dir gekommen und eine Ermahnung und eine Erinnerung für die Gläubigen. [Qur’an 11:120]

Das Festigen des Herzens geschieht ausschliesslich über die Wahrheit, die man durch das Wort des Barmherzigen erfährt. Wenn das für unseren geliebten Propheten eine Bedingung war, an die er sich halten musste, wie kann das für uns anders sein?

Bei einer der erwähnten Quellen war ich besonders schockiert. Haben wir wirklich die Hilfe von jemandem nötig, der im Grunde den Qur‘an schmähen will? Günter Lülings Buchtitel wurde im Artikel nur zum Teil zitiert. Der vollständige Titel bei Amazon lautet:

Über den Ur-Qur’an. Ansätze zur Rekonstruktion vorislamischer christlicher Strophenlieder im Qur’an, Gebundene Ausgabe – 1. Januar 1974 von Günter Lüling (Autor)

Ur-Quran? Ich konnte meinen Augen kaum glauben, als ich diese gewagte Buchbenennung gelesen habe. Mehr Zeit verlieren über einen solchen Affront gegen Allah und Sein Buch möchte ich nicht, obwohl ich einiges mehr dazu zu sagen hätte.

Ich zitiere aber den werten Lesern einen kleinen Ausschnitt aus einer Rezension dieses Buches, welche in der FAZ (Frankfurter Allgemeine Zeitung) erschienen ist und so lautet:

Günter Lüling, deutscher Orientalist und Theologe, verbirgt sich nicht hinter einem „nom de plume“. Seit vierzig Jahren bemüht er sich um ein angemesseneres Verständnis des heiligen Buches der Muslime. Und was er vorzubringen hat, ist brisant vor allem für jene, die immer auf der Unantastbarkeit von Texten und Überzeugungen beharren.

Die ganze Rezension kann man unter dem folgenden Link abrufen: Über christliche Strophen im Koran. Sie setzt leider eine Registrierung für Nicht-Abonnierte voraus.

Lassen wir lieber den Qur’an zu Wort kommen:

Mit dir werden weder die Juden noch die Christen zufrieden sein, bis du ihrem Bekenntnis gefolgt bist. Sprich: „Die Rechtleitung Allahs ist doch die wahre Rechtleitung.“ Und wenn du ihrem Ansinnen folgst, nachdem zu dir das Wissen gekommen ist, so wirst du vor Allah weder Freund noch Helfer haben. [Qur’an 2:120]

Wer aber als Religion etwas Anderes als den Islām begehrt, so wird es von ihm nicht angenommen werden, und im Jenseits wird er zu den Verlierern gehören. [Qur’an 3:85]

Bruder Amin hat also einerseits „fremde Hilfe“ geholt in ausserqur’anischen Quellen, um seine Interpretationen zu untermauern, doch gleichzeitig dort, wo sie ihm nicht passten, einschränkend angefügt:

„Der Sodom-Mythos ist nichts weiter als eine Art Fabel, phantasievolle Erfindung, auf die sich die Generation der mawâlî als ehemalige Christen und Juden stützte. Diese Worte sind eine zu schwache Basis als Argument in einer Interpretation. So können wir uns nur an die Worte des Qur’âns halten.“

Ich finde, nur weil Konfessionsmuslime, Christen und Juden trotz ihrer zum Teil falschen Überzeugungen an der Ablehnung der gelebten Homosexualität festhalten, heisst das nicht automatisch, dass das Gegenteil richtig ist. Dass er sich nur an die Worte des Qur’an halte, hat der Autor, wie vorhin erklärt, nicht ganz eingehalten.

Kommen wir zum 2. Punkt: Falsches Verständnis diverser Qur’anworte.

Ich möchte meinen Geschwistern ein paar Schlüsselverse des Qur’an zukommen lassen über das Volk Lot, damit sie selbst urteilen können, was der eigentliche Sinn sein könnte.

Ich stelle beide Übersetzungen einander gegenüber.

1. Übersetzung

Diese ist die gängige und auf Qur’an-Arabisch sinngemässe Übersetzung. Allah sagt:

Und (Wir sandten) Loṭ, als er zu seinem Volk sagte: „Wollt ihr denn das Abscheuliche begehen, wie es vor euch niemand von den Weltenbewohnern begangen hat? Ihr laßt euch doch wahrlich in Begierde mit den Männern ein anstatt mit den Frauen. Aber nein! Ihr seid maßlose Leute. [Qur’an 7:80-81]

2. Übersetzung

Bruder Amin hat diese Verse gemäss seinem Verständnis so umgeschrieben:

Und [Wir entsandten] Lot, da er zu seinem Volk sprach: „Wollt ihr etwas Abstoßendes begehen, worin keiner in aller Welt euch vorangegangen ist. Ihr kommt zu Männern bei einem Begehren, nicht [auch] zu den Frauen. Nein, ihr seid ein das Maß überschreitendes Volk [qaum musrifûn].“ (Qur’an 7:80-81)

Schon bei näherem Betrachten der 2. Übersetzung und bevor wir auf die arabische Fassung eingehen, sieht jeder mit gesundem Menschenverstand, dass diese Interpretation entstellt ist.
Denn wie könnte ein kollektives Kommen mit einem Begehren zu Männern und nicht auch zu den Frauen etwas derartig Abstossendes sein, dass es niemand von den Weltenbewohnern vor der Zeit Lots begangen hat?
Und was könnte daran masslos bzw. überschreitend gewesen sein? Ausserdem, wo steht im Qur’an auch nur einmal, dass es ein Vergehen ist, mit einem Begehren (im Sinne von Wunsch) nur zu den Männern und nicht auch zu den Frauen zu kommen?
Der Autor will uns glaubhaft machen, Allah habe zwar etwas Abstossendes beanstandet, aber nicht näher erklärt, worum dies genau geht. Ist nicht der Qur’an in all seinen Verboten sehr deutlich? Und ausgerechnet hier sollen wir mit einem Rätsel alleingelassen werden?
Wie könnte uns dann diese Geschichte als Lehre dienen, wenn wir nicht einmal wüssten, was genau so abstossend und mass- oder soll ich sagen, grenzüberschreitend war?
Die Geschichte Lots ist klar und eindeutig, und ich werde im Folgenden vertieft darauf eingehen:

Untersuchen wir jetzt die arabischen Worte im Vers; allem voran der Ausdruck „Kommen“.
In der 2. Übersetzung wird dieses Wort als das Gegenteil vom „Gehen“ wiedergegeben. Hier liegt der eigentliche Fehler beim Verständnis dieses Wortes. Bruder Amin denkt, es handle sich um ein Kommen oder nicht Kommen mit einem Begehren. Aber leider können Unkenntnis und Vernachlässigung der Besonderheit vom Qur’an-Arabisch, sowie die ungenaue Übersetzung vom klassischen Arabisch in die Irre führen.
Das Wort „a’taa (Vergangenheitsform)/ya’ty (Gegenwartsform)“ im Qur’an ist ein Wort mit einem breiten Sinnspektrum (Engl. umbrella term), das je nach Kontext verschieden verstanden werden kann. Der Stamm dieses Wortes bildet sich aus den Buchstaben hamza tā yā (أ ت ي) und kommt 549x im Quran vor.

Hier ein paar Beispiele mit Erklärung, welche Bedeutung das Wort annehmen kann.

Und wenn ihr im Zweifel seid über das, was Wir auf Unseren Diener herabgesandt haben, so bringt (fa’atu) doch eine Sura gleicher Art herbei und beruft euch auf eure Zeugen außer Allah, wenn ihr wahrhaftig seid. [Qur’an 2:23]

Hier ist klar: mit dem Verb in der Befehlsform (bringt =„fa’atu“) ist nicht ein Kommen gemeint, sondern ein Bringen, im Sinne vom Vorweisen, um die von Allah gestellte Herausforderung anzunehmen und eine Sura wie im Qur’an zu verfassen mit dem Ziel, dessen göttlichen Ursprung abzustreiten.

Und diejenigen, die kein Wissen besitzen, sagen: „Warum spricht Allah nicht zu uns und sendet uns (ta’tina) kein Zeichen?“ So, wie sie reden, redeten auch diejenigen vor ihnen. Ihre Herzen sind einander gleich. Wir haben die Ayat klargemacht für Leute mit sicherem Glauben. [Qur’an 2:118]

In diesem Vers wird dagegen das Wort „ta’tina“ mit „sendet uns“ im Sinne von „zu uns herabkommt“. Denn selbstverständlich haben die Zeichen keine wirklichen Beine, um zu den Verleugnern des Qur’ans zu kommen.

Sie fragen dich nach den Neumonden. Sprich: „Sie sind festgesetzte Zeiten für die Menschen und den Hagg.“ Und es ist keine Frömmigkeit, wenn ihr Häuser von der Rückseite betretet. Frömmigkeit ist vielmehr, (Allah) zu fürchten. So geht (ta’tu) in die Häuser durch ihre Türen hinein und fürchtet Allah. Vielleicht werdet ihr erfolgreich sein. [Qur’an 2:189]

Hier wird das Wort (betretet=„ta’tu“) vom selben Wortstamm verwendet und es ist klar, was damit gemeint ist.

Jetzt stelle ich dem Lot-Vers einen anderen Vers gegenüber, bei dem dasselbe Wort „ta’tuna“ verwendet wird und der dieselbe Bedeutung hat wie beim Vers 7:81:

Und sie befragen dich über die Menstruation. Sprich: „Sie ist ein Leiden. So haltet euch von den Frauen während der Menstruation fern und kommt ihnen nicht nahe (la taqrabuhunna), bis sie rein sind; und wenn sie rein sind, dann geht zu ihnen (fa’tuhunna), wie Allah es euch geboten hat. Wahrlich, Allah liebt diejenigen, die sich (Ihm) reuevoll zuwenden und die sich reinigen.“ [Qur’an 2:222]

Das Verb „kommt ihnen nicht nahe“ hat nichts mit dem Verb „a’ta“ zu tun, das wir jetzt am Analysieren sind. Auf Arabisch heisst es „la taqrabuhunna“ im körperlichen Sinne, damit man sich nicht in Lust hineinsteigert und haram begeht – (Engl.  don’t come close to them).

Die deutsche Übersetzung ist recht dürftig, denn es heisst einfach „geht zu ihnen wie Allah euch geboten hat“. Wir schauen zuerst einmal, wie es tönt, wenn wir es wortwörtlich wiedergeben: 

Wenn sie rein sind, dann kommt ihnen, wie Allah es euch geboten hat“. Das tönt auf Deutsch ungewöhnlich, aber es gibt uns dennoch einen Hinweis wie es im Qur’an auf Arabisch formuliert wird.

Im Vers 2:222 steht: Kommt ihnen (den Frauen) = fa’tuhunna  (Befehlsform)

Im Vers 7:81 steht:  Ihr kommt den Männern = ta’tuna Rijaala (Indikativ)

Also keine Präposition, kein Bindewort, nichts. Wir stellen demnach fest, nur um die Genauigkeit der Beschreibung im Qur’an wiederzugeben, dass zwischen Kommt und ihnen bzw. kommt und den Männern nichts steht; was eine unmittelbare Aktion beschreibt.

Im Vers 2:222 geht es klar um einen sexuellen Akt mit den eigenen Frauen, nachdem sie sich von ihrer Periode gereinigt haben. Und wenn es steht: Wie Allah euch geboten hat, dann heisst das, dass die Männer in den Ort einzudringen dürfen, jetzt, wo er wieder rein ist; und zwar in die Scheide, weil nur diese zuvor Menstruationsblut enthielt und jetzt wieder davon befreit, also völlig rein und nun zum Geschlechtsverkehr geeignet ist.

Im darauffolgenden Vers steht:

Eure Frauen sind ein Saatfeld für euch: darum bestellt euer Saatfeld wie ihr wollt. Doch schickt (Gutes) für euch voraus. Und fürchtet Allah und wisset, daß ihr Ihm begegnen werdet. Und verheiße den Gläubigen die frohe Botschaft. [Qur’an 2:223]

Damit weiss jeder Muslim, dass das Saatfeld in Zusammenhang mit Frauen steht, dem Empfängnisort der Saat; wo nach dem Koitus die Samen eintreten, wo dann nach der Verschmelzung mit der Eizelle der Frau, wenn Allah will, ein neues Leben entsteht. Das kommt bekannterweise mit einem Geschlechtsakt zustande.

Der Vers 2:222 lehrt uns darüber hinaus zwei weitere wichtige Dinge im Hinblick auf die eheliche Sexualität:

1. Allah beschreibt mit einfachen, aber anständigen Worten die Intimität des Geschlechtsverkehrs und lehrt uns als Gesellschaft, wie wir auch ohne vulgäre Sprache über Sexualität reden können.

2. Allah weist nur auf einen einzigen Ort für den Geschlechtsverkehrt hin: die Scheide. Das zeigt uns hier wieder deutlich, dass Homosexualität haram ist. Denn wenn sie erlaubt gewesen wäre, würde Allah den Männern auch mit ihren Frauen dasselbe erlauben, was die Homosexuellen miteinander zu tun pflegen, ohne die Tage der Periode abzuwarten, wenn sie die Lust zum Geschlechtsverkehr verspüren würden. Dann hätte die Aussage: „So haltet euch von den Frauen während der Menstruation fern und kommt ihnen nicht nahe, bis sie rein sind“ gar keinen Sinn gemacht.

Jetzt wird uns anhand von demselben Wort in beiden Versen 2:222 und 7:81 klar, dass sich in der Geschichte Lots die Männer seines Volks geschlechtlich aneinander vergingen. 

Wie wir sehen können, ist es durchaus möglich, nur mit dem Qur’an allein zur Gewissheit zu kommen, ohne sich anderer Quellen zu bedienen wie Yusuf Alis, Ibn-Kathirs, Al-Qortobis oder At-Tabaris, Ibn-Aashurs oder einer Wortanalyse wie bei Günter Lüling mit seinem angeblichen Ur-Quran oder vom wem auch immer von der sogenannten Gelehrsamkeit.

Alle Muslime könnten selbst und direkt aus dem Qur’an schöpfen und dabei die Rechtleitung und viel Barmherzigkeit erlangen. Bedingungen dafür sind die aufrichtige Absicht, nur den Qu’ran als alleinige Quelle zu nehmen, die eigenen Neigungen abzuwehren, das spezielle Qur’an-Arabisch im Blick zu behalten, schauen, wo die verwendeten Worte sonst noch im Qur’an vorkommen und welche Bedeutung sie dort im Kontext haben und themenähnliche Verse im ganzen Qur’an berücksichtigen, um den Sinn von kontrovers diskutierten Stellen zu erfassen.

An dieser Stelle bin ich fertig mit der Abhandlung dieses 2. Kapitels.

Diejenigen, die sich mit dem Qur’an-Arabisch genauer auseinandersetzen möchten oder gerne erfahren würden, welche anderen Worte noch im Artikel vom Bruder Amin umgedeutet bzw. falsch interpretiert wurden, dürfen gerne weiterlesen. Ich werde aus Zeitgründen nicht alle problematischen Worte besprechen können, aber sicher einige, die meiner Meinung nach prioritär sind.

Unkenntnis des Qur’an-Arabisch kann ungeachtet der guten Absichten zu verheerenden Irrtümern führen. Es geht nicht hier um Fehlerfreiheit, weil das menschlich unmöglich ist, sondern darum, das Menschenmögliche zu unternehmen, Fehler zu vermeiden. Wenn man trotzdem unbeabsichtigt einen Fehler begeht, so sieht Allah uns und ist mit uns Gnädig:

…Und wenn ihr versehentlich darin gefehlt habt, so ist das keine Sünde von euch, sondern (Sünde ist) nur das, was eure Herzen vorsätzlich tun. Und Allah ist wahrlich Allverzeihend, Barmherzig. [Qur’an 33:5]

Bruder Amins Darlegungen haben wahrscheinlich für viele Menschen etwas Anziehendes, da sie liberal und progressiv daherkommen und viele Muslime sich den Islam als vereinbar mit den heutigen und hiesigen Wertvorstellungen wünschen würden. Wir dürfen uns jedoch nicht von unseren Wünschen blenden lassen, sondern sind in der Pflicht, zu untersuchen, was Allah will und uns dann daran zu halten – auch wenn es uns vielleicht nicht gefällt. In einem ersten Schritt müssen wir also unser Gewissen befragen und im zweiten Schritt uns gründlich mit der Materie auseinandersetzen.

Am Tag der Abrechnung werden wir alle vor Allah stehen und persönlich über unsere Taten befragt werden. Deshalb sind die persönliche Bemühung und die eigene Verantwortung so wichtig. Es ist besser, sich nach bestem Wissen und Gewissen selbst zu bemühen, das Buch Allahs zu verstehen und sich seine Meinung nach Anhörung von anderen Menschen selbst zu bilden, und vielleicht sogar einmal Fehler zu machen, als dass man blindlings einem Menschen folgt.

Das bedeutet, dass die werten Leser auch meine Ausführungen, wie ich im 1. Kapitel schon sagte, genau unter die Lupe nehmen sollten und sich vergewissern müssen, ob das, was ich sage, Sinn macht und vor allem, ob es mit dem Geist des Islams, welcher nur im Qur’an zu finden ist, übereinstimmt. Schlussendlich muss jeder selbst die Konsequenzen tragen und vor Allah verantworten.

Folgendes habe ich bei Bruder Amins Interpretation zu beanstanden:

– dass zusätzliche Worte in die Verse eingeschoben werden, die in der arabischen Version gar nicht vorkommen. Damit wird deren intuitive Bedeutung entfremdet

– dass bestimmte Worte bei der Deutung verwässert werden, so dass sie mit dem eigentlichen arabischen Begriff nicht mehr übereinstimmen

– dass Verse so entstellt werden, dass eine ganz andere und fremde Lehre daraus gezogen werden kann, als die darin unmittelbar Wahrgenommene

– dass zusammenhängende Geschichtsteile voneinander abgetrennt und so von ihrem Sinn wegplatziert werden, weil sie keine richtige Einheit bilden

– dass sprachliche Finessen des Qur’ans nicht beachtet werden

– dass selektiv nur eine Seite gewisser Geschichten im Qur’an erzählt wird, um die eigene Meinung zu bekräftigen, aber andere Teile derselben verschwiegen werden, weil sie sonst einen anderen Sinn erhalten hätten, als vom Autor gewünscht

– dass gewisse Tatsachen verleugnet werden, damit das Resultat der eigenen Überzeugung nicht zuwiderläuft

– dass fremde Gegebenheit miteinbezogen werden, die keinen nachvollziehbaren Bezug zur eigentlichen Geschichte haben

– dass die Wahrheit Allahs zurückgewiesen wird

– dass Verse, welche vom Sinn her ähnliche Worte enthalten, die erlauben würden, sich das richtige Verständnis anzueignen, nicht beachtet werden

Für jeden der vorgebrachten Punkte werde ich mindestens ein Beispiel geben.

Als Übersicht über die Ausdrücke im Qur’an, deren Sinn Bruder Amin geändert hat, habe ich die folgende Liste erstellt mit der deutschen Übersetzung, deren Transliteration (Umschrift) sowie der arabischen Schrift. Ich gehe auf jedes Wort danach einzeln ein und zeige, was daran falsch ist:

  1. Das Volk = (Qaum / قَوْم) als Mann und Frau – Vers 7:80
  2. Nicht [auch] mit Frauen = (min dunin Nisa’i / مِنْ دُونِ النِّسَاءِ)  – Vers 7:81
  3. Etwas Abstossendes = (Al fahischah / الْفَاحِشَةُ) – Vers 7:80
  4. Ein Begehren = (Schahwatan / شَهْوَةً) – Vers 7:81
  5. Sich nicht am Kult fremder Götter beteiligen (yatathahharuun = يَتَطَهَّرُونَ ) – Vers 27:56
  6. Die Gesandten als einfache, fremde Leute (Al-Mursalun = الْمُرْسَلُونَ ) – Vers 15:61
  7. Leute, die man in der aussichtlosen Situation besser verleugnet (Qaumun munkarun = قَوْمٌ مُنْكَرُونَ) – Vers 15:62
  8. Ihn von seinen Gästen abwendig zu machen (raauaduhu a’an dayfih = رَاوَدُوهُ عَنْ ضَيْفِهِ) – Vers 54:37
  9. Dies sind meine Töchter [nehmt sie als Garanten für mein und meiner Gäste Wohlverhalten (ha u’lai Banati in kuntum fa’ilyn = هَؤُلَاءِ بَنَاتِي إِنْ كُنْتُمْ فَاعِلِينَ) – Vers 15:71

Alle oben aufgelisteten Worte von 1-9 auf Deutsch sind Übersetzungen in Versen, die Bruder Amin gemäss seinem Verständnis umgeschrieben hat.

Jetzt zu den ausführlichen Erklärungen

1. Die Übersetzung:  Das Volk (Qaum = قَوْمْ) als Mann und Frau – Vers 7:80

Bruder Amin schrieb:

„Die traditionelle Argumentation führt als Beleg für ein Verbot von Homosexualität die Verse über Lot und sein Volk an.

Was aber sagen diese Verse tatsächlich aus?

Kein Wort im Qur’ân deutet an, dass die Passagen von Lot und seinem Volk im sexuellen Sinne zu verstehen seien. Ganz im Gegenteil. Es gibt 4 Passagen (7:80-81; 26:165-166; 27:54-55; 29:28-29), in denen Lot sein Volk tadelt, die alle mit denselben Worten eingeleitet werden.

“wa lûTan id qâla li-qaumi-hi” (و لوطا اذ قال لقومه)   , „und (gedenke) Lots, als er zu seinem Volk (allen Männern und Frauen) sprach“ in mehreren Koranversen.

Der Leser wird in allen diesen Fällen besonders darauf hingewiesen, dass Lot alle Männer und Frauen seines Volkes, seiner Leute, in seinen Tadel einschliesst.“

Der Autor behauptet, der Tadel sei an beide; Männern und Frauen gerichtet. Wenn er aber erwartet, dass Allah bei einem Tadel, bei dem nur die Männer angesprochen sind, folgendes sagen würde: „Und gedenke Lots, als er zu den Männern sprach…!“ oder „als er (Lot) sagte: Oh ihr Männer…“, dann liegt er falsch. Denn das ist nicht die Art, wie die Propheten die Menschen ansprechen. Ebenfalls gibt es nirgendwo im Qur’an eine direkte Rede Allahs, die nur an die Männer gerichtet ist.  Er spricht sie an, aber ohne sie direkt mit ihrem Geschlecht zu rufen. Die Begriffe Mann/Frau bzw. Männer/Frauen oder deren Personalpronomen kommen zwar schon vor, aber nicht als direkte Rede. Wenn sie auftauchen, wissen wir, wer gemeint ist. Wenn nicht, dann ist es der Kontext selbst, der uns zeigt, ob es sich um Männer allein, Frauen allein oder um beide handelt, wie übrigens in jeder Sprache.

Qaum bedeutet im allgemeinen Sinne tatsächlich Volk, Männer und Frauen zusammen, kann aber auch je nach Zusammenhang ein Geschlecht betreffen, wie hier in Lots Geschichte, wo nur Männer angesprochen werden. 

Was lässt mich so sicher sein?

Der Beweis dafür, dass damit nur Männer gemeint sind, liefert uns das nächste Wort, sprich „statt mit den Frauen“, aus denselben Versen, die wir hier untersuchen, nämlich 7:80-81:

In Bruder Amins Übersetzung steht:

Und [Wir entsandten] Lot, da er zu seinem Volk sprach: „Wollt ihr etwas Abstoßendes begehen, worin keiner in aller Welt euch vorangegangen ist. Ihr kommt zu Männern bei einem Begehren, nicht [auch] zu den Frauen. Nein, ihr seid ein das Maß überschreitendes Volk [qaum musrifûn].“ Koran 7:80-81

In der nach Qur’an-Arabisch sinngemässen Übersetzung steht:

Und (Wir entsandten) Lot, da er zu seinem Volke sagte: „Wollt ihr die Schandtat begehen, wie sie keiner in der Welt vor euch je begangen hat?

Ihr gebt euch in (eurer) Sinnenlust wahrhaftig mit Männern statt mit Frauen ab. Nein, ihr seid ein ausschweifendes Volk.“ [Qur’an 7: 80-81]

Bruder Amin fügt in eckigen Klammern das Wort „auch“ zu den Frauen ein und gibt diesen Teil mit dem folgenden Wort wieder als:

2.  Nicht [auch] zu Frauen kommen (min dunin Nisa’i = مِنْ دُونِ النِّسَاءِ

Es ist also klar, dass es sich beim Wort in den eckigen Klammern um einen Einschub handelt, den es in der Originalfassung des Verses nicht gibt. Dieser Einschub widerspiegelt nur das, was Bruder gerne vom Vers verstehen will, nicht das, was der Vers ohne diesen eingeschobenen Zusatz tatsächlich ausdrückt. Diese Tatsache ist Bruder Amin bewusst deshalb setzte er die eckigen Klammern ein.  Diese Art der Übersetzung mit Zusätzen bzw. eckigen/runden Klammern ist sehr verbreitet, weil die Übersetzer für den eigentlichen Sinn des Qur’an-Arabisch keine hundertprozentige Entsprechung in der deutschen Sprache vorfinden. Sie versuchen so mit ihren Einschüben das Übersetzungsdefizit auszugleichen und eine ungefähre Bedeutung zum besseren Verständnis des Verses wiederzugeben. In der vorliegenden Übersetzung von Bruder Amin ist der Einschub aber nicht nötig gewesen. Denn es gibt nicht mehr zu deuten als das, was schon im Vers enthalten ist und der ist ganz klar. Jeder arabischsprachige Mensch würde in diesem Einschub auf Deutsch den Qur’ansinn nicht wiedererkennen. Deshalb stellt der unnötige Zusatz „auch“ eine Verfälschung vom eigentlichen Sinn des Verses dar.

Im Qur’an-Arabisch wird das Wort „auch“ mit (wa =  وَ ) mit „und“ oder „zusätzlich“ formuliert wie im folgenden Vers:

Und als Abraham von seinem Herrn durch Worte geprüft wurde und er diese vollbrachte, (da) sprach Er: „Ich werde dich zu einem Imam für die Menschen machen.“ Da bat Abraham: „Auch (wa) von meiner Nachkommenschaft.“ Er sprach: „Mein Versprechen erstreckt sich nicht auf die, die Unrecht tun. „[Qur’an 2:124]

Die Kombination [nicht auch] kommt nie im Qur’an vor! Es gibt daher ein grosser Unterschied zwischen den Sätzen:

Ihr kommt zu Männern, nicht zu den Frauen

Und

Ihr kommt zu Männern, nicht auch zu den Frauen

Beim ersten Satz lautet Lots Tadel so:

Weshalb kommt ihr zu den Männern, anstatt dass ihr zu den Frauen kommt? Es ist ein Ersatz, nicht ein Zusatz.

Die von Lot gewünschte Verhaltensänderung seines Volkes würde heissen: zu den Männern? Nein! – Zu den Frauen? Ja.

Beim zweiten Satz lautet der Tadel so:

Wenn Ihr zu Männern kommt, weshalb kommt Ihr nicht auch zu den Frauen? Es ist ein Zusatz, kein Ersatz.

Die von Lot gewünschte Verhaltensänderung seines Volkes würde heissen: zu den Männern? Ja! – Zu den Frauen? Ja.

Das eingeschobene „auch“ mit „nicht“ davor wurden als gleichwertig zum Arabischen (مِنْ دُون   = min duuni) geschrieben.  Das ist qur’anfremd und deshalb falsch.

Schauen wir anhand eines beliebigen Satzes mit der gleichen Konstruktion aus dem Qur’an, was passieren könnte, wenn wir Bruder Amins Übersetzung von (مِنْ دُون  = min duuni)  als „nicht auch“  übernehmen würden:

– Ohne Einschub: …Und wer sich Satan statt (مِنْ دُون  = min duuni ) Allah zum Beschützer nimmt, der hat sicherlich einen offenkundigen Verlust erlitten [Qur’an 4:119]

– Mit Einschub: …Und wer sich Satan, nicht (لَيْسَ) auch (كَذَلِكَ) Allah zum Beschützer nimmt, der hat sicherlich einen offenkundigen Verlust erlitten [Qur’an 4:119]

Mit dem Einschub würde das bedeuten: Es genügt nicht, nur Satan als Beschützer zu nehmen, sondern auch Allah muss als Beschützer genommen werden, wer nicht beide zusammennimmt, hat gewiss einen offenkundigen Verlust erlitten!!

Ist das wirklich, was Bruder Amin will, dass wir unter (مِنْ دُون  =min duuni) verstehen?

Es gibt etliche Verse mit (مِنْ دُون), die immer dasselbe bestätigen, nämlich, dass es statt/anstatt bedeutet wie in: 2:23, 2:94, 2:107, 2:156, 3:28, 3:64, 5:116 usw.

Ein weiterer Beweis, dass mit Qaum bzw. dem Volke Lots ausschliesslich Männer gemeint waren, weil sie Homosexualität praktizierten, ist auch der Tadel über ihren Raub von Menschen und das Verwerfliche, dass sie an ihren Versammlungen zu machen pflegten:

Und da sagte Lot zu seinem Volk: „lhr begeht eine Schändlichkeit, die keiner von allen Menschen je vor euch begangen hat. [Qur’an 29:28]

Vergeht ihr euch tatsächlich an Männern und macht die Wege unsicher? Und bei euren Versammlungen begeht ihr Abscheuliches!“ Jedoch die Antwort seines Volkes waren nur die Worte: „Bringe Allahs Strafe über uns, wenn du die Wahrheit redest.“ [Qur’an 29:29]

Wenn Männer und Frauen gemeint wären, dann müssen wir uns vorstellen, dass auch Frauen sich bei Überfällen beteiligten haben, und dass sie dies vielleicht mit Pferden, Kamelen oder sogar zu Fuss, mit Kampfausrüstung und Waffengewalt taten. Das sind unglaubliche Frauen, die zurzeit Lots lebten. Sie wären ja fortschrittlicher, selbstbewusster, gewalttätiger gewesen – alles selbstverständlich im negativen Sinne, – als alle Frauen vor ihrer Zeit. Sogar wenn es sich so zugetragen hätte – es wäre genau das Gegenteil von dem, was Bruder Amin zu demonstrieren versuchte mit seiner unbelegten Erklärung des Wortes „Abstossenden“, nämlich, dass Frauen zurzeit Lots benachteiligt waren, wenn er sagt:

Es ist ein historisch erstmaliges, sozial einzustufendes Phänomen, das nichts mit sexuellem Verhalten zu tun hat, sondern mit der Rechtlosigkeit und der untergeordneten Rolle der Frauen, die von allen Männern und Frauen als gegeben akzeptiert wird, so dass von beiden Gruppen nur Männer bei wichtigen Angelegenheiten (schahwa) konsultiert werden.“

Wie kann das zusammenpassen? Einerseits nahmen gemäss Autor damals die Frauen eine untergeordnete Rolle ein, welche alle als normal akzeptierten und bei wichtigen Angelegenheiten wurden nur die Männer gefragt um Rat gefragt, nicht die Frauen. Andererseits wären doch Frauen an Überfällen beteiligt gewesen, was zwingend auch eine wichtige Begebenheit ist, denn sonst hätte Allah dieses «Unsicher-machen-der-Wege» nicht erwähnt.

Auch diese beiden Verse zeigen uns klar, dass der Tadel nur die Männer betraf:

Vergeht ihr euch unter allen Geschöpfen an Männern [Qur’an 26:165]

und lasset eure Frauen (beiseite), die euer Herr für euch geschaffen hat? Nein, ihr seid ein Volk, das die Schranken überschreitet.“ [Qur’an 26:166]

Hier braucht niemand ein Experte des Qur’ans oder der arabischen Sprache zu sein, um den Sinn zu verstehen.

Der Vers sagt genau:

 eure Frauen

 die euer Herr für euch geschaffen hat

Der Autor hingegen sagte:

«Es ist ein historisch erstmaliges, sozial einzustufendes Phänomen, das….mit der Rechtlosigkeit und der untergeordneten Rolle der Frauen …“

Wenn das tatsächlich der Fall gewesen wäre, weshalb formuliert es Allah dann als spezifisches Phänomen mit „eure Frauen“ und weshalb fügt Er hinzu „für euch geschaffen hat“?

Damit Bruder Amins Auslegung eine Grundlage hätte, müsste die Formulierung im Qur’an folgendermassen lauten:

…und lasset die Frauen

…die euer Herr geschaffen hat

Das hat Allah aber nicht gesagt. Im Gegenteil hat Er mit «eure Frauen» und «sie für euch geschaffen» die von Ihm gewollte natürliche Beziehung zwischen den Männern und den Frauen unterstrichen, welche diese Männer mit ihrem abstossenden Verhalten umkehren wollten.

Darüber hinaus lautet die wörtliche Übersetzung von «eure Frauen», was sinngemäss richtig ist, eigentlich «azwadschikum», das bereits eingrenzend bedeutet: «für euch passend zu einer ehelichen Verbindung».

Schauen wir aber die Übersetzung beider Verse an, die der Autor gemacht hat:

Kommt ihr unter allen Geschöpfen zu Männern, und lasst unbeachtet, was euch euer Herr an euren Partnern erschaffen hat? Nein, ihr seid ein übertretendes Volk [qaum ‚âdûn].“

Auch diese Übersetzung wird dem eigentlichen Sinn nicht gerecht.

 „Und lasst unbeachtet“  ist nicht gleich wie „und lasset eure Frauen (beiseite)“. Das arabische Wort dazu heisst „wa tadharuna = (وَتَذَرُونَ)“. Um die genaue Bedeutung dieses Wortes zu erfahren, müssen wir, wie immer, im Qur’an nachschauen und nach derselben Zusammensetzung der Wurzel suchen und dann schauen, welche Bedeutung es in diesen Kontexten hat.

Beispiel 1)

Und wenn diejenigen von euch, die abberufen werden, Gattinnen zurücklassen

((sie) ya dharuna =يَذَرُونَ ) , so sollen diese (Witwen) vier Monate und zehn abwarten…[Qur’an 2:234]

Beispiel 2)

O ihr, die ihr glaubt, fürchtet Allah und verzichtet (dharu = وَذَرُوا ) auf das, was noch übrig ist an Zinsen, wenn ihr Gläubige seid. [Qur’an 2:278]

Aus beiden Beispielen ist ersichtlich, dass mit „dharu“, „yadharuna“ wie vorher mit „tadharuna“ aus dem Wortstamm wāw dhāl rā (و ذ ر), das 45x im Qur’an vorkommt, nicht ein „unbeachtet lassen“, sondern ein vollständiges Unterlassen, ein totaler Verzicht damit gemeint ist.

Ein weiterer Übersetzungsfehler im eingangs übersetzten Verses ist die Aussage:

Ihr kommt zu Männern

Da fehlt ein wichtiges Detail, denn auf Arabisch lautet es anders, mit einem winzigen, aber wichtigen Detail, so: 

Ihr kommt zu den Männern

Der bestimmte Artikel «den» führt zu einem ganz anderen Verständnis. Es sind demnach bestimmte, bekannte Männer, die sich aneinander sexuell zu vergehen pflegten, und nicht irgendwelche Männer.

Der Grund, weshalb Allah in einigen Versen nur die Männer meint, wenn er das Wort „Volk“ benutzt, liegt auf der Hand. Es ist eine traurige Tatsache, dass es meistens und bis heute die Männer sind, die grosse Schandtaten begehen, Kriege anzetteln, Morde begehen, Ausbeutung ausüben, Unterdrückung begehen, zum Unglauben aufrufen. Ein paar Beispiele kann man in diesen Versen finden:

5:11, 5:21-26, 7:109-112, 8:56, 9:13-14, 9:55-56, 11:85 usw.

Auch heute noch im 21. Jh. sind die Mehrheit der Regierenden Männer und die Gesellschaft kämpft dafür, den Frauen mehr Rechte einzuräumen.

Allah hat uns die Tatsache der Dominanz von Männern immer wieder vor Augen geführt mit vielen Versen. Nicht dass Frauen, unfähig, unfehlbar oder Engel wären; nein, doch aufgrund ihres stärkeren Körperbaus sind es meistens die Männer, die physische Gewalttaten ausüben.

Die höchste Arroganz verkörperte die Person Pharaos, die von Allah so beschrieben wurde:

Er aber leugnete und blieb ungehorsam. Dann kehrte er den Rücken und lief weg, versammelte alsdann (sein Volk) und rief aus, indem er sagte: „lch bin euer höchster Herr.“ [Qur‘an 79:21-24]

Ein ähnliches Beispiel von arroganten Frauen im Qur‘an gibt es nicht. Meines Wissens hat keine Frau in der Geschichte der Menschheit bisher das, was Pharao sagte, behauptet!

Allah hat uns hingegen von einer weisen Frau erzählt, die, obwohl sie als Königin grosse Macht besass, die richtige Entscheidung getroffen hat und sich nicht einfach kopflos in einen aussichtslosen Krieg mit dem Propheten Suleiman stürzte, sondern die Vornehmen ihres Volkes zu einer Konsultation (Schura) einlud:

Sie sagte: „O ihr Vornehmen, ratet mir in dieser Sache. Ich entscheide keine Angelegenheit, solange ihr nicht zugegen seid.“ [Qur‘an 27:32]

Was haben die von ihrer Stärke überzeugten Männer darauf geantwortet?

Sie sagten: „Wir besitzen Kraft und eine starke Kriegsmacht, aber dir obliegt der Befehl; sieh nun zu, was du befehlen willst.“ [Qur‘an 27:33]

Wir erleben in unserem Leben etliche Beispiele, bei denen Männer die dominante Rolle spielen, unabhängig davon, ob es gerechtfertigt ist oder nicht. Dies ist die Natur der Männlichkeit. Männer haben meist die lautere Stimme, sind aufdringlicher, sind bestimmt, gehen eher Risiken ein, sind herausfordernd usw. Frauen hingegen sind sanfter, zurückhaltender, risikoscheuer, wobei es auf beiden Seiten Ausnahmen gibt.

Die Männerdominanz zeigt sich auch bei den Homosexuellen. Ein Paradebeispiel ist der „Castro District“ im Norden San Franciscos in der Region Eureka Valley südlich von Chinatown.  Diese Ortschaft bezeichnete sich ursprünglich und bis heute als „San Francisco’s Gay Village“; also nicht „LGBT Village“ oder „Gay and Lesbian Village“, obwohl heutzutage auch lesbische Frauen, Bisexuelle und Transgenderpersonen dort vertreten sind. Es waren in erster Linie Männer, die in der damaligen christlichen Kultur der amerikanischen Gesellschaft nach dem 2. Weltkrieg die Initiative ergriffen und die erste „Gay Community“ gründeten.  Lesbische Frauen gab es sicherlich auch, wie in jeder Zeitepoche, aber die hatten dann keine „Lesbian Community“ oder „Lesbian Village“ gegründet.

Alle diese Informationen konnte ich in Google finden. Auslöser dieser Suche war, dass ich Beispiele für die männliche Dominanz bei Homosexualität orten wollte, weil ich auch selbst in Kalifornien gelebt habe in der Zeitperiode zwischen 1983 und 1985. Damals, als ein sudanesischer Freund mir San Francisco zeigen wollte, führte er mich zu einer anscheinend bekannten Gegend der Stadt: zu einer Strasse, die bekannt war als Ort der homosexuellen Gemeinschaft; „Gay Community“. Wir haben das Treiben der Männer aus der Ferne beobachtet. Die Männer haben zwar nicht vor aller Öffentlichkeit Geschlechtsverkehr gehabt, aber nur schon, zu sehen, wie lüstern sie sich miteinander verhielten, war für mich persönlich so abstossend, dass ich meinen Freund gedrängt habe, schnell wegzugehen. Erst in Google habe ich erfahren, dass es sich um den „Castro District“ handelte, der in einem der liberalsten US-Bundesstaaten lag, wo homosexuelle Männer ihre Neigung öffentlich ausleben durften.

Es waren anfänglich in der Tat Männer, die ihre Homosexualität offen zur Schau trugen, ähnlich wie es in der Geschichte Lots passierte. Und zu sehen, wie sie sich versammelten und knutschten, war abstossend, genau wie Allah uns in der Geschichte Lots geschildert hat.

An dieser Stelle möchte ich wie versprochen auf die im 1. Kapitel gestellte Frage zurückkommen, weshalb es im Qur’an einen Unterschied punkto Strafmassnahmen für homosexuelle Männer und Frauen gibt. (siehe 4:15 und 4:16).  Allah hat sie unterschiedlich festgelegt aufgrund Seines Wissens über die Natur des jeweiligen Geschlechts. Er sagte dazu:

Und wenn einige eurer Frauen eine Hurerei begehen, dann ruft vier von euch als Zeugen gegen sie auf; bezeugen sie es, dann schließt sie in die Häuser ein, bis der Tod sie ereilt oder Allah ihnen einen Ausweg gibt. [Qur‘an 4:15]

Und wenn zwei von euch (Männern) es begehen, dann fügt ihnen Übel zu. Wenn sie (aber) umkehren und sich bessern, dann lasset ab von ihnen; denn Allah ist Gnädig und Barmherzig. [Qur‘an 4:16]

Es stellt sich die Frage: weshalb verlangt Allah vier Zeugen bei homosexuellen Frauen, bevor die Strafe ausgesprochen werden kann, aber bei homosexuellen Männern nicht?

Nun, um etwas zu bezeugen, muss der Tatbestand offensichtlich ist.  Frauen sind generell zurückhaltend, halten ihre Triebe und homosexuelle Beziehung eher geheim. Bei einer Beschuldigung braucht es in einer muslimischen Gesellschaft vier Zeugen.

Männer hingegen können generell ihren Drang zum Geschlechtsverkehr nicht verbergen, sind eher frecher und entlarven sich selbst bei der Suche nach männlichen Mitmachern.  Dafür braucht es keine Zeugen, weil diese Leute nicht gross an der Geheimhaltung ihre sexuellen Triebe interessiert sind. Das ist genau der Rausch, den Allah beim sündigen Volk Lots geschildert hat.

Also sind es in der Regel die Männer, die am sichtbarsten sind.

Bruder Amin hat aus einem Problem, dass erst in der Moderne thematisiert wurde, nämlich, dass man Frauen nicht geringschätzen darf, ein Problem zu Lebzeiten von Lot gemacht. Aus den Versen von der Geschichte Lots kann man erfahren, dass diese vom Autor konstruierte Problematik nicht Gegenstand der damaligen, kulturellen Auseinandersetzung war und nicht primär eine dringende Ungerechtigkeit, die es zu lösen galt. Darüber hinaus ist Allah die Quelle unserer Kenntnis über die Verhältnisse jener Zeitepoche. Wenn es ein Problem gewesen wäre, hätte Er das ausdrücklich erwähnt. Wir kennen Seine Beanstandung der diskriminierenden Behandlung von Frauen beim Essen von Tieren im Vers 6:139 und das Verbot des Tötens von weiblichen Neugeborenen, welche bei den früheren Arabern aus Furcht vor Schande lebendig begraben wurden, nachzulesen in den Versen 16:58-59.

Abschliessend kann ich bestätigen, dass das Wort „Qaum“ also „Volk“ nicht immer Männer und Frauen umfasst. Den Beleg dafür liefern uns diese beiden Verse:

Die Boten selbst, als Lot sie ansprach mit:

„Als nun die Gesandten zu der Sippe Lūṭs kamen“ sagte er: „Ihr seid ja fremde Leute.“  [Qur‘an 15:61-62]  

Die Übersetzung „Leute“ entspricht „Qaum“ auf Arabisch. Und hier muss ich teilweise ins Thema Engel vorgreifen, welches ich später ausführlich behandeln werde, um zu begründen, dass die Boten tatsächlich Engeln waren. Allah sagt:

Und wenn Wir ihn (den Gesandten auch) zu einem Engel gemacht hätten, so hätten Wir ihn (doch) wahrlich zu einem Mann gemacht. Wir hätten sie sicherlich (nochmal) darin zweifeln lassen, worüber sie zweifelten. [Qur‘an 6:9]

Also umfasst das fremde „Qaum“ im oben erwähnten Vers [Qur‘an 15:62] genau gesagt nur Männer.

Zusätzlich gibt uns folgender Vers den Beweis, dass das Wort „Qaum“ bzw. „Volk“ auch für eine Gruppe von auschliesslich Männern koranisch verwendet, werden kann:

 Wollt ihr nicht gegen Leute kämpfen, die ihre Eide gebrochen haben und vorhatten, den Gesandten zu vertreiben, wobei sie zuerst gegen euch (mit Feindseligkeiten) anfingen? Fürchtet ihr sie? Aber Allah hat ein größeres Anrecht darauf, daß ihr Ihn fürchtet, wenn ihr gläubig seid. [Qur‘an 9:13]

Denn Frauen kämpften nicht. Nirgendwo im Quran finden wir, dass Frauen vor oder während der Zeit der islamischen Botschaft je gekämpft haben.

Alles oben Gesagte über „Qaum“ bzw. „Volk“ widerlegt ganz deutlich, was Bruder Amin behauptet hat, der Tadel von Lot an sein Volk sei für beide, Männer und Frauen.

Bruder Amin geht auch davon aus, dass wenn die Aussage „wie sie keiner in der Welt vor euch je begangen hat“ in Vers 7:80 bedeute, dass es keine Homosexualität vor Lots Zeit gegeben hätte, dann müsse etwas Anderes damit gemeint gewesen sein. Wir müssen diesen Vers jedoch im Zusammenhang mit einer anderen Stelle im Qur’an lesen. Dort steht:

Und da sagte Lot zu seinem Volk: „Ihr begeht eine Schändlichkeit, die keiner von allen Menschen je vor euch begangen hat. Vergeht ihr euch tatsächlich an Männern und macht die Wege unsicher? Und bei euren Versammlungen begeht ihr Abscheuliches!“ …29:28-29

Der Vers 7:80 bedeutet daher nicht, dass es keine Homosexualität vor jener Zeitepoche gab, sondern, dass offensichtlich niemand mehr sicher war vor Übergriffen und dass es auch bei Versammlungen, also in der Öffentlichkeit, zu sexuellen Handlungen kam und sogar mit versuchtem Zwang.

Dass es in der Öffentlichkeit geschah, entnehmen wir der Aussage Lots:

Und (Wir sandten) Lūṭ. Als er zu seinem Volk sagte: „Wollt ihr denn sehend(en Auges) das Abscheuliche begehen? [Qur‘an 27:54]

Sehenden Auges heisst, ihr alle seht mit euren eigenen Augen, dass ihr das Abscheuliche tut. Es also nicht die Tat einer einzelnen Person oder eine geheime Handlung.

Mit versuchtem Zwang:

Doch die Antwort seines Volkes war nur, daß sie sagten: „Vertreibt die Sippe Lūṭs aus eurer Stadt! Das sind Menschen, die sich reinhalten.“ [Qur‘an 27:56]

Mit anderen Worten entweder ihr gebt es auf, euch reinzuhalten, indem ihr dasselbe treibt wie wir, oder ihr werdet zur Strafe aus der Stadt ausgeschafft.

Homosexualität hat es wohl immer gegeben; früher vor Lot, während der Zeit des Propheten Muhammads und es wird sie immer geben, ansonsten hätte Allah keine Strafe für deren öffentliches Ausleben vorgesehen.

Wie früher schon einmal erwähnt, ist jedes Wort im Qur’an wichtig. Nicht nur das, sondern sogar die Art und Weise, wie gleich tönende Wörter im Arabischen ausgeschrieben werden, kann uns tiefsinnige Erklärungen liefern. Dafür müssen wir uns jedoch eingehend mit dem Qur’an und dem Qur’an-Arabisch befassen.

3.  Das Wort: Al fahischah = الْفَاحِشَةُ wurde als „etwas Abstossendes“ übersetzt von Bruder Amin:

Wollt ihr etwas Abstoßendes begehen, worin keiner in aller Welt euch vorangegangen ist? [Qur‘an, 7:80]

Das Fettgedruckte ist ein Einschub, den es in diesem Vers im arabischen Text nicht gibt.

Das Wort „etwas“ (auf Arabisch شَيْئًا = schay‘an) kommt durchaus an anderen Stellen vor, z.B. bei diesem Vers:

Zu kämpfen ist euch vorgeschrieben, auch wenn es euch widerwärtig ist. Doch es mag sein, daß euch etwas (شَيْئًا) widerwärtig ist, was gut für euch ist, und es mag sein, daß euch etwas (شَيْئًا) lieb ist, was übel für euch ist. Und Allah weiß es, doch ihr wisset es nicht. [Qur‘an 2:216]

Aber in 7:80 kommt es definitiv nicht vor, sondern es steht: Macht ihr das Abstossende…

Durch das Auswechseln des Wortes das mit etwas wird suggeriert, dass Allah nicht klar machte, was dieses Abstossende überhaupt ist und nur so konnte Bruder Amin zur folgenden Schlussfolgerung kommen, wenn er sagt:

Worum geht es im Tadel von Lot seinem Volk gegenüber?  

„Das Abstoßende, das Lot bei dem Verhalten der Männer und Frauen rügt, ist ein historisches Faktum, das es bei anderen Menschen vor Lots Volk noch nicht gab. Es ist ein historisch erstmaliges, sozial einzustufendes Phänomen, das nichts mit sexuellem Verhalten zu tun hat, sondern mit der Rechtlosigkeit und der untergeordneten Rolle der Frauen, die von allen Männern und Frauen als gegeben akzeptiert wird, so dass von beiden Gruppen nur Männer bei wichtigen Angelegenheiten (schahwa) konsultiert werden.“

Nochmals betone ich: Das Wort in der Originalversion heisst nicht:

etwas Abstoßendes“, sondern „das Abstossende“.

Was ist denn dieses Abstossende? Wenn man weiterliest, erhält man die Lösung. Denn die Erklärung liegt unmittelbar im darauffolgenden Vers:

Ihr gebt euch in Sinneslust wahrhaftig mit Männern statt mit Frauen ab. Nein, ihr seid ein ausschweifendes Volk. 7:81

Lot hat zuerst den Vorwurf zur Sprache gebracht, nämlich „das Abstossende“ und dann das Detail beschrieben, sprich „sich in Sinneslust mit Männern, statt mit Frauen abzugeben“. Und das ist exakt das, was abstossend ist.

Kommen wir nochmals zurück zum Wort Al fahischah, das wir am Analysieren sind:

Dieses Wort kommt im Qur’an insgesamt fünf Mal, in 3 verschiedenen Fällen vor:

a. In den Versen 4:15-16, wo es um den Umgang mit öffentlich praktizierenden homosexuellen Frauen und Männern geht.

b. In allen diesen Versen der Geschichte Lots: 7:80, 27:54, 29:28, welche von Lot als

Schandtat verurteilt wurde

c. Im Vers 24:19 als Warnung von Allah an alle, die die Verbreitung von Unzucht

unter den Gläubigen wünschen nach dem Vorfall der „Ifk“, der grossen Lüge zu Lebzeiten des Propheten Muhammads, Friede mit ihm.

Nach meinem Verständnis richtet sich die Warnung genauso an uns alle und eben diesen Artikel, der zur Verbreitung von Unzucht unter den Gläubigen aufruft mit dem Appell:

„…Die Homosexualität als von Allah so gewollte sexuelle Disposition dankbar zu akzeptieren“

Wie ich im Kapitel 1 schon einmal erwähnt habe, ist es bei Unklarheiten oder verschiedenen Meinungen bei der Übersetzung eines Wortes wichtig, themenähnliche Verse zusammenzutragen, um zu eruieren, welche Bedeutung ein Wort wirklich hat. Wenn wir sehen, in welchem Kontext dieses Wort an anderen Stellen verwendet wird, erschliesst sich uns der Sinn.

Fazit: Es ist wichtig zu erfahren, dass das eigentliche Wort für Homosexualität im Besonderen und jede aussereheliche Beziehung im Allgemeinen im Qur’an mit dem Begriff Al fahischah = الْفَاحِشَةُ umschrieben wird. Man kann nicht erwarten, dass Allah für jede Zeitepoche ihre jeweiligen Begriffe zur Bezeichnung von Homosexualität im Qur‘an festlegt, damit die Menschen sie verstehen. Wir müssen uns an Allahs Worten orientieren, nicht umgekehrt. Allah hilft uns zudem mit Verben, welche eine Aktion beschreiben, um uns den Sachverhalt begreiflich zu machen, wie in diesem Zusammenhang mit dem Wortpaar „Ihr kommt zu den Männern mit Sinnenlust, anstatt zu den Frauen“ (=schahwatan). Bruder Amin hat es leider als „mit einem Begehren zu Männern zu kommen, nicht auch zu den Frauen“ umgedeutet und daraus ein völlig neues gesellschaftliches Problem gemacht, das gar nicht Gegenstand der Geschichte Lots war. Das widerspricht der eindeutigen Darstellung Allahs.

Gelangen wir zu weiteren Beanstandungen meinerseits.

4. Das Wort Schahwatan = شَهْوَةً

Bruder Amin bezeichnet das arabische Wort Schahwatan (= شَهْوَةً) als ein Begehren im Sinne von Wunsch nach einer Auftragserfüllung. Dazu sagt er:

„Ob Lots Worte in seinem Tadel (7:81, 27:56) „Kommt ihr zu den Männern anstatt/und nicht zu den Frauen bei einem Begehren (شَهْوَة)“ eine sexuelle Bedeutung haben, kann man sehr leicht durch Anwendung einfacher Logik prüfen: Sein Tadel richtet sich an الْقَوْمِ (al-qaum), alle Männern und Frauen seines Volkes. Wenn seine Worte auf beide Gruppen im sexuellen Sinne anwendbar sind, können sie eine sexuelle Bedeutung haben, wenn nicht, müssen wir diese Bedeutung vermeiden.

Angewendet auf die Frauen: Glaubt wirklich jemand, dass das beabsichtigte Ergebnis seines Tadels “kommt ihr zu den Männern anstatt zu/neben den Frauen” ist, dass Lot wollte, dass die Frauen sich lesbisch verhalten? Warum sollte er das tun? In den beiden vorgenannten Versen wird das Wort ( شَهْوَة – schahwa) verwendet, das in den meisten Qurân-Übersetzungen als sexuelles Begehren (z.B. „Sinnenlust“) verstanden und übersetzt wird.

Das Wort schahwa kommt indes einschließlich der Verbformen an weiteren 11 Stellen im Qur’an vor:

schahawât (pl.): 3:14, 4:27 und 19:59

als Verbum (VIII. Stamm): 16:57, 21:102, 34:54, 41:31, 43:71, 52:22, 56:21, 77:42

An allen diesen Stellen hat es ganz klar keinen sexuellen Bezug. Dieser entstand und verstärkte sich erst durch die traditionelle Qur’ân-Interpretation der Verse von Lot und seinem Volk.

Es gibt keine historisch verlässlichen Zeugnisse über Lot und sein Volk und das, was in ihrer Stadt geschah. Es gibt nur eine Erwähnung im Alten Testament der Bibel, wo ein einziges Wort in einem der Bücher Mose zu einer verbreiteten Fehlinterpretation führte (die Quelle für bestimmte mawâlî-(موالي) –Überlieferungen). „

Als starkes Argument führt er das Vorkommnis ähnlicher Worte in anderen Versen an, die keinen sexuellen Bezug haben. Deshalb kann schahwatan gemäss seinem Verständnis nicht anderes bedeuten.

Eine für mich bizarre Schlussfolgerung.

Das ist, als würden wir sagen: Es gibt jeweils nur die Lust zu essen, zu reisen, zu joggen, zu lesen, sich über ein interessantes Thema zu unterhalten usw. Aber die Lust, Geschlechtsverkehr zu treiben, existiere nicht!?

Ok, machen wir einen Test und spielen ein Szenario mit dieser Übersetzung durch:  Nehmen wir an, „schahwatan“, würde tatsächlich das bedeuten, was Bruder Amin meinte; sprich „bei einem Begehren zu Männern kommen, und nicht auch zu den Frauen“. Danach setzen wir diese Annahme ein, wo sie im Kontext der Verse auch gemeint war. Wir nehmen als Beispiel die Sure 26, Ash-Shu’araa (Die Dichter). Dann schauen wir, was herauskommt:

26: 165: Unter allen Geschöpfen kommt Ihr mit einem Begehren zu Männern (nicht auch zu den Frauen)

26: 166: Ihr (gemäss Interpretation vom Autor zu Worte Volk, sind es Männer und Frauen) kommt mit einem Begehren aber nicht zu euren Frauen, die euer Herr für euch erschaffen hat (gemäss derselben Interpretation vom Autor, haben auch Frauen eigene Frauen, also sind sie Lesben??). Nein, Ihr seid ein Volk (Männer und Frauen!), das Schranken überschreitet

26: 167: Sie sagten: „Wenn du nicht davon nicht ablässt, o Lot, uns davon abzuraten bei einem Begehren ausschliesslich zu Männern zu kommen, so wirst du gewiss einer der Verbannten sein.“

26: 168: Er sagte: „Ich verabscheue eurer Treiben, bei einem Begehren nur zu Männern zu kommen“

26:169: Mein Herr, rette mich und die Meinen vor dem, was sie tun, bei einem Begehren nur zu Männern zu kommen.

26: 170:  Und Wir erretten ihn und die Seinen allesamt, von dem Treiben, bei einem Begehren zu Männern zu kommen, nicht auch zu den Frauen.

26: 171:  Bis auf eine alte Frau, die unter den Verschwundenen zurückblieb

26:172: Und dann haben Wir die anderen vernichtet, die bei einem Begehren nur zu Männern kommen, nicht auch zu den Frauen.

Wie tönt jetzt die Geschichte Lots, wenn wir sie auf die Art verstehen, die Bruder Amin uns glauben machen will? Für mich persönlich sehr absurd, denn es kann nicht sein, dass Allah uns eine derartige unsinnige Erzählung präsentiert, erhaben sei Er!

Es ist fatal, wie der Autor mit dem Qur’an vorgeht, indem er dessen Worte wiederholt entfremdet.

Es ist zudem wichtig zu merken, dass:

  • Schahwatan nur 2x im Qur’an vorkommt
  • Das Wort nur in der Geschichte Lots vorkommt
  • Schahwatan ein Adverb zur weiteren Deutung des Verbes im Satz „Ihr kommt zu den

Männern“ ist, das in dieser Konstellation lüstern bedeutet

  • Schahwatan eine Bekräftigung der abnormalen Lust ist, mit Männern Geschlechtsverkehr treiben zu wollen
  • Schahwatan kein Synonym hat, aber eine zentrale Gemeinsamkeit teilt zusammen mit allen erwähnten Worten derselben Wortfamilie shīn hā wāw (ش ه و), die 13x im Qur‘an vorkommen. Die Verse sind: 3:14, 4:27, 16:57, 19:59, 21:102, 34:54, 41:31, 43:71, 52:22, 56:21, 77:42 und selbstverständlich die beiden Verse unserer laufenden Diskussion 7:81 und 27:55.

Der gemeinsame Nenner aller oben genannten Verse heisst:   Lust oder Wunsch mit einem Genuss und Vergnügen für begangenen oder unmittelbaren Geschlechtsakt.

Es gibt übrigens im Qur’an durchaus ein Wort für „Begehren“, und das heisst talaban (طَلَبًا).

Dieses Wort wurde aber in der Geschichte Lots nicht benutzt. Kein Araber würde unter „schahwatan“ einen Wunsch verstehen, den eine andere Person ihm erfüllen sollte.

Ausserdem – wenn die Übersetzung von schahwatan „mit einem Begehren kommen“ lauten würde, dann drängen sich folgende Fragen auf:

Womit käme das Volk Lots zum Beispiel zu den Männern allein, aber nicht zu den Frauen? Weder im Qur‘an können wir darüber etwas lesen, noch kann uns der Autor erklären, was das genau das für ein Begehren ist. Oder wäre z.B. damit gemeint, dass Männer und Frauen, zu Männern allein kämen mit dem Begehren, einen Garten zu errichten, und die Frauen würden für diese Auftragserfüllung nie gefragt? Oder das Volk Lots habe nur Männer gefragt, Brot zu backen und Essen zu kochen, aber Frauen nicht? Oder etwa, dass nur Männer angehalten wurden, Gerechtigkeit walten zu lassen, Frauen hingegen, die ja eine untergeordnete Rolle innehatten, dabei ignoriert worden wären?

Was könnte daran abstossend und schlimm sein, mit einem Begehren nur zu den Männern zu kommen, nicht auch zu den Frauen?

Kann so ein Begehren, bei dem exklusive Männer zu Rat gefragt, Frauen aber aussen vor gelassen werden, zu einer solch drastischen Strafe führen wie beim Volk Lots?

Heisst das, dass bei anderen Völkern, deren Geschichten Allah erzählt, eine ähnliche Vernachlässigung von Frauen nie passiert ist, sondern die damaligen Gesellschaften gegenüber Frauen immer gerecht waren im Gegensatz zum Volke Lots? Natürlich gebietet der Qur’an Gerechtigkeit und dass Frauen an der Gesellschaft mitwirken, doch wo steht explizit, dass es eine Sünde wäre, mit einem Begehren nur zu den Männern zu kommen?

Wie wir sehen, macht auch vertieftes Nachdenken die Absurdität der Übersetzung deutlich.

 5. Die Übersetzung: Sich nicht am Kult fremder Götter beteiligen (yatathahharuun = يَتَطَهَّرُونَ ) – Vers 27:56

Bruder Amin schrieb:

„…Sie fordern daher andere auf, dies zu übernehmen. Seine Anhänger werden von ihnen als Leute beschrieben, die sich reinhalten wollen. Das ist sicher spöttisch gemeint, wenn auch offensichtlich unter Verwendung eines Ausdruckes, den Lot und seine Anhänger selbst verwenden; denn die Menschen in der Stadt verstehen ihr Tun sicher nicht als unrein. Worauf sich der Ausdruck ’sich rein halten‘ neben der allgemeinen Bedeutung ’sich einer untersagten Sache enthalten‘ beziehen kann, wird ersichtlich, wenn man dessen Gebrauch in der frühen Zeit des Alten Testaments berücksichtigt. Unter dem Stichwort ‚rein und unrein‘ heißt es u. a. in Reclams Bibellexikon:

In frühen alttest. Texten bezieht sich ‘r.’ [= rein] und ‘u.’ [= unrein] auf Hygiene- und Speisevorschriften (Richt 13, 4; 2 Sam 11,4). Bei den Profeten sind ‘r.’ und ‘u.’ umfassende religiöse-sittliche Kategorien. Unrein macht vor allem der Kult fremder Götter (Hos 5, 3; 6, 10; oft bei Ezechiel, z.B. Ez 20, 7).“

Reclams Bibellexikon, Seite 424 f.“

Die Interpretation, wonach das sündige Volk mit dem spöttischen Wort „reinhalten“ heisse „Man könnte daher auch davon ausgehen, dass damit der Kult fremder Götter gemeint ist, von dem sie sich fernhalten, wie die Fruchtbarkeitsreligionen jener Zeit in Kanaan“ ist reine Spekulation. Allah hat nichts desgleichen erwähnt.

Wenn mit „unrein“ der Kult fremder Götter gemeint gewesen wäre, hätte es Allah ausdrücklich erwähnt, wie bei allen anderen Versen, wo es um die höchste Sünde geht, Ash-Schirk, der Beigesellung.

Es ist wichtig, dass wir die Verse immer im Zusammenhang lesen, das heisst, miteinzubeziehen, was im Qur’an in der näheren Umgebung steht. Und tatsächlich steht im Vers davor:

Wollt ihr euch wirklich in (eurer) Sinnenlust mit Männern statt mit Frauen abgeben? Nein, ihr seid ein unwissendes Volk.“ [Qur‘an 27:55]

Im Vers gleich danach steht das mit dem „sich reinhalten“:

Doch die Antwort seines Volkes war nichts anderes als: „Treibt Lots Familie aus eurer Stadt hinaus: denn sie sind Leute, die rein sein möchten.“ [Qur‘an 27:56]

Es ist also eine Antwort auf das, was Lot zuvor tadelte, nämlich, sich sexuell mit Männern, statt mit Frauen abzugeben. Es stand nicht: „Weshalb pflegt ihr andere Götter anzubeten?“ oder „zu dienen?“ oder ähnliches wie es mehrmals in Sure 11, Hud, von vielen Gesandten ausgesprochen wurde, z.B.: „Und zu den `Ad (entsandten Wir) ihren Bruder Hud. Er sagte: „O mein Volk, dient Allah. Ihr habt keinen anderen Gott außer Ihm. Ihr seid nichts anderes als Lügner. [Qur‘an 11:50]

Auffallend ist, dass im Gegensatz zu Salih, Hud und Shuaib, die die obige Aussage machten, diese bei Lot gänzlich fehlt, obwohl wir wissen, dass sein Volk nicht aus gläubigen Menschen bestand. Hier liegt der Fokus auf der ungeheuerlichen Praxis der gewalttätig ausgelebten Homosexualität, die von vielen Menschen als unnatürlich empfunden wird, beim Volke Lots aber an der Tagesordnung war. Deshalb sagte Allah:

„Und sein Volk kam eilends zu ihm gelaufen; und schon zuvor hatten sie Schlechtigkeiten verübt…“ [Qur‘an 11:78]

Anschliessend schlug Lot seinem Volk seine Töchter als Ehefrauen vor, um ihre Sexualität innerhalb des erlaubten Bereiches auszuleben, statt dass sie in ihrer Schändlichkeit bleiben. Dies als eine Geste seiner wohlwollenden Hoffnung, die homosexuellen Männer zur Räson zu bringen.

Es ist die letzte Chance für die Sündigen, Reue zu zeigen und mit ihrem Übel aufzuhören und der Strafe Allahs zu entrinnen. Über den Glauben an Allah und Seine Einzigartigkeit hat Lot genügend gesprochen, aber sein Volk hat dies ignoriert, weil sie ja von ihren Gelüsten berauscht waren.

Damit ist es ersichtlich, weshalb das sündige Volk Lot und seine Anhänger aus der Stadt vertreiben wollte. Nicht wegen irgendwelcher falschen Kulte, die nirgend im Vers zu orten sind, sondern weil er ihnen Vorwürfe machte wegen ihrem abscheulichen Treiben und nicht mitmachen wollte. Somit bleibt kein Raum mehr für andere Interpretationen.

Man muss die Verse Allahs genau lesen, um zu verstehen, welche Weisheiten und Bedeutungen darin liegen.

6. Die Übersetzung: Die Gesandten als fremde Leute (Al-Mursalun = الْمُرْسَلُونَ) Verse 15:61-62

Bruder Amin schrieb:

„Auch hier wird wieder deutlich, dass die Absicht der Leute in dem hier geschilderten Fall sich in erster Linie gegen Lot richtet, von denen dieser daher für sich Schmach und Schande befürchtet, und die Anwesenheit der Fremden in seinem Haus lediglich ein wohlfeiler Anlass dazu ist. Die Leute erinnern Lot daran, dass eine der Auflagen, unter denen ihm und seinen Anhängern der Aufenthalt in der Stadt zugestanden worden ist, darin bestehe, dass er zu anderen Menschen von außerhalb der Stadt keine Kontakte haben darf. Dadurch, dass Lot die Gesandten aufgenommen und ihnen das ihnen zustehende Gastrecht gewährt hat, hat er dagegen verstoßen und befürchtet Böses („Das ist ein schlimmer Tag“, 11:78, ein Tag, der schlimme Folgen haben wird). Aber auch angesichts seiner bedrängten Lage bleibt er rechtschaffen und verstößt nicht gegen ein in der damaligen Zeit für Reisende lebenswichtiges Grundrecht, das Gastrecht. Er kann und will sich nicht dem ungesetzlichen Verhalten der anderen anschließen, sondern hat den Gesandten mutig Schutz und Obdach gewährt, um sie vor den Leuten, denen das Gastrecht nichts bedeutet, die es mit Füßen treten und Reisende wohl auch ausrauben (29:29), zu schützen.“

Weiter fügt er hinzu:

„Der Qur’ân sagt nicht ausdrücklich, dass die Gesandten Engel sind. Doch schließen die klassischen Kommentatoren es aus dem Wort ‚Gesandte‘, das auch für Engel verwendet wird (s. Muhammad Asad, Seite 325). Und nur unter dieser Voraussetzung sind die Verse (51:32-34) verständlich. Über das Aussehen oder das Alter der Gesandten gibt es im Qur’ân keinen Hinweis. Jede dahingehende Äußerung lässt sich nicht aus ihm ableiten und ist reine Spekulation.“

Ich muss gestehen, dass mich die ausführlichen Erklärungen überrascht haben…

Aus den oben zitierten Aussagen Bruder Amins möchte ich auf folgende zwei Behauptungen eingehen:

  1. Beim Problem mit den Gesandten gehe es um das Gastrecht, das Lot vom sündigen Volk verwehrt wurde und dass Lot dieses Verbot angeblich gebrochen habe
  2. Dass die Gesandten keine Engel seien

Zur 1. Behauptung: Das vermeintliche Gastrecht

Wo hat der Autor im Vers 15:68 gelesen, dass es sich um eine Verletzung des Gastrechts gehandelt hatte?

Das steht nirgendwo. Eine Auseinandersetzung wegen Lots Gästen hat es gegeben, aber das hat gar nichts mit irgendeinem Gastrecht zu tun. Sondern mit Gästen, die Lot bei sich aufnimmt, denn das hat andere Konsequenzen, als man auf den ersten Blick vermuten würde. Und das kann nur im Kontext mit anderen Versen verstanden werden. All diese Details werden wir nun ansehen.

Aus dem Vers:

Sie sagten: „Haben wir dir nicht die Weltenbewohner verboten (als Gäste aufzunehmen)?“ [Qur‘an 15:70]

zu folgern, dass ein geltendes, bereits vereinbartes Gastrecht zwischen Lot und seinem sündigen Volk besteht, wie wir es in der heutigen Zeit gewöhnt sind, wäre verfehlt.

Die meisten Übersetzungen setzen „nanhaka“ im arabischen Versmit „dir verboten“ gleich. Das ist meiner Meinung nach falsch. Im Qur‘an darf man nicht einfach ein Wort durch ein anderes Wort ersetzen, auch wenn sie ähnlich in der Bedeutung sind, wie ich schon einmal erwähnt habe. Allah spricht uns nicht so an, wie wir miteinander sprechen, sondern jedes Wort hat seine genaue Stellung im Vers und Bedeutung im vorgegebenen Kontext. Wenn wir das nicht beachten, können unpräzise oder falsche Bedeutungen entstehen. Im Vers 11:1 spricht Allah diese Tatsache an.

Das Infinitivverb „naha“ kommt 56x mal im Qur‘an vor und heisst, je nachdem wer es ausspricht, „nicht empfehlen, abraten, vorwarnen“ oder „jemandem freundlich sagen, mit etwas aufzuhören“. Es ist schwächer als das Wort „verbieten“. Im „naha“ fehlt der autoritäre Aspekt, ausser es wird von Allah oder den Gesandten ausgesprochen. „Naha“ ist immer mit einer gewissen Milde verbunden. Deshalb heisst „naha“ nicht „du darfst nicht“ oder „es ist dir verboten“. Letzteres heisst „harrama“ oder „hurrima“ und kommt 86x im Quran vor. Es ist absoluter und enthält keine Milde. Das sind 2 unterschiedliche Aussagen für unerwünschtes Verhalten mit unmittelbaren oder späteren Konsequenzen.

Mit dieser Unterscheidung können wir verstehen, dass die Aussage des sündigen Volkes  heisst: haben wir dich nicht davon gewarnt, fremde Leute bei dir aufzunehmen? Hier fehlt die ausdrückliche Androhung einer Konsequenz. Aber Allah hat uns 3 Verse vorher erzählt “Und die Leute der Stadt kamen (als die Gesandten eingetroffen waren) voller Freude (darüber, sie als Opfer ihrer Lasterhaftigkeit missbrauchen zu können) zu Lot“ [Qur‘an 15:67] und mit dem Begriff „voller Freude“ ihre Absichten entlarvt. Jetzt sind sie alle zu Lot gekommen; dies ist die 1. Konsequenz. Und sie erinnerten ihn an die Vorwarnung. Die 2. Konsequenz wäre normalerweise die Androhung, die Gäste auszuweisen oder Lot zu bestrafen, wenn es darum ginge, die Verletzung eines verbotenen Gastrechts zu ahnden. Aber das haben sie weder gesagt noch getan. Voller Freude zu kommen, mit der Absicht, jemanden aus der Stadt auszuweisen, tönt nicht konsistent. Das bedeutet also, dass sie andere Absichten gehabt haben müssen, als die Ausweisung. Und tatsächlich finden wir die 2. Konsequenz in den Worten: „Und du weisst wohl, was wir wollen“ im Vers 79 der Sure 11. Sie wollen etwas mit seinen Gästen machen, was Lot genau bekannt war. Nämlich das, was er bei seinem sündigen Volk immer wieder beanstandete: die Abscheulichkeit, mit Männern geschlechtlich zu verkehren. Auf diese Gegebenheit und andere Details in dem Zusammenhang werde ich später noch unter einem anderen Blickwinkel zurückkommen, wenn ich den Rest der Unstimmigkeiten in Bruder Amins Übersetzungen behandle.

Dis Aussage:

Er sprach: „Das sind meine Gäste, so tut mir keine Schande an. [Qur‘an 15:68]

Wie kann man aus dieser Aussage ableiten, dass es ein Verbot gab, Gäste aufzunehmen? Jemand der sagt: „Das sind meine Gäste“ ist nicht jemand, der sich um ein Argument ringt, um sich gegen ein ihm bekanntes und von ihm verletztes Verbot zu wehren.

Wenn es um das Gastrecht gegangen wäre, weshalb hat Lot gesagt: so tut mir keine Schande an? Wieso eine Schande und weshalb an ihm persönlich? Ein Gastrecht ist ein allgemeines Gastrecht, das allen Menschen zugutekäme, nicht nur Lot. Von einem weisen Gesandten würde man erwarten, dass er, wenn es tatsächlich um Gastrecht gegangen wäre, nicht gesagt hätte:so tut mir keine Schande an“, sondern eher: „mit welchem Recht wollt ihr das meinen Gästen antun?“, „Ihr verletzt das uns bekannte Gastrecht“ oder was ähnliches. Eine Verletzung des Gastrechts wäre auch keine Schande für Lot selbst, denn das wäre ein Unrecht, wofür er nichts kann. Aber Lot hat gesagt: so tut mir keine Schande an. Also das Problem betrifft ihn persönlich wegen der Schande seines Volkes. Er hat sich für sein Volk geschämt für das, was sie an Abstossendem zu machen pflegten und was sie voraussichtlich auch mit seinen Gästen tun würden. Damit gab Lot seinem sündigen Volk jedes Mal die Chance, reuig zu werden und mit ihrem Frevel aufzuhören.

„Tut mir keine Schande an“, auf Arabisch „fala tafdahuni“ sagt man, wenn man sich für etwas schämt, um nicht vor anderen blossgestellt zu werden. Hier wäre es die Blossstellung Lots vor seinen neuen Gästen, den Gesandten.

Auch muss man die Frage stellen, was meinte Lot mit „tut mir“? Was würde sein Volk tun? Wenn es wirklich um das Gastrechtverbot ginge, das Lots Volk ihm angeblich auferlegt hat, dann wäre die logische Konsequenz, dass sein Volk die Absicht hätte, die neuen Fremden aus der Stadt auszuweisen. Das ist unmöglich. Denn es kommt in allen Versen mit Lot nie vor, dass das frevelnde Volk vorhatte, die Gäste aus der Stadt auszutreiben. Wohl aber Lot und seine Anhänger, weil sie sich reinhalten wollten! Auf das Sich-reinhalten komme ich gegen Ende zurück, wenn ich über die Töchter Lots reden werde.

Auch der Vers davor widerspricht Bruder Amins Meinung über die Absicht des Volkes, als sie erfuhren, dass Lot Gäste bei sich hatte:

Und das Volk der Stadt kam voller Freude (yastabschiruuna). [Qur‘an 15:67]

Würde jemand zu einer Person, die ein Recht gebrochen hat, tatsächlich mit Freude kommen oder nicht eher mit Wut, Missmut, Empörung, Enttäuschung, Bestürzung, usw. zu ihr kommen? Sicherlich nicht mit Freude. Das sündige Volk Lots freute sich darüber, dass die Gäste fremde Leute waren, Männer – also Kandidaten, um ihre homosexuellen Bedürfnisse befriedigen zu können. 

Bruder Amin hat sich erlaubt, den anderen Vers, der ebenfalls über die Geschichte Lots erzählt (11:78) nach seinem Verständnis zu übersetzen, damit er seine Geschichte des verletzten Gastrechts glaubhaft machen kann:

Und sein Volk kam zornbebend (yuhra’uuna) zu ihm gelaufen; und schon zuvor hatten sie Böses verübt. Er sprach: „O mein Volk dies hier sind meine Töchter; sie sind reiner für euch…

Dieser Vers beschreibt den gleichen Sachverhalt wie im Vers 15:67, wo es heisst:

Und das Volk der Stadt kam voller Freude (yastabschiruuna)

Übersetzt wurde der Vers 11:78 vom Bruder Amin aber als Und sein Volk kam zornbebend“. 

Wie kommt er darauf, dass das Volk zornbebend kam?

Das arabische Wort im übersetzten Vers heisst nicht zornbebend, sondern:  „yuhra’uuna“ (يُهْرَعُونَ).

Zornbebend kommen oder zurückkehren im Qur‘an heisst: غَضْبَانَ   (ghadbana). Dieser Ausdruck wurde verwendet, als Moses, Friede mit ihm, nach den 40 Tagen auf dem Berg in der Gegenwart Allahs, erfuhr, dass sein Volk von As-Samiry in die Irre geführt wurde:

Da kehrte Moses zornig und voller Bedauern zu seinem Volk zurück…[Qur‘an 20:86]

Im Zorn weggehen im Qur‘an heisst: مُغَاضِبًا   (mughadiban) wie in der Geschichte von Du-Nun steht: 

Und Du-n-Nun ging im Zorn hinweg und war überzeugt, daß Wir ihn nie in Betrübnis bringen würden; und da rief er in der dichten Finsternis: „Es ist kein Gott außer Dir. Gepriesen seist Du. Ich bin wahrlich einer der Frevler gewesen.“ [Qur‘an 21:87]

Diese beiden Worte zur Beschreibung vom Zorn kommen in der Geschichte Lots im arabischen Original absolut nicht vor.

Um die eigentliche Bedeutung von „yuhra’uuna“ (يُهْرَعُونَ) zu verstehen, bedienen wir uns wieder der Verszusammentragung im Qur‘an selbst. Dieses Wort kommt nur zwei Mal vor: im jetzt behandelten Vers 11:78, und in 37:70.

Was steht im letzteren?  Mit den Versen vorher und nachher, um den Kontext zu verstehen, dieses:

Sie fanden ihre Väter als Irrende vor

und so traten sie eilends (yuhra’uuna) in ihre Fußstapfen.

Und die meisten der Vorfahren waren vor ihnen irregegangen. [Qur‘an 37:69-71]

Würden wir Bruder Amins Interpretation „zornbebend“ für „yuhra’uuna“ akzeptieren, ergäbe sich folgender Unsinn:

Sie fanden ihre Väter als Irrende vor

und so traten sie zornbebend in ihre Fußstapfen.

Und die meisten der Vorfahren waren vor ihnen irregegangen. [Qur‘an 37:69-71]

Das ist ein klarer Beweis, dass Bruder Amin mit seiner Übersetzung falsch liegt.

„yuhra’uuna“ ist im Passiv und heisst auf Deutsch: Von Hast ergriffen.

Überhaupt ist das Gastrecht nie Gegenstand einer zu lösenden Problematik gewesen. Das Gastrecht ist ein ehrenhaftes Recht, das Menschen in ihrer jeweiligen Tradition pflegen sollten, es ist ein freiwilliges Recht. Die Nicht-Beachtung darf nicht mit einer Sünde gleichgestellt werden, für deren Verletzung Allah die Menschen bestrafen würde. Sonst würde man behaupten, dass Allah etwas geboten habe, was Er gar nicht tat.  Gebote oder Verbote im Namen Allahs auszusprechen dürfen wir Menschen nicht, nur Allah.

Die Behauptung, dass es sich um ein verletztes Gastrecht handeln würde, wirft aber auch noch andere grundsätzliche Fragen auf:

Im Vers 11:78 bot Lot seinem sündigen Volke seine Töchter an: Wenn er sie vorschlug, wie Bruder Amin gemeint hat, als Garanten für das Wohlverhalten seiner Gäste, weshalb sagte er: „…dies hier sind meine Töchter; sie sind reiner für euch“. Was hat denn die Reinheit von Lots Töchtern mit der Garantie des Wohlverhaltens seiner Gäste zu tun?

Weshalb sagte Allah danach im Vers 15:72:

Wahrhaftig! Sie waren in ihrem Rausch verblendet, so daß sie umherirrten. [Qur‘an 15:72]?

Leute, die darauf bestehen, dass ein Verbot des Gastrechts eingehalten soll, befinden sich weder im Rausch, noch irren sie umher.

Wenn das Gastrecht tatsächlich ein zentrales Problem in der Geschichte Lots gewesen wäre, für das er einstand, als er sein Volk ihn tadelte, weshalb sagte er nur:

Vergeht ihr euch tatsächlich an Männern und macht die Wege unsicher? Und bei euren Versammlungen begeht ihr Abscheuliches!“ Jedoch die Antwort seines Volkes waren nur die Worte: „Bringe Allahs Strafe über uns, wenn du die Wahrheit redest.“ [Qur‘an 29:29]

Wo wird denn hier das angebliche Vergehen gegen das Gastrechtverbot thematisiert?

Die Probleme, die Allah in der Geschichte Lots schilderte sind klar. Sie enthalten keinen Zusammenhang mit irgendeinem unerlaubten Gastrecht, das Lot bekämpfte.

Die Geschichte vom Gastrecht ist genauso erfunden und konstruiert wie die Geschichte mit einem Begehren zu Männern zu kommen, nicht auch zu den Frauen, welche nirgendwo Gegenstand eines Vergehens im Qur‘an gewesen ist.

Ich kann nur zitieren:

Gepriesen sei Er und in großer Weise Erhaben über all das, was sie behaupten. [Qur‘an 17:43]

Gelangen wir zur 2. Behauptung: Die Gesandten seien keine Engel

In den Versen, in denen die Gesandten erwähnt werden, werden die Engel nicht namentlich als solche bezeichnet. Das ist eine Tatsache.

Aber der ganze Verlauf der Geschichte Lots mit ihnen deutet ganz klar darauf, dass sie Engel waren.

Die Geschichte beginnt eigentlich schon früher, als die Boten zu Abraham, Friede mit ihm, kamen:

Und es kamen Unsere Gesandten mit froher Botschaft zu Abraham. Sie sprachen: „Friede!“ Er sagte: „Friede!“ und es dauerte nicht lange, bis er ein gebratenes Kalb herbeibrachte.

Als er aber sah, daß ihre Hände sich nicht danach ausstreckten, fand er sie befremdend und empfand Furcht vor ihnen. Sie sprachen: „Fürchte dich nicht; denn wir sind zum Volke Lots entsandt.“ [Qur‘an 11:69-70]

Als Abraham den Gesandten das gebratene Kalb servierte und sie ihre Hände nicht danach ausstreckten, um zu essen, jagte ihm die Angst ein. Und dann sagten sie, um ihn zu beruhigen: „Fürchte dich nicht…“

Menschliche Gesandten hätten doch mit ihren Händen gegessen.

Die Geschichte geht noch weiter.

Er sprach: „Was ist euer Auftrag, ihr Boten?“ [Qur‘an 15:57]

Sie sprachen: „Wir sind zu einem schuldigen Volk entsandt worden [Qur‘an 15:58]

ausgenommen die Anhänger Lots, die wir alle erretten sollen [Qur‘an 15:59]

bis auf seine Frau. Wir bestimmten, daß sie unter denen sein wird, die zurückbleiben.“[Qur‘an 15:60]

An dieser Stelle hört die Konversation zwischen Abraham und den Boten auf.

Jetzt drängen sich einige Fragen auf:

Wie können sterbliche Gesandte, ein ganzes, schuldiges Volk bestrafen (ausgenommen die Anhänger Lots, die sie erretten sollen bis auf seine Frau), wenn sie nicht Engel wären?

Wie können Gesandte darüber bestimmen, dass Lots Frau unter den Bestraften ist?  Das können sie nur, wenn sie Engel sind.

Wie konnten die Gesandten über das sündige Volk Bescheid wissen, bevor sie zu Lot kamen? Denn sie haben ja bereits Abraham davon erzählt:

Und als Unsere Boten Abraham die frohe Botschaft brachten, sprachen sie: „Wir kommen, um die Bewohner dieser Stadt zu vernichten; denn ihre Bewohner sind Missetäter. [Qur‘an 29:31]

Er sagte: „Doch Lot ist dort.“ Sie sprachen: „Wir wissen recht wohl, wer dort ist. Gewiß, wir werden ihn und die Seinen erretten, bis auf seine Frau, die zu denen gehört, die zurückbleiben sollen.“ [Qur‘an 29:32]?

Sie kamen schliesslich, damit sie selbst die Missetäter vernichten. Welcher Mensch hatte zu dieser Zeit eine solche Macht? Und sie wussten genau, wer in der Stadt war, obwohl sie dort offensichtlich nie gewesen waren, denn Lot kannte sie nicht, und das Volk bezeichnete sie als Fremde. Wie können normale Gesandte diese vielen Details wissen und die grosse Strafe selbst über das Volk bringen? In keinem Vers im Qur‘an erfahren wir, dass Gesandte als Menschen Derartiges vollbringen können.

Danach fängt der Abschnitt über die Geschichte Lots mit seinem Volk an:

Und als Unsere Boten zu Lot kamen, war er ihretwegen besorgt und fühlte sich außerstande, ihnen zu helfen. Sie sprachen: „Fürchte dich nicht und sei nicht traurig, wir wollen dich und die Deinen sicher retten, bis auf deine Frau, die zu denen gehört, die zurückbleiben sollen.  [Qur‘an 29:33]

Noch mehr:

Als die Boten zu den Anhängern Lots kamen da sprach er: „Wahrlich, ihr seid (uns) unbekannte Leute.“

Sie sprachen: „Nein, aber wir sind mit dem zu dir gekommen, woran sie zweifelten.

Und wir sind mit der Gerechtigkeit zu dir gekommen, und gewiß, wir sind wahrhaftig.

So mache dich mit den Deinen in einer nächtlichen Stunde fort und ziehe hinter ihnen her. Und keiner von euch soll sich umwenden, sondern geht, wohin euch befohlen werden wird.“

Und Wir verkündeten ihm in dieser Angelegenheit, daß die Wurzel jener (Leute) am Morgen ausgerottet werden sollte.  [Qur‘an 15:61-66]

Alle diese Verse zeugen von der Strafe, die das schuldige Volk Lots erleiden wird und sie wird von den Gesandten durchgeführt werden.

Das können nur Engel gewesen sein, die Allah in Menschengestalt erscheinen liess, um sie zu Lots Volk zu schicken als Prüfung und Gelegenheit für die Reuigen, damit sie mit Lot und seinen Anhängern fliehen können, bevor die unvermeidliche Strafe die Zurückbleibenden erfasst.

Dass Engeln auch Gesandte werden können, sagt Allah:

Allah erwählt Sich aus den Engeln Gesandte, und (auch) aus den Menschen. Gewiß, Allah ist Allhörend und Allsehend. [Qur‘an 22:75]

Über die Möglichkeit der Umwandlung eines Engels zu einem Gesandten in Gestalt von Menschen hat uns Allah berichtet, als Er sagte:

Und wenn Wir ihn (den Gesandten auch) zu einem Engel gemacht hätten, so hätten Wir ihn

(doch) wahrlich zu einem Mann gemacht. Wir hätten sie sicherlich (nochmal) darin zweifeln lassen, worüber sie zweifelten. [Qur‘an 6:9]

Es ist eine Tatsache, dass es zwangsläufig eine Strafe bedeutet, wenn Engel zu Menschen geschickt werden; dazu sagt Allah:

Und sie sagen: „Wäre ein Engel zu ihm herabgesandt worden!“ Hätten Wir aber einen Engel herabgesandt, wäre die Sache entschieden gewesen; dann hätten sie keinen Aufschub erlangt. [Qur‘an 6:8]

7. In der üblichen Qur’anübersetzung (qaumun munkaruun).  قَوْمٌ مُنْكَرُونَ) – Vers 15:62 steht: 

Als die Boten zu den Anhängern Lots kamen. Da sprach er: „Wahrlich, ihr sei (uns) unbekannte Leute (qaumun munkaruun).

Bruder Amin übersetzt es folgendermassen:

Leute, die man in der aussichtlosen Situation besser verleugnet (qaumun munkaruun).  قَوْمٌ مُنْكَرُونَ)

Die Begründung für seine Übersetzung ist:

„Rudi Parets Wiedergabe, Seite 184: „[…] verdächtige Leute“, trifft von der Antwort der Gesandten her eher zu („Wir sind mit der Wahrheit gekommen“). Denn verdächtig sind sie in zweifacher Hinsicht:

Aus Sicht der Bewohner der Stadt, weil sie sich an Lot, einen Fremden, wenden und seine Gäste sind

Aus Lots Sicht, weil er äußerst vorsichtig sein muss und ihre Gegenwart seine Lage weiter verschärfen kann. Denn jeder Kontakt zu Fremden ist ihm untersagt (s. 15:70).

Die hier gewählte Übersetzung berücksichtigt eher die Wortbedeutung und die Antwort der Gesandten: „Nein, im Gegenteil [verleugne uns nicht …]“, und sie betonen, dass sie mit der Wahrheit gekommen sind und um ihn und die Seinen zu retten. Nach H. Wehr, Seite 1313, bedeutet ankara: „Nicht kennen wollen (hu j-n), nicht wissen wollen (von e-r S.); nicht anerkennen, in Abrede stellen, leugnen; verleugnen (etw.) […] verwerfen, missbilligen […]“.“

Der Autor deutet das Wort (Qaumun munkarun) so um, als würde Lot die Gesandten verleugnen, weil er sich einer aussichtlosen Situation befindet und er sie lieber nicht sehen will. Dafür bringt Bruder Amin als Beleg die eigene Übersetzung mittels Hans Wehrs Wörterbuch.

Dabei hat er leider nicht zwischen den Verben „nakira“ und „ankara“ unterschieden und deshalb kann seine Interpretation nicht aufrechterhalten werden. Nakira heisst: Nicht kennen, nicht erkennen, nicht wahrhaben, unheimlich finden. Ankara hingegen heisst: missbilligen, verleugnen aber auch ablehnen, beanstanden, vorwerfen, tadeln, und in bestimmten Fällen genau wie nakira wie z.B. in der Redewendung „ankara-l-dschamil“, die „sich undankbar zeigen gegenüber jemandem, der einem zuvor eine gute Tat erwiesen hat“ bedeutet. Alle diese Sprachfeinheiten müsste man bereits im klassischen Arabisch berücksichtigen. Weiter müssen wir, wie bereits früher schon erwähnt, beachten, wo dieses Wort sonst noch im Qur’an vorkommt, und welche Bedeutungen es an diesen anderen Stellen hat.

Zum Beispiel bei Abraham mit eben denselben Boten:

Als er aber sah, daß ihre Hände sich nicht danach ausstreckten, fand er sie befremdend (nakirahum) und empfand Furcht vor ihnen. Sie sprachen: „Fürchte dich nicht; denn wir sind zum Volke Lots entsandt.“[Qur‘an 11:70]

Das verwendete, fettgedruckte Wort hier entspricht dem arabischen „nakirahum“ in der aktiven Form, ein Gefühl, das Ibrahim erfasste, aber erst nachdem er die Gesandten ihre Hände nicht ausstecken sah.  Es würde keinen Sinn machen zu sagen, dass er sie verleugnete und bei dieser Verleugnung Angst empfand. Wozu sollte er sie plötzlich verleugnen, wo doch im vorherigen Vers steht:

Und es kamen Unsere Gesandten mit froher Botschaft zu Abraham. Sie sprachen: „Friede!“ Er sagte: „Friede!“ und es dauerte nicht lange, bis er ein gebratenes Kalb herbeibrachte. [Qur‘an 11:69]. 

Die Worte „nakirahum“ bei Abraham wie auch „munkarun“ bei Lot stammen aus demselben Wortwurzel nūn kāf rā (ن ك ر). Diese kommt 37 Male im Qur’an und in 11 verschiedenen Formen vor.

Man müsste sich logischerweise auch fragen, weshalb haben die Gesandten gesagt:

„Fürchte dich nicht…“, und nicht „verleugne uns nicht“ wenn Abraham sie, gemäss Bruder Amins Interpretation, verleugnet haben soll?

Im Fall von Lot steht das Wort genau wie bei Abraham in der passiven Form. „munkarun“, das sind „unheimliche Leute“, „Leute, die man nicht kennt“. Der einzige Unterschied ist, dass Allah uns dieses Gefühl von Abraham, das er selbst nicht ausgesprochen hat, beschrieben hat. Hingegen bei Lot liess Er Lot selbst dieses Gefühl gegenüber den Gesandten aussprechen.

Dieses Wort „munkarun“ auf Personen übertragen, ist das Gegenteil von „erkennen“. Als gutes Beispiel dient uns hier der Vers aus der Geschichte des Propheten Yusufs, Friede mit ihm, mit seinen Brüdern:

Und es kamen die Brüder Yusufs und traten zu ihm ein; er erkannte sie (fa aa’rifahum), sie aber erkannten ihn nicht (wahum lahu munkirun). [Qur‘an 12:58]

Wie die werten Leser erkennen können, legt sich der Qur’an selbst aus, wenn wir das Prinzip des „tadabbur“ (Nachdenken) mit seinen Versen praktizieren; also seinen Versen folgen und mit Nachdenken die richtige Bedeutung eruieren. Es gibt auch weitere Instrumente zum Verständnis der Koransprache, auf die ich hier nicht eingehen kann, weil sie nicht Gegenstand dieser Replik sind.

Vers 15:63 übersetzt Bruder Amin mit einem Einschub in Klammern als:

„Nicht im Gegenteil [verleugne uns nicht]…“. Es gibt aber einen Unterschied zwischen: „Nein, im Gegenteil“, das im Qur‘an (bal’aa = بَلَى) heisst und „Nein, aber“, das (bal = بَلْ)  heisst. In 15:63 steht nur bal.

Hier ein paar Beispiele zum Selberprüfen, wie beide Worte zu verstehen sind:

Zu „Nein, im Gegenteil“:  2:81, 2:112, 3:78  und 6:30

Zu „Nein, aber“:  2:88, 2:100, 3:150 und 4:49

8. Die Übersetzung: Ihn von seinen Gästen abwendig zu machen (rawaduhu aan daifih =  رَاوَدُوهُ عَنْ ضَيْفِهِ)  – Vers 54:37

Nicht nur Bruder Amin, sondern auch die meisten Übersetzer machen den Fehler, diesen Begriff als ein einfaches „Ausliefern“, „ihn von seinen Gästen abwendig zu machen“, usw. zu verstehen. Einzig die Version im islam.de nähert sich einer ziemlich guten Interpretation an und illustriert dies so: „sie versuchten ja, ihn in Bezug auf seine Gäste zu überreden, (sie ihnen auszuliefern).“

Das verwendete Verb „raawada“ bedeutet nämlich nicht ausliefern, sondern beschreibt den Vorgang, der vor dem Ausliefern bzw. Sich-Ausliefern passiert, nämlich jemanden in Versuchung zu bringen, etwas zu tun, was er eigentlich nicht machen würde oder grundsätzlich ablehnt, es zu tun. 

Auch hier gibt uns wieder der Qur’an selbst eine Antwort, welche Bedeutung dieses Wort hat. Betrachten wir ein anderes Beispiel, wo dieses Wort auch vorkommt:

In der Geschichte Yusufs mit der Frau von Al–Aziz:

Und sie (die Frau), in deren Haus er war, versuchte ihn zu verführen gegen seinen Willen (wa rawadthu a’an nafsih) ; und sie verriegelte die Türen und sagte: „Nun komm zu mir!“ Er sagte: „Ich suche Zuflucht bei Allah. Er ist mein Herr. Er hat meinen Aufenthalt ehrenvoll gemacht. Wahrlich, die Frevler erlangen keinen Erfolg.“ [Qur‘an 12:23]

Dasselbe Verb „rawada“ wird in diesem Vers dekliniert als „rawadathu“ verwendet und beschreibt den Versuch der Frau, Yusuf zu verführen, damit er mit ihr Haram begeht, obwohl er dagegen war. Das Sich-Ausliefern würde erst nachher passieren, nämlich, wenn Yusuf diese Versuchung nicht abgewehrt hätte.

In der Geschichte Lots war „rawaduhu aan daifih“, nicht ein simples Ausliefern, sondern die Absicht seines Volkes, sich danach mit den Gesandten homosexuell zu vergnügen.

Als sie das Angebot Lots mit seinen Töchtern ablehnten, gaben sie den Grund dafür an mit:

Sie sagten: „… und du weißt wohl, was wir wollen.“ [Qur‘an 11:79]

Diese Aussage ist wahrscheinlich den meisten von uns bekannt, wenn wir etwas wollen und uns doch genieren, nochmals unseren Wunsch ausdrücklich zu äussern oder müde sind, eine Aufforderung zu wiederholen, weil jemand unseren Wunsch ständig ablehnt. Hier kann man nicht die Behauptung geltend machen, dass es um die Einhaltung des Gastrechtsverbots ginge. Denn Allah schildert uns den geistigen Zustand des Volkes im selben Kontext ihrer Auseinandersetzung mit Lot, als Er sagte:

Wahrhaftig! Sie waren in ihrem Rausch verblendet, so daß sie umherirrten. [Qur‘an 15:72]

Ihre Sucht, sich sexuell mit den fremden Gästen zu befriedigen, hat sie vollständig berauscht.

9. Die Übersetzung: Dies sind meine Töchter [nehmt sie als Garanten für mein und meiner Gäste Wohlverhalten] (ha u’lai Banati in kuntum fa’ilyn = هَؤُلَاءِ بَنَاتِي إِنْ كُنْتُمْ فَاعِلِينَ) – Vers 15:71

Wo steht in der Originalversion des Verses, dass Lot seine Töchter als Garanten für sein und seiner Gäste Wohlverhalten angeboten hat?  Nirgends! Das ist das Verständnis Bruder Amins vom Vers, aber die eigentlichen Worte darin sowie der Sinn im nachfolgenden Vers stützen seine Schlussfolgerung nicht, sondern widersprechen ihm total.

Wie sollen die Töchter Garanten gegenüber dem sündigen Volk sein, wenn ihr Vater sagte: „…wenn ihr etwas zu unternehmen beabsichtigt“. Ist dies eine Aussage, die man bei Garantien macht?  Ist es nicht eher eine Option, die Lot seinem Volk anbot, damit sie von dem, was sie mit seinen Gästen an Schändlichkeiten vorhatten, absehen?

Doch die Antwort seines Volkes war nichts anderes als: „Treibt Lots Familie aus eurer Stadt hinaus: denn sie sind Leute, die rein sein möchten.“ [Qur’an 27:56]

Das Fettgedruckte bezeichnet die Betonung einer nachfolgenden Kausalität. Der Vers sagt dies weiter genau aus: …denn sie sind Leute, die rein sein möchten“. Im Arabischen heisst es: Innahum unasun yatatahharun

Das Volk machte diesen Vorwurf als Begründung für die Vertreibung von Lot und seinen Anhängern erst, nachdem Lot seine Beanstandung im Vers davor kund getan hat mit:

Wollt ihr euch wirklich in (eurer) Sinnenlust mit Männern statt mit Frauen abgeben? Nein, ihr seid ein unwissendes Volk.“ [Qur‘an 27:55]

Er sagte: „lch verabscheue euer Treiben.  [Qur’an 26:168]

Mein Herr, rette mich und die Meinen vor dem, was sie tun.“ [Qur’an 26:169]

Das erklärt auch, weshalb Lot seine Töchter anbot, mit „“…sie sind reiner für euch…“. Im Sinne: das, was ihr treibt, ist nicht rein für euch!

Und das ist die Realität der ausgelebten Homosexualität, die deren Befürworter unter einigen Muslimen, Christen und Juden leider nicht einsehen wollen. Wie kann ein Eindringen in den Anus eines Mannes, an einen Ort, wo sich stinkender Kot voller Mikroben sammelt, als rein bezeichnet werden? 

Wir können aus den deutlichen Worten Allahs verstehen, dass es in der Geschichte Lots tatsächlich um die Homosexualität seines Volkes geht.

Ich bitte Bruder Amin und alle Leser, die Informationen und Gegenargumente in dieser Replik mit ihrem Verstand und ihrer Logik zu prüfen und Allah um Unvoreingenommenheit zu bitten und dann zu entscheiden, welche Interpretation sie als wahr annehmen. Und ich möchte daran erinnern, dass am Jüngsten Tag jeder für sich selbst verantwortlich ist. Gemäss dem, was ich aus dem Qur’an verstanden habe, ist ausgelebte Homosexualität für Muslime eine Sünde, die es abzulehnen gilt. Dies, auch wenn die ganze Welt sie mit beschönigenden Worten einen Akt der Liebe nennt. Denn für die Gläubigen liegt das unumstössliche Urteil darüber ausschliesslich bei Allah, dem Schöpfer aller Welten. Er erinnert uns an den Gehorsam:

…und gedenkt der Gnade Allahs gegen euch und des Bundes, den Er mit euch schloß, als ihr spracht: „Wir hören und gehorchen.“ Und fürchtet Allah; wahrlich, Allah weiß, was die Herzen verbergen. [Qur’an 5:7]

zum 1.Teil des Artikels > Replik zum Artikel Homosexualität und Islam Teil 1/2

zum Artikel > Homosexualität und Islam

Replik auf Homosexualität und Islam Teil 1: Zwei Männer in Anzügen unter einem Regenbogen Regenschirm

Replik auf den Artikel über Homosexualität und Islam (1/2)

Vorbemerkung: dieser Artikel darf nur als Meinung des Gastautors angesehen werden. Die Betreiber oder andere Autoren der Seite sind nicht pauschal mit den Inhalten des Textes einverstanden.

Ich habe den Artikel von Bruder Amin Waltter über Homosexualität und Islam mit grossem Interesse gelesen, und zwar drei Mal, weil ich mich mit seinen Argumenten gründlich auseinandersetzen wollte, um ja nichts falsch zu verstehen, weil Deutsch nicht meine Muttersprache ist.
Meine Frau und ich hatten bisher das Verständnis, dass der Islam das Ausleben der Homosexualität ablehne. Aber weil der Artikel aus der Schreibfeder eines Bruders kommt, der an den Qur’an allein glaubt und ich davon ausgegangen bin, dass seine Argumente ihm als alleinige Basis dienen, habe ich mir gesagt, ich bin gerne bereit, mich belehren zu lassen, wenn es um die Wahrheit geht und die Beweise kohärent und stimmig sind. Vor allem, wenn die Begründungen auf dem Qur’an fussen. Allahs Wort hat immer Vorrang.
Als Muslime sollten wir alle an Sein Wort glauben und es in unserem Leben im Rahmen unserer Möglichkeiten umsetzen. Auch was die arabische Sprache angeht, ist es durchaus möglich, dass ich als Araber von einem Deutschen mehr Arabisch lernen kann in Zusammenhang mit dem Qur’an, denn ich kenne Nicht-Araber, die besser Arabisch beherrschen als manche Araber und als Konvertiten ohne den Ballast der Traditionen und Gelehrtenmeinungen an dieses Buch herangehen.
Daraufhin habe ich meiner Frau gesagt: “Ich werde den Artikel dieses Bruders genau lesen, unabhängig von persönlichen Präferenzen. Wenn der Inhalt mich mit treffenden Versen überzeugen mag, dass die gelebte Homosexualität aufgrund qur’anischer Beweise als von Gott erlaubt anzusehen ist, dann werde ich meine Meinung umgehend ändern, egal, ob der Rest der Muslime das anders sieht. Wenn nicht, dann spielt es für mich keine Rolle, ob eine Minderheit der Muslime und der Rest der Welt es anders sehen. Für mich gilt schlussendlich nur Allahs alleiniges Urteil.

Dafür bitte ich Allah um Rechtleitung und Hilfe. Zu Ihm kehren wir zurück und am jüngsten Tag werden wir vor Ihm stehen und über unseren Glauben und unsere Taten
Rechenschaft ablegen:

Und fürchtet den Tag, an dem ihr zu Allah zurückgebracht werdet. Dann wird jeder Seele das zurückerstattet, was sie erworben hat, und ihnen wird kein Unrecht geschehen. [Qur’an 2:281]

Meiner Meinung nach gab es einige Fehler in den sprachlichen Erläuterungen des Autors und es fehlen Verse, die in seinem Artikel nicht untersucht wurden, die aber klar aufzeigen, dass die gleichgeschlechtliche Partnerschaft nicht im Qur’an vorgesehen ist.
Mein Ziel ist es keineswegs, Bruder Amin zu diskreditieren. Denn als Brüder im Islam sollten wir uns stets auf dem Weg Allahs gegenseitig ermahnen und einander wohlwollend helfen. Wir alle sollten im Dialog aufrichtig bestrebt sein herauszufinden, was richtig und was falsch ist; nicht mit Überheblichkeit, sondern mit überzeugenden, stichhaltigen Beweisen aus dem Qur’an. Eine brüderliche Verständigung basiert auf Allahs Buch, von dem sich die Gläubigen rechtleiten lassen sollen, um die Barmherzigkeit unseres Herrn zu erlangen.
In diesem Zusammenhang sagt Allah:

Und die gläubigen Männer und die gläubigen Frauen sind einer des anderen Freund: Sie gebieten das Gute und verbieten das Böse und verrichten das Gebet und entrichten die Zakah und gehorchen Allah und Seinem Gesandten. Sie sind es, derer Allah Sich erbarmen wird. Wahrlich, Allah ist Erhaben, Allweise. [Qur’an 9:71]

Das Ziel meiner nachfolgenden Erklärungen ist es, den geschätzten Geschwistern im Islam zu zeigen, wie wir im Geiste des Qur’ans handeln und den Sinn der Verse verstehen können.
Trotz aller gut gemeinten Anstrengungen meinerseits, beanspruche ich jedoch keine Deutungshoheit des Qur’ans. Wenn es mir gelingt, einige Leser zu überzeugen, dann ist alles dank Allah, Der mir half die Dinge zu überbringen, wie sie sein sollten. Wenn ich mich, hingegen geirrt habe, bitte ich Ihn um Verzeihung und Seine allgegenwärtige Rechtleitung und dass Er jemand anders mich korrigieren lässt.
Ich bitte daher alle Leser, meine Ausführungen nicht blind zu übernehmen, sondern sie mit dem Qur’an auf Richtigkeit und Stimmigkeit zu überprüfen. Nur so kann man sich von der vorgelegten Beweisführung überzeugen lassen und auf solidem Boden stehen.

Gleich zu Beginn muss ich Bruder Amin widersprechen. Die Absolution für die gelebte Homosexualität, die im Grunde gut gemeint ist und tolerant und objektiv tönt, entbehrt der qur’anischen Grundlage. Dafür zitiere ich zwei Verse, die in Bruder Amins Artikel fehlen:

Zu den homosexuellen Frauen

Und diejenigen von euren Frauen, die das Abscheuliche begehen, – bringt vier Zeugen von euch gegen sie. Wenn sie (es) bezeugen, dann haltet sie im Haus fest, bis der Tod sie abberuft oder Allah ihnen einen Ausweg schafft. [Qur’an 4:15]

Zu den homosexuellen Männern

Und wenn zwei von euch (Männern) es begehen, dann fügt ihnen Übel zu. Wenn sie (aber) umkehren und sich bessern, dann lasset ab von ihnen; denn Allah ist Gnädig und Barmherzig. [Qur’an 4:16]

In diesen Versen wird das Ausleben der Homosexualität als abscheuliche Praxis bezeichnet. Allah verliert diesbezüglich keine grossen Erklärungen, sondern geht direkt auf die vorgesehene Strafe ein, wenn gleichgeschlechtliche Menschen in der Öffentlichkeit miteinander verkehren.
Diese vom Qur’an als Abscheulichkeit verurteilte Tat lässt die Idee nach einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft oder Ehe erst gar nicht entstehen. Schon die ausgelebte Homosexualität wird verurteilt, einerseits mit der Warnung, dieser Neigung freien Lauf zu lassen, andererseits mit den drakonischen Strafen, die Allah in den oben erwähnten Versen ausgesprochen hat, wenn diese Neigung in einem Akt des Geschlechtsverkehrs mündet.

Schon die Idee, dass Allah die ausgelebte Homosexualität verabscheut, müsste Grund genug für Muslime sein, die diese Neigung haben, diesen Weg nicht weiterzuverfolgen. Sie sollten sich davon mit aller Kraft enthalten und Allah um Hilfe bitten, diese Kraft dafür aufzubringen, denn wir alle werden am jüngsten Tag vor Ihm stehen und Rechenschaft ablegen.

Beide Verse werfen zudem wichtige Fragen auf:
• Weshalb hat Allah für homosexuelle Frauen 4 Zeugen verlangt, nicht aber für homosexuelle Männer?
• Weshalb hat Allah eine psychische Strafe für Lesben vorgesehen, die ihre Neigung offen ausleben?
• Weshalb hat Allah eine physische Strafe für Schwule vorgesehen, die ihre Neigung ausleben?
• Welche besondere Bedeutung kommt der Bezeichnung „Al fahischah“ im Vers 4:15 zu?

Es wird einige erstaunen, welche Gemeinsamkeiten die Erkenntnisse aus den Antworten dieser Fragen mit der Geschichte Lots und seinem sündigen Volk haben. Wegen des grossen Umfangs verschiebe ich jedoch die Antworten darauf ins zweite Kapitel.

Eigentlich wäre ich mit den 2 oben genannten Versen mit meiner Abhandlung bereits fertig. Denn es gibt nichts Besseres als das Wort Allahs. Sein Urteil ist klar und eindeutig.

Trotzdem möchte ich auf den gesamten Text von Bruder Amin eingehen, um es den Lesern zu ermöglichen, sich ihre eigene Meinung zu bilden, indem ich die mit Arabischkenntnissen unterlegten Argumente mit qur’anischen Beweisen unter die Lupe nehme.
Ich möchte nicht, dass die Leser sich in falscher Sicherheit wiegen, dass homosexuelle Ehen und Partnerschaften erlaubt seien.

In seinem Artikel bediente sich Bruder Amin zweier Hauptargumente, um die Akzeptanz der Homosexualität im Islam zu begründen. Diese sind:

  1. Der Faktencheck bestimmter Worte im Qur’an, die auf gleichgeschlechtlichen Partnerschaften von Mann und Frau hinweisen sollten, allen voran vom Vers 30:21
  2. Die Untersuchung der Geschichte von Lot, welche gemäss Autor gar nichts mit Homosexualität zu tun habe

Meine Replik geht auf diese zwei Hauptthemen ein. Ich werde meine Darlegungen entsprechend in 2 Artikel aufteilen.

1.Teil: Das Argument, wonach die gleichgeschlechtlichen Partnerschaften im Vers 30:21 belegt sei

Ich möchte zuallererst auf zwei grundsätzliche Schwächen im Artikel hinweisen:
• Die versprochene, aber nicht eingehaltene ausschliessliche Stützung auf den Qur’an allein
• die Problematik des klassischen Arabisch

Der Qur’an als alleinige Quelle des Islams
Es ist ein klarer Widerspruch, eingangs zu sagen, sich nur am Qur’an zu orientieren und dann von authentischen Quellen in Mehrzahl zu sprechen. Hier zur Verdeutlichung:

„Das Tabu wird auf den Islam zurückgeführt. Ob seine authentischen Quellen tatsächlich hierfür herangezogen werden können,…“
Weiter steht: „Diese Arbeit soll nicht mehr als ein Versuch sein, diese Textstellen und die Gültigkeit der aus ihnen abgeleiteten Schlussfolgerungen zu überprüfen. Gleichzeitig sollen auf den folgenden Seiten auf der Grundlage des Qur’ans, dessen Wortlaut allein die Basis für eine islamische Antwort sein kann, der Rahmen der Untersuchung und die Möglichkeiten für homosexuelle Partnerschaften untersucht werden“

Wie viele authentische Quellen hat der Islam für jemand, der nur an den Qur’an glaubt? Ein paar Worte später steht, es solle auf der Basis des Qur’ans allein untersucht werden?!
Dass der Qur’an allein die Grundlage eines jeden Muslimlebens sein sollte, ist uns allen klar, aber nicht Gegenstand der jetzigen Diskussion. Bruder Amin hat mit sehr schönen Versen in seinem Beitrag den Nachweis geliefert und diese Tatsache genug bekräftigt.

Die Problematik der Vermischung zwischen Qur’an-Arabisch und klassischem Arabisch – Vers 30:21 als Paradebeispiel
Im Artikel steht als erster und hauptsächlichster Beweis über die vermeintliche Legitimität von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften der folgende, von Bruder Amin mit Einschüben erklärte Vers:

Unter Seinen Zeichen ist dies, dass Er (männliche bzw. weibliche) Partner für euch (Männer und Frauen) aus euch selber schuf, auf daß ihr (Männer und Frauen) Frieden bei ihnen findet; und Er hat Liebe und Barmherzigkeit zwischen euch gesetzt. Hierin sind wahrlich Zeichen für ein Volk, das nachdenkt. [Qur’an 30:21]

Die Worte männliche bzw. weibliche, welche jeweils in runden Klammern stehen, sind nicht im Originaltext des Qur’ans zu finden, sondern wurden erklärend hineingesetzt gemäss Bruder Amins Verständnis. Ich stimme Bruder Amin zu, dass sowohl Männer wie Frauen im Vers angesprochen werden.
Aber der Behauptung, dass in diesem Vers „azwadsch“ (أَزْواج)= Partner auch im Sinne von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften zu verstehen sei, muss ich widersprechen, und zwar, weil es unzählige Verse gibt, die dieser erweiterten Auslegung des Wortes azwadsch klar widersprechen und auch andere, welche Szenarien von ausschliesslich heterosexuellen Beziehungen beschreiben. Verse über gleichgeschlechtliche Partnerschaften gibt es nirgendwo.
Was wir primär beachten müssen bei der Interpretation von gewissen Worten ist, dass das Qur’an-Arabisch nicht immer mit dem klassischen Arabisch übereinstimmt. Der Qur’an hat seine eigene Art von Formulierungen, die der in der klassischen Sprache üblichen Ausdrucksweise nicht immer entsprechen. Folglich müssen die einfachen Regeln und Möglichkeiten der klassischen, arabischen Sprache ausser Acht gelassen werden, wenn sie mit dem Qur’an-Arabisch nicht zusammenpassen. Die Sprache des Qur’ans existierte, bevor die Araber überhaupt die Grammatik entwickelt und deren Standardisierung instituiert haben. Die ersten renommierten Grammatikgelehrten sind überhaupt erst mindestens 100 Jahre, nachdem der Qur’an offenbart wurde, geboren worden, z.B. Abul Aswad Addu’ali (gest. 80 Hj.), Al Khalil Al-Farahidi (gest. 170 Hj.) und der berühmte Sibawayh (gest. 180 Hj.)
Das ist der Grund, weshalb das klassische Arabisch nicht immer als Referenz dienen kann.
Dies wird im Laufe dieser Replik ersichtlich.

Wortanalyse von Azwadsch und Partner und ihre Vorkommnisse im Qur’an
Das Wort azwadsch – أَزْواج

Bruder Amin hat beide Worte als gleichwertig betrachtet. Und obwohl er weitere mögliche Bedeutungen erwähnt hat, wie Gatten bzw. Gattinnen, Paar bzw. Teil eines Paares, hat er das Wort Partner als den treffendsten Ausdruck für azwadsch vorgezogen.

Die Frage ist nun: Darf man das Wort azwadsch im Qur’an wirklich eins zu eins als Partner verstehen?
Dass das Wort „azwadsch“ für beide, Männer und Frauen, gilt und im Arabisch geschlechtsneutral ist, ist unbestritten.
Aber wie ist diese Geschlechterneutralität zu verstehen, wenn wir einen Vers haben wie 30:21? Sagt Allah wirklich nichts zum spezifischen Geschlecht der angesprochenen Personen?

Im Artikel wird die weibliche Form „zawdscha“ zitiert. Als Erstes ist hier anzumerken, dass diese nur im klassischen Arabisch vorkommt, aber nicht im Qur’an. Das ist ein klares Beispiel von der meist unglücklichen Vermischung zwischen den beiden Spracharten.
Die Wortwurzel „z/w/dsch“, woraus sich zawdsch zusammensetzt, findet sich im Qur’an 81x, und zwar in allen möglichen grammatikalischen und sprachlichen Konstellationen.
Im klassischen Arabisch hingegen existieren beide Formen sowohl im Singular wie auch im Plural: zawdsch (Sg., männlich), azwadsch (Pl. m.), zawdscha (Sg., weiblich), zawdschaat (Pl., w.).
Jetzt wird uns langsam klar, weshalb es unerlässlich ist, zwischen Qur’an-Arabisch und klassischem Arabisch zu differenzieren. Diese Herangehensweise hilft enorm, die Eigenheit der Verse zu berücksichtigen und sie in ihrem jeweiligen Kontext zu verstehen.
Im Qur’an gibt es grundsätzlich keine Synonyme. Jedes Wort hat darin seine eigenständige Bedeutung, denn Allah braucht keine Floskeln oder Füllwörter und muss sich nicht an unsere sprachlichen Regeln halten. Letzteres müssen wir wirklich beachten, weil es uns vieles beim Verständnis des Qur’an erleichtern würde.
Es gibt aber auch Worte einer gemeinsamen Wortfamilie, die je nach Kontext etwas anderes bedeuten. Sie heissen auf Arabisch „Al mushtarak allafdi = اَلْمُشْتَرَكُ الْلَّفْظِيُّ“ oder im Englischen „umbrella term“. Beispiele davon sind wie das Wort „daraba“ (fälschlicherweise nur als schlagen verstanden) oder As-Salat (fälschlicherweise nur als rituelles Gebet verstanden).
Die Worte azwadsch und Partner bedeuten nicht das Gleiche im Qur’an. Sie haben aber eine Schnittmenge im Sinne einer Verbindung zur Durchführung eines gemeinsamen Projektes. Azwadsch hat aber mehr zu bieten als nur eine partnerschaftliche Verbindung.
Auch sozial-gesellschaftlich kann niemand behaupten, dass das Wort Partner vor 50 Jahren im Sinne von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften verwendet wurde. Früher wurde der Ausdruck Partner mehrheitlich für geschäftliche Beziehungen benutzt. Genauso wurde mit dem Wort Paar eine männlich-weibliche Beziehung bezeichnet.

Meiner Überzeugung nach kann das Wort azwadsch nicht 1:1 als Partner verstanden werden und schon gar nicht als gleichgeschlechtlicher Partner, aus mehreren Gründen, unter anderem, weil wir bei der Wortanalyse auch viele andere Verse miteinbeziehen müssen, die dasselbe Wort enthalten, um uns dem eigentlichen Sinn anzunähern.

Bevor ich den zentralen Vers 30:21 in der Schlussfolgerung von Bruder Amin bespreche, möchte ich zwei dringende Fragen stellen:
• Hat Allah tatsächlich keine Merkmale in Bezug auf ein spezifisches Geschlecht erwähnt, wenn es um die Ehe bzw. Partnerschaft für Heterosexuelle wie auch implizit für Homosexuelle erlaubt?
• Wie können wir sicherstellen, was mit azwadsch tatsächlich gemeint ist im Hinblick auf partnerschaftliche Beziehungen, ob sie gleichgeschlechtlich sind oder nicht?

Der Autor sieht im Vers 30:21 drei Beziehungsmöglichkeiten:

  1. Eine Mann-Frau Beziehung
  2. Eine Mann-Mann und somit eine schwule Beziehung
  3. Eine Frau-Frau und somit eine lesbische Beziehung

Er meint, mit azwadsch seien alle möglichen Beziehungsarten gemeint. Ferner denkt er, dass Allah es nicht für nötig hält, alle 3 Beziehungen explizit zu nennen. Doch ich finde, wir sollten uns an folgenden Vers erinnern:

Und Wir haben dir das Buch zur Erklärung aller Dinge herniedergesandt, und als Führung und Barmherzigkeit und frohe Botschaft für die Gottergebenen. [Qur’an 16:89]

Ich werde in meiner Analyse das sogenannte Ausschlussverfahren verwenden, um die im Vers nichtzutreffenden Verbindungen zu streichen.

Hier nochmals der Vers:

Unter Seinen Zeichen ist dies, dass Er (männliche bzw. weibliche) Partner für euch (Männer und Frauen) aus euch selber schuf, auf daß ihr (Männer und Frauen) Frieden bei ihnen findet; und Er hat Liebe und Barmherzigkeit zwischen euch gesetzt. Hierin sind wahrlich Zeichen für ein Volk, das nachdenkt. [Qur’an 30:21]

Im Vers haben wir zusätzlich zur Beschreibung des Friedens, welche die Paare beieinander finden, auch zwei weitere positive Eigenschaften, die ihre Gefühle füreinander prägen sollen, sprich die wohlwollende Beziehung, also die Liebe und die Barmherzigkeit. In diesem Satz wird zur Bezeichnung dieser gegenseitigen Empfindungen das Bindewort baynakum (zwischen euch) benutzt. Dieses Wort wird, genau wie bei bei azwadsch, im männlichen Plural ausgedrückt. Wenn Allah aber auch eine lesbische Beziehung für legal erklärt hätte, hätte Er zusätzlich das Bindewort baynakunna für nur das weibliche Geschlecht eingesetzt. Das hat Er nicht gemacht. Deshalb kann bei dieser Wortkonstellation keine lesbische Beziehung damit gemeint sein. Dies schliesst die Möglichkeit einer Frau-Frau Beziehung aus.

Das heisst, dass wir daraus nicht mehr als 2 Beziehungsmöglichkeiten haben werden. Diese sind:

  1. Der Fall der Beziehung zwischen Mann und Frau – aufgrund des im Arabisch vorherrschenden grammatikalischen Maskulin, bei dem auch Frauen immer mitgemeint sind.
  2. Der Fall der Beziehung zwischen Mann und Mann – weil das Wort schon im Maskulinum Plural ist und in diesem Fall nur Männer betreffen würde.

Das wäre aber für die Frauen diskriminierend, und wir wissen, dass Allah nicht ungerecht ist. Folglich müssen wir auch die Mann-Mann Beziehung aus der Interpretation ausschliessen und es bleibt nur die Mann-Frau Beziehung.

Zur Vertiefung betrachten wir ein paar Beispiele von azwadsch. Dieser Begriff kommt 81 Mal vor.
Beispiel 1) – Wenn mit azwadsch die Frauen gemeint sind, und zwar aus der Perspektive der Männer

Und wenn diejenigen von euch, die abberufen werden, Gattinnen (azwaschahum) zurücklassen, so sollen diese (Witwen) vier Monate und zehn Tage abwarten. Und wenn sie dann ihren Termin erreicht haben, so ist es kein Vergehen für euch, wenn sie in gütiger Weise über sich selbst verfügen. Und Allah ist wohl vertraut mit dem, was ihr tut. [Qur’an 2:234]

Hier wird dasselbe Wort azwadsch verwendet wie beim Vers 30:21 und auf Deutsch mit Gattinnen übersetzt – mit gutem Grund, weil nur Frauen schwanger werden und nur sie eine Periode bekommen. Hier befiehlt Allah, diese Wartefrist zu beachten, um festzustellen, ob eine Witwe schwanger ist oder nicht, bevor sie eine neue Ehe eingehen darf. Das heisst, wir haben im Kontext innerhalb dieses Verses verstanden, dass mit azwadsch hier tatsächlich Gattinnen gemeint sind. Deshalb kann in diesem Vers keine gleichgeschlechtliche Partnerschaft gemeint sein, wenn azwadsch drinsteht. Allah lehrt uns auf diese Art und Weise, die richtige Bedeutung eines Wortes im gegebenen Zusammenhang zu erfassen, wenn wir es in anderen Versen nicht ganz oder gar nicht verstehen.
Wer davon nicht überzeugt ist, kann gerne die Verse von 2:234 bis 237 lesen; auch dort treffen wir auf denselben Sachverhalt.

Beispiel 2) Wenn mit azwadsch die Männer gemeint sind, und zwar aus der Perspektive der Frauen

Und sie sagen: „Was im Schoße von diesen Tieren ist, das ist ausschließlich unseren Männern vorbehalten und unseren Frauen (azwadschina) verboten“: wird es aber tot (geboren), dann haben sie (alle) Anteil (schuraka‘a) daran. Er wird ihnen den Lohn für ihre Behauptung geben. Wahrlich, Er ist Allweise, Allwissend. [Qur’an 6:139]

Hier wird die Dominanz der Männer über Frauen bzw. das Patriarchat thematisiert und ein Beispiel gegeben, wie die damalige männliche Gesellschaft der Muschrikin mit ihren Frauen umgegangen ist. Der Vers erzählt, was den Frauen zu essen erlaubt war, und was nicht. Nur Männer hatten das exklusive Recht, ungeborene Tiere des geschlachteten Muttertieres zu verzehren. Wenn das Ungeborene aber tot war, durften die Frauen auch mitessen. Eine Ungerechtigkeit, die Allah zu Recht anprangert. Hier wird das Wort azwadsch für Frauen verwendet und von «dhukurina», also «unsere männlichen Individuen» genau unterschieden. Im Kontext dieses Verses sind mit azwadschina nur Frauen gemeint.
In diesem Vers kommt aber auch das Wort «schuraka’a» (Pl. von scharyk) vor, also Teilhaber und genau dieses Wort ist die Definition von Partner im Qur’an!

Ich werde dies später mit anderen Versen noch genauer erläutern.

Die werten Leser werden es hoffentlich gut verstehen, dass ich nicht alle 81 Verse untersuchen werde, um den Beweis von Geschlechtsspezifizität im jeweiligen Vers weiter zu erklären. Wer will, kann dies gerne selbst tun und sich überzeugen lassen.

Aber weshalb ist der Begriff azwadsch überhaupt geschlechtsneutral?

Das ist eigentlich der Schlüssel um herauszufinden, ob eine Partnerschaft bzw. Ehe im Islam gleichgeschlechtlich sein darf oder nicht, speziell für nicht Arabischsprechende.
Im Qur’an-Arabisch wird das Wort zawdsch als generisches Maskulin für beide Geschlechter verwendet wird, aber nur im Qu’ran Arabisch. Denn im Qur’an, wenn ein Geschlecht im selben Kontext erwähnt ist, kann nur sein Gegenstück im geschlechtlichen Sinne gemeint sein. Also wenn ein Mann/Männer und zawdsch/azwadsch im selben Vers erwähnt wird/werden, kann zawdsch/azwadsch , wenn es zusätzlich erwähnt wird, nur Frau/Frauen bedeuten. Umgekehrt selbstverständlich auch. Aber nie das Gleichgeschlechtliche, weil sich im Qur’an schlicht einfach nirgendwo diese Beziehungskonstellation bzw. Definition finden lässt. Hätte es Letztere als legitimierte Beziehung gegeben, hätte Allah sie ausdrücklich erwähnt, um jegliche Unklarheiten darüber aufzuheben. Denn der Qur’an erklärt alles, was wir für unsere Lebensweise im Hinblick auf unseren Glauben und dessen Praxis brauchen.
Ansonsten hätte der Vers, dass der Qur‘an zur Erklärung aller Dinge herabgesandt wurde keinen Sinn gemacht.
Die generische Nennung mit azwadsch ist deshalb zutreffend für Mann und Frau, weil es nur 2 natürliche Geschlechter gibt und deren Verbindung so von Allah gewollt ist. Mann und Frau ergänzen sich, die eine Hälfte eines Paares ist die komplementäre Seite der anderen Hälfte, weil sie geschlechtlich zueinander passen und ihre Genitalien sowohl für den Geschlechtsverkehr als auch für die Fortpflanzung geeignet sind. Daraus können wir folgern, dass es unmöglich sein kann, dass mit „azwadsch“ auch das Gleichgeschlechtliche gemeint ist.

Aber wie kann ich mit dieser Behauptung so sicher sein?
Den eindeutigen Beweis zur richtigen Definition des Worts zawdsch bzw. azwadsch liefert uns Allah in diesen Versen:

und daß Er die Paare (a’zzawdschayni) (als) männliche und weibliche (Wesen) erschaffen hat [Qur’an 53:45]

Hier definiert Allah ganz genau, was Er mit dem geschlechtsneutralen Wort „zawdsch“ meint und Er setzt es demonstrativ in der Dualform „azzawdschaini“, um die von Ihm erlaubte eheliche Verbindung zu zeigen. Die Übersetzung liegt hier auch richtig mit dem Ausdruck „Paare“. Weiter sagt Allah, dass die Paare, männliche und weibliche Wesen sind. Also, dass sie zueinander geschlechtlich passen, weil sie unterschiedlich oder im geschlechts-spezifischen Sinne kompatibel sind.
Er sagt auch:

Alsdann schuf Er aus ihm ein Paar, das männliche und weibliche (Wesen). [Qur’an 75:39]

Nirgendwo im Qur‘an finden wir eine gleichgeschlechtliche Definition wie z. B.:

Alsdann schuf Er aus ihm ein Paar, das männliche und männliche (Wesen)

oder

Alsdann schuf Er aus ihm ein Paar, das weibliche und weibliche (Wesen) Auch die folgenden beiden Verse zusammen zeigen uns eindeutig, was mit dem Wort „zawdsch“ gemeint ist:

Allah gehört die Herrschaft der Himmel und der Erde. Er erschafft, was Er will. Er schenkt, wem Er will, (nur) weibliche, und Er schenkt, wem Er will, (nur) männliche (Nachkommen).
Oder beides zusammen (yuzawidschuhum), männliche und weibliche (Nachkommen). Und Er macht, wen Er will, unfruchtbar. Gewiß, Er ist Allwissend und Allmächtig. [Qur’an 42:49-50]

Allah schenkt heterosexuellen Paaren männliche, weibliche oder gar keine Kinder. Was aber hier heraussticht, ist die Verwendung des Worts „zawdsch“ als Verb. Allah sagt darin „au yuzawidschuhum dukranan wa inathan“ was „oder schenkt beides zusammen, männliche und weibliche Wesen“ bedeutet.
Das heisst wiederum, dass das Infinitivverb „zawwadscha“ das paarweise Hervorbringen bedeutet, wie selbsterklärend im Vers steht. Demgegenüber finden wir im Qur‘an nirgendwo und in keinem anderen Zusammenhang, dass es ein „yuzawidschuhum“ (=paarweise macht) gibt, nämlich die Paarmachung aus männlich/männlich und aus weiblich/weiblich.
Demzufolge bedeutet ein Paar oder paarweise machen gemäss obiger Definition in den vier Versen [Qur’an 53:45], [Qur’an 75:39] und [Qur’an 42:49-50], also nur Mann und Frau, und nichts anderes.
Dies schliesst anders gestaltete Partnerschaften aus.

Diese Tatsache bekräftigt zudem dieser Vers, der ähnlich wie 30:21 klingt:

Er ist es, Der euch aus einer einzigen Seele (Nafs) erschuf; und aus ihr machte Er ihren Gatten (zawdschaha), damit er bei ihr (ilay-ha) Ruhe finde (li yaskuna= männliche Form). Als er ihr dann beigewohnt hatte, war sie mit einer leichten Last schwanger und ging mit ihr umher. Und wenn sie schwer wird, dann beten beide zu Allah, ihrem Herrn: „Wenn Du uns ein gutes (Kind) gibst, so werden wir wahrlich unter den Dankbaren sein.“ [Qur’an 7:189]

Der Unterschied zwischen dem Vers 30:21, der dem Autor als Grundlage seiner Ausführungen diente und dem obigen Vers 7:189, ist folgender:
In 30:21 wird ein sich wiederholendes Ereignis behandelt, das wir tagtäglich erleben, nämlich die Erschaffung von Paaren, der männlichen und weiblichen Wesen von Allah. Darin werden Paare, also „azwadsch“ in der Pluralform erwähnt. Hingegen im obigen Vers 7:189 wird im ersten Teil der Ursprung erwähnt, von dem die ganze Menschheit abstammt. Hier wird das Singular der männlichen Form erwähnt, sprich „zawdschaha“. Aber das Fettgedruckte „ha“, heisst „zu ihr (Nafs) gehörend“ und bezieht sich auf das 1. Geschöpf Allahs, welches ein weibliches Wesen war. Im zweiten Teil des Verses erklärt Allah weiter, was aus dieser Verbindung des Paares entsteht, nämlich ein Kind.
Dass azwadsch keine Paare im homosexuellen Verhältnis umfassen, zeigt Allah auch mit diesem Vers:

Und Allah gab euch Gattinnen aus euch selbst, und aus euren Gattinnen machte Er euch Söhne und Enkelkinder, und Er hat euch mit Gutem versorgt. Wollen sie da an Nichtiges glauben und Allahs Huld verleugnen? [Qur’an 16:72]

Im Arabisch steht azwadschan für Gattinnen, genau wie bei 30:21. Denn nur aus einem Mann und einer Frau können Söhne und Enkelkinder entstehen.

Allah sagt, wie bei anderen Versen auch, dies:

Der Schöpfer der Himmel und der Erde – Er hat aus euch selbst Paare für euch gemacht und Paare aus den Tieren. Dadurch vermehrt Er euch. Es gibt nichts Seinesgleichen; und Er ist der Allhörende, der Allsehende. [Qur’an 42:11]

Nur Menschen und Tiere, welche aus heterosexuellen Paaren kommen, können sich vermehren. Wenn hier auch gleichgeschlechtliche Paare gemeint wären, wäre es unpassend zu sagen, dass sie sich miteinander vermehren. Auch die Geschichte Noahs und die Rettung von Paaren bei Menschen und Tieren gibt uns Aufschluss darüber, in welchem Sinn das Wort Paar gemeint war

So ging es,) bis nun Unser Befehl kam und der Ofen brodelte; Wir sagten: „Lade darin von jeder (Art) zwei, ein Paar, und deine Angehörigen außer demjenigen, gegen den das Wort vorher ergangen ist, und diejenigen, die glauben!“ Mit ihm glaubten aber nur wenige. [Qur’an 11:40]

Warum wohl Paare? Offensichtlich war der Sinn, dass aus den Tierpaaren wieder Nachkommen hervorgehen, und das geht natürlich nur bei heterosexuellen Tierpaaren. Auch hier sieht man deutlich, dass die Definition von Bruder Amin unvereinbar ist mit dem eigentlichen Sinn, also der Bestimmung, die Allah dem Wort im Qur’an gab. Diese Bestimmung nennt man „Ihkamu-Nnass = إِحْكامُ النَّصِّ“, also die weise Festlegung des Schrifttextes, sodass er stabil, unveränderbar in seinem Kontext ist, und uns so das Verstehen möglich ist, was im Arabischen „ihkamu-l-fahm = إِحْكامُ الْفَهْمِ“ heisst. Diese Tatsache beschreibt Allah uns so:

Alif-Lām-Rā. (Dies ist) ein Buch, dessen Zeichen eindeutig festgefügt und hierauf ausführlich dargelegt sind von Seiten eines Allweisen und Allkundigen. [Qur’an 11:1]

Auch folgender Vers widerspricht der Auffassung des Autors, mit zawdsch seien auch homosexuelle Paare gemeint:

Und Er ist es, Der die Erde ausdehnte und feststehende Berge und Flüsse in ihr gründete. Und Er schuf auf ihr Früchte aller Art, ein Paar von jeder (Art) Er läßt die Nacht den Tag bedecken. Wahrlich, hierin liegen Zeichen für ein nachdenkendes Volk. [Qur’an 13:3]

Hier wird dasselbe Wort zawdsch mit der Dualdeklination azzawdschayni wieder verwendet.

Dies sind nur ein paar Verse von vielen. Wenn wir sie alle betrachten, sehen wir, dass Allah den Begriff immer nur für heterosexuelle Beziehungen verwendet.

Hingegen finden wir klare Worte bezüglich ausserehelichen sexuellen Beziehungen.

Und wenn sie eine Abscheulichkeit (fahischa) begehen, sagen sie: „Wir fanden unsere Väter dabei, und Allah hat sie uns befohlen.“ Sprich: „Wahrlich, Allah befiehlt keine Schandtaten. (fawahisch=Mehrzahl sämtlicher Abscheulichkeiten) Wollt ihr denn von Allah reden, was ihr nicht wisset?“[Qur’an 7:28]

Der Begriff al fahischa kommt im zu Beginn zitierten Vers 4:15 vor:
… Und wenn einige eurer Frauen eine Hurerei (al fahischa) begehen…
Dort wird er eindeutig der Homosexualität zugeordnet.
Damit möchte ich die Behauptung von Bruder Amin widerlegen, dass man Homosexualität als (Zitat): … von Allah so gewollte sexuelle Disposition dankbar akzeptieren soll.

Betrachten wir nun das Wort Partner (Scharyk – شَرِيك)
Dieses Wort bildet sich aus dem Wortstamm schīn/rā/kāf und kommt 168x im Qur’an vor.
Schauen wir ein paar Beispiele an.

Beispiel 1

Wahrlich, Allah wird es nicht vergeben, daß Ihm Götter zur Seite gestellt werden; doch Er vergibt das, was geringer ist als dies, wem Er will. Und wer Allah Götter zur Seite stellt, der hat wahrhaftig eine gewaltige Sünde begangen. [Qur’an 4:48]

Götter ist keine treffende Übersetzung für „yuschraka“ bzw. „yuschrik“, richtiger wäre Partner, obwohl Götter in diesem Beispiel als Partner von Allah beigesellt werden.
In der englischen Übersetzung wird das Wort „yuschraka“ bzw. „yuschrik“ korrekt als „partners be associated“ bzw. „(anyone who) associates partners“ übersetzt.

Hier kann niemand von einer Partnerschaft im Sinne von Ehe sprechen. Es geht hier lediglich um die Unmöglichkeit von Beteiligung anderer an der Macht und Autorität Allahs.

Beispiel 2

Sprich: „Allah weiß am besten wie lange sie verweilten.“ Ihm gehört das Verborgene der Himmel und der Erde. Wie sehend ist Er! Und wie hörend! Sie haben keinen Helfer außer Ihm, und Er teilt Seine Befehlsgewalt mit keinem. [Qur’an 18:26]

Hier wird dasselbe Wort, aber als Verb „yuschriku“ verwendet, um die Unteilbarkeit der Befehlsgewalt Allahs mit jemandem hervorzuheben

Beispiel 3
Und (gedenke) des Tages, da Wir sie versammeln werden allzumal; dann werden Wir zu denen, die Götzen anbeteten, sprechen: „An euren Platz, ihr und eure Teilhaber! „Dann scheiden Wir sie voneinander, und ihre Teilhaber werden sagen: „Nicht uns habt ihr angebetet. [Qur’an 10:28]
In diesem Vers steht dasselbe Stammwort in der Redewendung „schurakaa‘ukum“ bzw. „schurakaa‘uhum“ in der Mehrzahl und im Sinne von Partnern, welche die Götzendiener Allah beigesellt haben.

Wir haben gesehen, dass alle drei Beispiele dasselbe Wort „scharyk“ (Sg.) bzw. „schurakaa“ (Pl.) haben und es sich dabei um Partner handelt.
Hier und in allen restlichen der insgesamt 168 Vorkommnissen im Qur’an wird dieses Wort jedoch nie als Synonym für zawdsch/azwadsch verwendet wie Bruder Amin es in seiner Ausführung getan hat. Beide Worte werden separat in ihrem jeweiligen Kontext im Qur’an benutzt. Alle 168 Male kommt das Wort Partner nie im Sinne einer ehelichen Beziehung zwischen Menschen vor.

Bruder Amin schrieb über das nächststehende Wort im Vers 30:21:

„Der Ausdruck إِلَيْهَا – ilay-hâ – (hier wiedergegeben mit: bei ihnen) ist ein Femininum Singular und bezieht sich auf das vorangehende Wort أَزْوَاجًا – azwadschan – (Partner, Partnerinnen), ein arabisches Wort in gebrochener Pluralform“

Dem möchte ich widersprechen, und zwar auf folgendem Grund:
Bruder Amin geht davon aus, dass „ilay-ha“, „ihnen“ bedeute für beide, Männer und Frauen, als Mischform für Partner und Partnerinnen. Das ist aber nicht der Fall. Korrekterweise hätte in richtiger, grammatikalischer Übereinstimmung in Bezug auf den Numerus stehen müssen „ilay-him“; wegen des Pluralmaskulinums, mit dem der Begriff azwadschan konjugiert wurde.
Das Wort „ilay-him“ kommt 38x im Qur‘an vor; mal nur für Männer und mal für beide, Männer und Frauen.
Mit anderen Worten, wenn Allah gewollt hätte, dass beide Geschlechter im Vers 30:21 gemeint sind, hätte Er das Wort „ilay-him“ und nicht „ilay-ha“ eingesetzt für eine einzelne Frau. Das Wort „ilay-hinna“, das im Qur‘an nur 2x vorkommt (in den Versen 12:31 und 33 der Geschichte Yusufs mit den Frauen, die sich mit dem Messer verletzt haben), wurde aber im Vers 30:21 nicht eingesetzt!

„ilay-ha“ heisst wörtlich übersetzt „ihr“, wegen dem Singularfemininum ha.
Ilay-ha bezieht sich nicht nur, aber primär auf das „nafs“, also das „Selbst“ oder die Seele; auf Arabisch „Anfusikum“=euch selbst im Plural Maskulinum. Das Wort nafs ist grammatikalisch weiblich, egal ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt. Mit anderen Worten finden in erster Linie nicht der Mann und die Frau an sich Frieden in ihrem Beisammensein, sondern ihre jeweiligen nafs, also ihr individuelles Inneres, das sozusagen ineinander verschmilzt und sich gefühlsmässig vereinigt. Das sind die treffenden Worte Allahs, die klar werden, wenn man sie studiert.

Bruder Amin hat den Vers als Beleg dafür benutzt hat, um die folgende Aussage zu machen:

“Somit sind auch alle Regeln für einen نكاح (nikâH = Ehe/Ehevertrag) bzw. زواج (zawâj = Ehe, Partnerschaft) für alle gültig. Denn er macht die Menschen erst zu Partnern (ازواج, azwâj). Zumal es nirgendwo im Qur’ân ein Heiratsverbot gibt zwischen Menschen desselben Geschlechts. Folglich sind unter einem نكاح (nikâH) homosexuelle Verbindungen ebenso legal wie heterosexuelle. الحمد لله– al-Hamdu lillah. Jeder Homosexuelle, Muslima oder Muslim, sollte von daher die von Allah so gewollte sexuelle Disposition dankbar akzeptieren“.

Dieser Schlussfolgerung widerspricht jedoch die Tatsache, dass im Qur’an in den Versen 4:15 und 4:16 Strafen stehen für homosexuelle Aktivitäten von Männern und Frauen; da
erübrigt sich ein Verbot einer gleichgeschlechtlichen Ehe, welche ja als Institution das Ausleben solch einer abgelehnten Praxis beinhalten und legalisieren würde.
Ich finde es enorm wichtig, sich dem Sinn des Qur’an durch Wortvergleiche und Verszusammentragung innerhalb des Qur’ans (tartil) anzunähern, sonst kann es schnell geschehen, dass der eigentliche Sinn verfälscht wird. Wir alle müssen aufpassen, dass wir nicht zu Leuten gehören, über die Allah sagt:

Er ist es, Der dir das Buch herabgesandt hat. Darin sind eindeutig klare Verse; sie sind die Grundlage des Buches und andere, die verschieden zu deuten sind. Doch diejenigen, in deren Herzen (Neigung zur) Abkehr ist, folgen dem, was darin verschieden zu deuten ist, um Zwietracht herbeizuführen und Deutelei zu suchen, (indem sie) nach ihrer abwegigen Deutung trachten…. [Qur’an 3:7]

Ich möchte Bruder Amin und alle Leser auffordern, sich mit dieser Thematik nochmals gründlich und unvoreingenommen auseinanderzusetzen. Mögen auch die folgenden Gedanken dazu hilfreich sein:

  1. Das Wort Nikah (Eheschliessung) zwischen Mann und Frau vom Wortstamm nūn/kāf/ḥā kommt im Qur’an 23x vor, und zwar mit allen erdenklichen Facetten einer Eheschliessung. Darunter gibt es keinen einzigen Vers zur gleichgeschlechtlichen Ehe.
  2. Das Wort Talaq (Scheidung) zwischen Mann und Frau vom Wortstamm ṭā/lām/qāf kommt im Qur’an 23x vor, auch mit allen Konsequenzen für das scheidende Paar. Davon gibt es keinen einzigen Vers über die gleichgeschlechtliche Scheidung
  3. Das Wort Arrada’a (Stillen) über verheiratete Frauen, die ihre Säuglinge stillen vom Wortstamm rā/ḍād/ʿayn kommt im Qur’an 11x vor. Kein einziger Vers ist darin zu finden, wo das Stillen der Säuglinge thematisiert wird im Fall einer gleichgeschlechtlichen Ehe/Partnerschaft, die einen Säugling adoptiert hat.
  4. Das Wort zum Verb tawaffaa (sterben) vom Wortstamm wāw/fā/yā kommt im Qur’an 66x vor. Davon behandeln zwei Verse die Regelung für eine Frau, wenn ihr Mann stirbt und sie feststellen muss, ob sie schwanger ist, falls sie eine neue Ehe eingehen will. Eine spezielle Regelung dazu für gleichgeschlechtliche Paare gibt es nicht.
  5. Das Wort zum Verb waratha (erben) vom Wortstamm wāw/rā/thā kommt im Qur’an 35x vor. Davon behandeln zwei Verse den Nachlass. 4:12 regelt den Fall, wenn einer vom Ehepaar, Mann oder Frau, stirbt. Vers 4:176 regelt den Fall, wenn ein Teil des Ehepaares stirbt, das keine Kinder hat (Arabisch für kalala). Eine spezielle Regelung für gleichgeschlechtliche Paare fehlt auch hier gänzlich.

Möge Allah uns alle rechtleiten!

Im zweiten Teil schauen wir inscha Allah folgendes Kapitel an: Die Geschichte Lots und ob sie etwas mit Homosexualität zu tun hat.

Sonnenuntergang Mann breitet seine Arme aus

In jedem Menschen steckt eine Kalifin!

2:30 „Und als dein Herr zu den Engeln sagte: ‚Ich werde auf der Erde einen Nachfolger1 hinterlassen!‘, sagten sie: Lässt du darauf solch einen, der Verderben stiftet und Blut vergießt, wo wir dich mit Lob preisen und dich heiligen. Er sagte: Ich weiß, was ihr nicht wisst.“

Hanif-Übersetzung (alquran.eu)

Schon mal aufgefallen, dass das arabische Wort für „Nachfolger“, also chalīfah (arab.: خليفة), eigentlich weiblich ist? Seltsam, oder? Denn die männliche Form wird im Arabischen nicht verwendet. Sie gibt es nicht mal! Und wenn man an dessen eingedeutschte Version denkt, also das Wort „der Kalif“ oder „das Kalifat“, dann schauert es in der Regel nicht nur dem Otto-Normal-Muslim überall auf der Welt. Zu groß ist das Unheil, das unter diesem Banner in manchen Teilen der Welt verbreitet wurde, sodass sich im Grunde jeder Mensch, der etwas auf Menschenwürde, Freiheit und Gerechtigkeit gibt, naturgemäß von diesen schrecklichen Barbareien distanziert und jeder Muslim deren weltfremden Auslegung des Korans den Kampf ansagen sollte.

Gehen wir weiter in die Geschichte zurück, so kommen in der Regel nur männliche Kalifen in den Sinn – Abū Bakr, Omar oder Uthmān. Während Ersterer sich noch „Nachfolger des Propheten“ (arab.: chalīfat rasūlillāh, خليفة رسول الله) nannte, ging Uthmān zum Namen „Nachfolger Gottes“ (arab.: chalīfatullāh, خليفة الله) als Bezeichnung seines Postens über. Keinem von ihnen sowie von denen, die nach ihnen kamen, ist dabei je in den Sinn gekommen, die männliche Version, also chalīf (arab.: خليف), zu verwenden, so wie wir es im Deutschen tun.

Und dennoch ist der Begriff „chalīfah“ bzw. das deutsche Wort „Kalif/Kalifat“ heutzutage in der breiten Mehrheit trotz aller Distanzierungen und andersartiger Auslegungen des Islams wie kaum ein anderer Begriff zum Sinnbild des Patriarchats geworden, wonach – bildlich gesprochen – der große, grimmige und vollbärtige Mann das Weltgeschehen bestimmt und die kleine, schwache Frau von der Öffentlichkeit verbannt wird. Geht es strikt nach der Tradition, so hat die Frau bestenfalls Haushalt und Kinder zu hüten, sich in der Öffentlichkeit mehr oder minder stark zu bedecken und dem Mann bedingungslos zu gehorchen. Mal mehr mal weniger schlimm geht es heutzutage tatsächlich noch in vielen muslimischen Familien in Deutschland zu. Manchmal ist es offensichtlich, manchmal verstecken sich derartige traditionalistische Züge hinter der Fassade angeblicher Aufgeklärtheit und Offenheit.

„Das Diesseits ist das Gefängnis des Gläubigen!“ heißt es in einer allgemein bekannten Überlieferung des Propheten. Ich sage: Der Glaube ist das Gefängnis des Gläubigen. Jedenfalls jener uns überlieferte, traditionelle Glaube, der uns vererbt wurde und seit Jahrhunderten so oder so ähnlich praktiziert wird – jener Glaube, dem nicht nur Frauen und Kinder zum Opfer fallen, sondern der den Anspruch hat, für jeden Einzelnen, ob Mann, Frau oder Kind, sämtliche Lebensbereiche bis ins kleinste Detail zu reglementieren. Damit nimmt er dem Einzelnen die Luft zum Atmen und den Raum zur freien Entfaltung der Persönlichkeit. Als solcher Gläubiger lernt man nicht unbedingt, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und so zu leben, wie man es für richtig hält. Eigenverantwortung und Selbstbestimmung sind Fremdwörter im traditionellen Glauben. Und wenn man sich die entsprechende Literatur anschaut, die uns nun seit Jahrhunderten erhalten blieb, so wimmelt sie nur so von unzähligen Vorschriften, die wir im Alltag im Hier und Jetzt umzusetzen haben.

Mann und Frau haben in Moscheen getrennte Räume zu betreten. Man hat mit der rechten Hand zu essen. Und die anderen, die Nicht-Muslime, sind anders als wir. Drum haben wir Abstand von ihnen zu nehmen. Dies sind nur drei von etlichen Beispielen für Vorschriften, die es gibt. Und wer sich nicht an diese Vorschriften hält, gilt schnell als Abtrünniger. Es sind Vorschriften, die meines Erachtens nichts mehr mit unserer heutigen Wirklichkeit zu tun haben. Warum darf sich die Frau in einer Moschee im selben Raum nicht zum Mann gesellen? Warum darf man kategorisch nicht mit der linken Hand essen, wenn einem danach ist? Und warum sollen sog. „Nicht-Muslime“ anders bzw. schlechter gestellt sein als wir, die wir uns selbst „Muslime“ nennen?

Der Mensch ist ein Nachfolger Gottes. Ist damit automatisch der Mann gemeint? Also einer, der mental so schwach ist und sich vor seinen eigenen Trieben nicht sicher sein kann, wenn er in einem Gotteshaus eine Frau erblickt? Einer, der dermaßen willensschwach ist und dem ein bloßer Blick auf das Kopftuch oder das Oberteil der Frau genügt, damit er seinen eigenen Gottesdienst nicht mehr leisten und sich auf Gott nicht mehr konzentrieren kann? Einer, der die Frau somit lieber zum Sündenbock für die eigenen Unzulänglichkeiten macht und sie somit in Hinterzimmern verschließt, als sich seinen eigenen Mängeln zu stellen und an sich zu arbeiten? Einer, der die Macht des Patriarchats nutzt, um seine eigene, vermeintlich starke Position zulasten der Frau festigt?

Ich beschuldige keinen Abū Hurayrah, Schafiī oder Buchārī, die den Leuten ihrer Zeit tatsächlich ihren Dienst erwiesen haben könnten. Ich beschuldige einen jeden von uns, der selbst heute noch an solchen irrationalen Glaubenssätzen festhält und sie mit aller Macht und ohne Rücksicht auf Verluste umgesetzt haben möchte – Glaubenssätze, die zu familiärer Gewalt führen können, nur weil man den Löffel oder die Gabel mit der linken Hand festhält. Glaubenssätze, auf Grundlage derer pessimistisch und reaktionär auf die Welt geschaut und treu dem Motto „Bist du nicht mein Freund (also Muslim), bist du mein Feind!“ gefolgt wird. Nur weil der eine oder anderer gemäß dieser veralteten Vorschriften als „Nicht-Muslime“ gilt.

Wenn man sich dieses Sammelsurium an Vorschriften und jeden, der unentwegt daran festhält, anschaut, so scheint Angst das dominierende Gefühl zu sein – Angst um den eigenen Status und die Vorherrschaft des Mannes, Angst vor Herausforderungen, die zu jeder Zeit sowohl innerhalb als auch außerhalb der muslimischen Community lauern, und Angst vor dem Wandel und dem Neuartigen, das das Leben unweigerlich bietet. Angst führt zu Unsicherheit und Unsicherheit führt zu einem Schutzwall, den man um sich herum baut, um den vermeintlichen Gefahren etwas entgegenzusetzen. Man tut dies aus vermeintlicher Stärke, doch in Wahrheit ist man schwach. Schwach, weil die Frau in vielerlei Hinsicht als potenzielle Gefahr in der öffentlichen bzw. religiösen Ordnung gilt und man sie deswegen kategorisch herabwürdigen muss. Schwach, weil man in jeder noch so alltäglichen Situation Angst vor der Strafe Gottes hat, weil man zulässt, dass der Teufel angeblich mitisst, wenn man den Löffel mit der linken Hand festhält und man denjenigen deswegen maßregeln muss. Und schwach, weil man der globalisierten Welt mit all ihren materiellen und geistigen Errungenschaften, die dem Wohl des Menschen dienen können, nichts entgegenzusetzen hat und man deswegen die „Nicht-Muslim“-Karte spielen muss, um sich künstlich und trotz allen Fortschritts der anderen über sie zu stellen. Angst ist hochgradig ansteckend und wirkt sich auf die Kindererziehung aus, sodass auch kommende Generationen Gefahr laufen, von dieser völlig vereinnahmenden Angst dauerhaft gelähmt zu werden.

Der traditionelle Glaube verkommt somit zur bloßen Verteidigung einer vor Jahrhunderten konstruierten Identität, die nicht auf der Idee des Menschen als wertvolles Geschöpf Gottes fußt, die keinen Unterschied zwischen Geschlechter oder Religionszugehörigkeiten macht. Der einzelne Mensch in seiner Besonderheit spielt keine besonders große Rolle. Genau genommen spielt er gar keine Rolle. Der Wert des Menschen bemisst sich vielmehr daran, ob er Männlein oder Weiblein ist, sich Muslim nennt und im Grad, wie konform er sein Leben mit diesen Vorschriften lebt. Vorschriften, die von großen, grimmigen und vollbärtigen Männern 1400 Jahre nach Abū Bakr, Omar und Uthmān mit Vehemenz verteidigt werden – ob im Fernsehen, in der Literatur oder im Internet. Deren Nachfolger wiederum sind die Oberhäupter in den einzelnen Familien; die Ehemänner, die Väter und die großen Brüder, die mit eiserner Hand die Geschicke leiten. Alle als Möchtegern-Kalifen und aus vermeintlicher Stärke und Überlegenheit. Im Grunde geht es jedoch nur um Macht, Männlichkeit und den Erhalt des Patriarchats mit der Folge, dass sich der einzelne Gläubige, insbesondere die Frau, auf Grundlage von Angst, Unsicherheit und einer kategorischen und pessimistischen Abwehrhaltung gegenüber alles und jeden mit der Welt in Verbindung setzt. Doch dies ist mitnichten die Essenz aus der Nachfolgerschaft Gottes auf Erden.

Wir haben bereits festgestellt, dass das Wort chalīfah eigentlich weiblich ist. Es ist so, als würde man Herr Bundeskanzlerin sagen, 50 Cent als weltberühmte, amerikanische Rapperin bezeichnen oder Omar Kalifin nennen. Und wenn man daran denkt, dass es die Frau ist, die das Kind gebärt und somit Leben in die Welt setzt – im Grunde kann sie als Schöpferin wie Gott angesehen werden –, dann müssen wir Menschen, ob Mann oder Frau, als „Nachfolgerinnen“ Gottes auf Erden die Welt und die Schöpfung in ihr so lieben, wie Gott seine Schöpfung und die Mutter ihr eigenes Kind liebt – eine Liebe, die bedingungslos ist und alle Höhen und Tiefen überdauert, einfach weil das Kind bzw. der Mensch da ist. Nicht die Angst ist dann das dominierende Gefühl in der Glaubensausübung, sondern die Liebe zu sich selbst und zu den Menschen und Dingen in der Umgebung. Liebe gehört zu den grundlegenden Prinzipien, die die Wirklichkeit durchdringen. Leben entsteht aus Liebe – die Liebe zwischen Gott und Mensch, zwischen Sonne und Blume, zwischen Mann und Frau, zwischen Eltern und Kind, selbst im Tierreich. Liebe ist schöpferisch und gleichzeitig unerschöpflich. Und wenn wir den Geist Gottes in uns tragen, dann entsprechen wir jenem göttlichen Teil in uns, wenn wir lieben, statt hassen. Wenn wir dankbar sind statt ängstlich. Wenn wir vertrauen, statt permanent misstrauisch zu sein. Wenn wir jeden Tag neu erschaffen, statt die Welt um uns herum, für die wir die Verantwortung tragen, herabzuwürdigen und zu zerstören.  

Wer liebt, durchbricht das „Gefängnis des Gläubigen“ und stellt keine Bedingungen als Gegenleistung für die Liebe. Und wer Regeln dennoch aufstellen muss, tut dies nicht zum reinen Selbstzweck, sondern aus Liebe zum Gegenüber mit dem Zweck einer möglichst gesunden körperlichen und geistigen Entwicklung. Ob Mann oder Frau, ob derjenige sich später Muslim, Christ oder Agnostiker nennt, spielt grundsätzlich keine Rolle. Liebe macht in der Hinsicht keinen Unterschied. Und es ist genau diese Bedingungslosigkeit in der Liebe, an der es im traditionellen Glauben so sehr mangelt. Man ist sehr schnell damit, mit dem Finger auf andere zu zeigen und zu sagen: Die Herzen derer oder jener sind verhärtet wie Steine (2:74). Doch wenn die Tradition über alles andere gestellt wird, dann produziert sie nichts anderes als massive Felsblöcke, die sich nicht mehr verrücken lassen.

Liebe heißt zuallererst loslassen. Leben und leben lassen. Selbst wenn es der/die eigene Partner/-in oder das eigene Kind ist. Wer liebt, dem ist es egal, ob das Besteck mit der linken oder der rechten Hand benutzt wird. Dem ist es egal, dass Mann und Frau sich in der Moschee in ein und demselben Raum aufhalten. Schließlich geht es dort um die Erfüllung spiritueller Bedürfnisse, an der alle gleichermaßen das Recht haben, und darum, in Gesprächen und Predigten voneinander zu profitieren. Wer liebt, der gönnt anderen ihre Errungenschaften, ob sie sich Muslime nennen oder nicht. Wer liebt, der lebt nicht in permanenter Unsicherheit und Angst. Wer liebt, der nimmt keine kategorische und pessimistische Abwehrhaltung gegenüber dem Rest der Welt ein. Wer liebt, wirkt schöpferisch und tritt der Welt mit offenen Armen und Augen entgegen. Er sieht das, worauf es wirklich im Leben ankommt: auf den Menschen, der Gottes Geist in sich trägt und daher das Recht hat, entsprechend den eigenen Vorstellungen zu leben, zu lieben und seine körperlichen und seelischen Bedürfnisse zu erfüllen.

Natürlich schreibt die Realität ihre eigenen Geschichten und vieles, was sich in der Theorie so einfach anhört, sieht in der Praxis ganz anders aus und muss sich daher erst behaupten. Dies nicht nur, dass es unheimlich schwierig ist, Veränderungen innerhalb der muslimischen Glaubensgemeinschaft herbeizuführen – auch aufgrund des einen oder anderen Möchtegern-Kalifen, von denen oben die Rede war. Denn er möchte von dieser Art Liebe nichts wissen. Die muslimische Community hat so viel mehr verdient als die Lage, in der sie sich jetzt überall auf der Welt befindet. Potential ist definitiv vorhanden. Darüber hinaus legen die vielen Kriege, Katastrophen und Krisen, für die der Mensch verantwortlich ist, kein gutes Zeugnis über den Menschen insgesamt und das Gebot der Liebe gegenüber den Mitmenschen ab. Doch weil wir alle eben Menschen sind, die wir den Geist Gottes in uns tragen, haben wir immer die Wahl und tragen wir die Verantwortung für die gesamte Schöpfung, sodass wir dem Unheil – gleich welcher Art – mit dem entgegentreten können, mit dem wir samt unserer Möglichkeiten und Fähigkeiten in der Lage sind. Die Botschaft Gottes ist eine Botschaft der Liebe oder um es mit den Worten von Navid Kermani zu formulieren: In jedem Menschen steckt eine Kalifin!  

Fußnoten:

1 Andere Übersetzungen lauten an dieser Stelle Statthalter, Stellvertreter oder Sachwalter.

Weg zur Wahrheit Moschee Architektur

Mein Weg zur Gottergebenheit (, wie ich sie verstehe) #9

Es handelt sich um eine Fortsetzung meines persönlichen Blogs, den ich vor einigen Monaten in den sozialen Medien begann. Für weitere Informationen: mein Instagram– und mein Facebook-Account.

In eine traditionelle, muslimische Familie in Deutschland hineingeboren zu werden, gleicht dem Anschein der vorigen Beiträge nach einer Bürde, die einem in die Wiege gelegt wird. Natürlich kann man sich die Familie nicht aussuchen, in die man hineingeboren wird. Den Islam verlassen würde ich aber bis jetzt auch nicht verlassen. Das Potential, das ich in der jüngsten der großen Weltreligionen der Welt sehe, überwiegt im Vergleich zu deren in meinen Augen omnipräsenten Perversionen, sodass ich aus voller Überzeugung sagen kann, dass ich bisher nirgendwo anders als im Islam Inspiration und Halt für mein Leben finden konnte. Der Islam ist und bleibt Teil meiner Persönlichkeit. Ich könnte zwar äußerlich fast alles ablegen, was mich in irgendeiner Form damit verbindet. Doch die Erfahrungen bleiben und prägen mein Wirken wahrscheinlich bis ins hohe Alter. Der Glaube an eine Letzte Gerechtigkeit und an einen Gott, Der mich begleitet, alles sieht und auf höchst subtile, nur indirekt wahrnehmbare Art und Weise eingreift, währt, solange ich lebe – und das dank und gleichzeitig trotz der Erfahrungen und Erlebnisse, die mich bis heute prägen. Sie sind gleichsam mein Antrieb, der Benzin für meinen Motor, den ich brauche, um meinem Leben Sinn und Struktur zu geben, indem ich meinen eigenen Weg zur Gottergebenheit folge. Gottergebenheit – das ist das, was für mich heute „Islam“ bedeutet. Was ich darunter verstehe und wie ich letztlich zu dieser Einsicht komme, ist Teil eines Wegs, der vor etwa 13 Jahren begann.  

Umgang mit Werten und Moral zwischen den zwei Kulturen

Dass ich den Islam nicht verlasse, ist jedoch nicht so selbstverständlich, wie es sich liest. Es gibt Menschen – zu denen ich auch gehöre –, die von einem tief sitzenden Ungerechtigkeitsempfinden geprägt sind. Und wenn einschneidende Lebensereignisse geschehen, die sich zum Nachteil für das eigene Selbst auswirken, dann ist die Neigung allzu menschlich, sich von deren Ursachen zu distanzieren. „Kampf“ und „Flucht“ sind in die DNA des Menschen einprogrammiert. Ich habe in einem meiner vorigen Beiträge bereits von einer „horizontalen“ und „vertikalen“ Achse gesprochen. In jenem Kontext ging es um den Umgang mit moralischen Wertvorstellungen als Mensch zwischen zwei Kulturen – der „europäischen“ und der „nahöstlichen“. Das Spektrum dieser „horizontalen“ Achse beginnt mit demjenigen, der alles Islamische von sich weist und komplett mit dem verschmilzt, was als „westliche Werte und Moralvorstellungen“ bezeichnet wird, im Sinne einer „restlosen Assimilation“. Es endet mit demjenigen, der das traditionell Islamische, Althergebrachte und seit Generationen Bewährte mit allen Mitteln schützt und alles Moderne, Westliche und Neue verabscheut. Ich nenne sie die „kompromisslosen Traditionalisten“. Die „vertikale“ Achse beschreibt die Art und Weise, wie dementsprechende, eigene Überzeugungen den Leuten im unmittelbaren Umfeld nahegelegt werden. Dieses Spektrum beginnt mit den – wie ich sie nenne – Tafkīrīs. Es sind jene, die den nahestehenden Menschen in angemessener Weise den Freiraum gewähren, den sie benötigen, um ihre eigenen Erfahrungen zu machen, und nur dann eingreifen, wenn es für nötig erachtet wird. Dessen Ende bilden die Takfīrīs, die keinen Raum für Diskussionen lassen, keine Widerrede dulden und vorschnell alles für nichtig und falsch erklären, was der eigenen Meinung zuwiderläuft. Beide Spektren haben unendlich viele Zwischenstufen, sodass im Prinzip jeder Muslim seinen eigenen Platz in folgender Veranschaulichung hat:

In meinem Fall sind es, was das Thema Religion, Werte und Moral angeht, kompromisslos traditionalistische Takfīrīs (oben rechts in der Veranschaulichung) gewesen, die meine Erziehung prägten und jede Form von geistigem Fortschrittsbewusstsein mieden. Ein solches Leben wird allein auf individuelle Religiosität reduziert. Solange man so oft, wie es geboten ist, betet, fastet und den Koran liest, sammelt man genug Hasanāt (gute Taten, die einem Menschen in metaphysischem Sinne gut geschrieben werden), um nach dem Tod das Ticket zum Paradies zu lösen. Jede Zeit, die in die Lektüre eines anderen, nicht traditionell gebilligten Buches oder bspw. ins Studium geisteswissenschaftlicher Themen investiert wird, gilt als Zeitverschwendung, von dem man sich enthalten solle. Währenddessen wird die Nahost-Krise beim Zuschauen am Fernseher in den Nachrichten gelöst und Gott bei jedem (Freitags-)Gebet um Hilfe gebeten, während jede übrig bleibende Zeit dem Kartenspiel im Teehaus oder zuhause gewidmet wird. Und als wäre dies nicht genug, verbergen sich hinter der Fassade der Religiosität nicht selten Persönlichkeitsstörungen, die zur Folge haben, dass das seelische Leben der Nahestehenden über Jahre hinweg – bewusst oder unbewusst – immense Schäden erleidet. Narzissmus, Depressionen oder Burnouts – all diese sind kleine Einzelphänomene oder -schicksale. Sie haben die Mitte der muslimischen Community längst erreicht und tiefe Wurzeln geschlagen.

Die Psyche unter stetigem Leidensdruck

In meinen jungen Jahren habe ich es für normal erachtet, dass meine Familie so ist, wie sie ist. Die Suche nach Kontakt zu anderen Menschen und Familien war seitens des Hausherren sehr überschaubar. Wir waren in der Hinsicht beileibe auch nicht die einzigen. Eine nicht zu unterschätzende Anzahl muslimischer Familien geht den Weg der sozialen Isolation in der Hoffnung, „muslimische Werte“ zu wahren und sich vor schädlichen Einflüssen zu schützen. Diese gelten als „fitnah“ (externe Versuchungen, die letztlich in die Abkehr vom Islam münden würden). Als sein Nachkomme hatte ich somit kaum Vergleichsmöglichkeiten mit anderen Formen familiärer Führung, sodass ich derartige Erziehungsmethoden, wie den seinen, als vollkommen normal und üblich empfand. Doch mit zunehmendem Alter merkte ich sehr wohl, dass irgendetwas nicht stimmen kann. Denn mit der Zeit ergeben sich immer mehr Gelegenheiten, heimische Gegebenheiten mit denen anderer Menschen und Familien zu vergleichen. Dann verschiebt sich nämlich das „Normale“ schnell weg von den Umständen innerhalb der eigenen vier Wände hin zu denen, bei denen die Dinge anders – um nicht zu sagen, um Dimensionen fairer und würdiger – gehandhabt werden. Und dann dauert es nicht lang, bis man sich selbst die Frage stellt, warum gerade ich dieses Pech habe? Es ist dieses „gerade ich“, das einem den Boden von den Füßen ziehen und ihn in ein großes Loch stürzen lassen kann. Man lernt kennen, was bedeutet, depressiv und seelisch zerrüttet zu sein. Denn selbst wenn man irgendwann das Elternhaus verlässt, ist es unheimlich schwierig, Sinn und Lebensfreude in das eigene Leben zu bringen. Meine überaus prägende Vergangenheit hatte nämlich die unheimliche und zugleich beängstigende Kraft, mich in jeder neuen Lebenssituation einzuholen und mich mit den Scherben des Lebens zu konfrontieren – egal ob in meinem Studium, in meinem Job, in der Ehe oder in der Kindererziehung.

Schicksalsglaube und Fatalismus

Ist das mein Schicksal? Das, was Gott für mich vorgesehen hat? Dem Urteil eines traditionalistischen Takfīrīs nach heißt die Antwort an dieser Stelle eindeutig: „ja. Gott wolle uns damit nur prüfen und sehen, ob wir standhaft bleiben.“ Es handelt sich um eine Sicht der Dinge, die in mir mittlerweile tiefsten Abscheu auslöst und mich mehrmals dazu animierte, den Islam zu verlassen, weil ich es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren konnte, wie ein Gott vor der Schöpfung der Menschen willkürliche, mehr oder minder starke Feuertaufen für den Einzelnen festlegt, nur um zu schauen, ob derjenige das aushalten kann oder nicht. Obwohl Gott es aufgrund Seiner Allwissenheit sowieso schon vorab weiß, wie der eine oder andere Traditionalist weiter argumentiert. „Das kann es einfach nicht sein“, denke ich mir. „Was soll das Ganze dann überhaupt noch?“ Sadisten gibt es unter den Menschen genug. Ein barmherziger Gott, wie er im Islam unentwegt bezeichnet wird, kann nicht auch so sein. Das macht das Leben einfach nicht lebenswert. Darüber hinaus ist Fatalismus – der Glaube an eine als unabänderlich hingenommene Macht des Schicksals, die das eigene Handeln bestimmt – etwas, was ich schon immer aus tiefster Überzeugung ablehne und für unvereinbar mit dem Islam halte. Meines Erachtens ist er ein gefährlicher Virus, der vor vielen Jahrhunderten Eingang in die islamische Anschauung fand, muslimisches Denken über weite Strecken verseuchte und das geistige Leben unzähliger Menschen forderte. Jeder, der eine fatalistische Haltung einnimmt, läuft dem zuwider, wofür der Islam meiner Überzeugung nach an allererster Stelle steht: Selbstverwirklichung durch Eigenverantwortung. Es sind ebendiese Werte, die meinen Glauben an den Gott des Islams am Leben hielt. Mein Weg zu dieser Einsicht und letztlich zur Gottergebenheit war ein langer und beschwerlicher. Denn ich musste zunächst zusehen, dass ich nicht mehr in jenes Loch stürzen würde und die Scherben des bisherigen Lebens hinter mir lassen kann. Heute weiß ich, dass ich trotz all der Erfahrungen und Erlebnisse ein Leben lang gebrandmarkt werden bleibe und dass es längst an der Zeit ist, sich von den alten, rostigen Ketten der Vergangenheit zu befreien und das restliche Leben so erfolgreich wie möglich zu gestalten. Und im Zuge dessen gibt es meiner Meinung nach zwei Zauberwörter, die als Leitplanken fungieren: Kommunikation und Offenheit.

Kommunikation und Offenheit als Ausweg

Ich bin der Überzeugung, dass es nur dann effektiv mit der muslimischen Community voran, wenn sich der Einzelne dazu bereit erklärt, Erlebnisse und Erfahrungen – gute wie auch schlechte – in einem offenen und ehrlichen Diskurs miteinander zu kommunizieren. Das Wohl des Einzelnen ist direkt gekoppelt an das der Gemeinschaft und umgekehrt genauso. Sie sind zwei Seiten ein- und derselben Medaille. Durch die daraus resultierende Horizonterweiterung können wir voneinander nur profitieren, sodass unsere Handlungsmöglichkeiten zunehmen und wir Wege finden können, wie wir der Community insgesamt und dem einzelnen Gläubigen das geben, was sie in der heutigen Zeit am meisten verdienen: ein würdiges Leben und eine gerechte Teilhabe in der Gesellschaft. Wir müssen schlicht und einfach begreifen, dass prägende Erlebnisse, wie ich sie in meinem Fall kurz angerissen habe, weder Einzelschicksale sind oder der Vorherbestimmung Gottes entsprechen können. Muslimischer Fatalismus ist eine Seuche, die mit allen Mitteln bekämpft werden muss, und das ihm zugrundeliegende, muslimische Gottesbild muss sich paradigmatisch verändern – weg von einem sadistischen Gott, dem Selbstverherrlichung und uneingeschränkter Gehorsam weitaus mehr bedeutet als unser Werdegang und unsere Stellung hier auf der Welt gemessen an den Möglichkeiten und Fähigkeiten, wie wir als Menschen besitzen können. Ich möchte damit nicht sagen, dass ausnahmslos jeder in der muslimischen Community ein solches Gottesbild in sich trägt oder dass es DEM Islam gleicht und somit per se schlecht ist. Man darf dem Islam nicht die Schuld für die Misere geben, in der sich die muslimische Community befindet. Man darf ihm auch nicht die Verantwortung für den seelischen Zustand der nahestehenden Menschen geben, wenn es um Einzelschicksale geht. Doch wenn man sich weite Teile der muslimischen Gemeinschaft hier im deutschsprachigen Raum anschaut, dann scheint ein solches althergebrachtes Gottesbild nicht nur gebilligt, sondern von den meisten auch im Inneren wehmütig akzeptiert zu werden, weil man sich eine derartige Veränderung des Gottesbildes im kollektiven Gedächtnis der Muslime nur schwer vorstellen kann. „Wie kann ich als Einzelner eine solch große Veränderung bewirken?“, heißt es dann oder: „Das bringt doch eh nichts. Es ist, als würde man einen Sieb mit Wasser voll machen wollen! Ich konzentriere mich lieber auf mich selbst und auf meine Karriere – Dinge, die ich wirklich in die Hand nehmen kann!“ Und spätestens jetzt wird klar, warum Kommunikation und Offenheit so wichtig sind. Sie sind in meinen Augen unerlässlich, da sie Möglichkeiten der Begegnung schaffen und Erfahrungsaustausch und Kompetenzbündelung ermöglichen. So können auch individuelle Bedürfnisse erkannt und befriedigt werden, die von gleichermaßen gesellschaftlicher und kultureller Bedeutung sein können.

Zeitgemäßer muslimischer Glaube und die Bedeutung der Gottergebenheit

Der Islam ist nicht per se schädlich oder menschenfeindlich. Einzelschicksalen liegen meist wissenschaftliche Zusammenhänge zugrunde und die Probleme, die ich in der muslimischen Kultur insgesamt sehe, sind keine genuin islamische oder von Gott gewollte, sondern in erster Linie psychologische und von Menschen gemacht. Das heißt, es gibt für uns Muslime, die in dieser Welt ihr Leben fristen, unglaublich viel zu lernen – viele Möglichkeiten der Erkenntnis. Und mit der Erkenntnis kommt die nötige Veränderung, die wir so dringend brauchen. Erkenntnis und Veränderung – dahinter steckt ein Gottesbild, das meiner Überzeugung am ehesten entspricht und das ich für äußerst vielversprechend halte, wenn es darum geht, einen zeitgemäßen muslimischen Glauben zu charakterisieren: ein Gott, bei Dem Allwissenheit nicht gleichbedeutend mit Vorherbestimmung ist, Der dem Menschen eine mentale Stütze im eigenen Wirken ist und Der uns den Koran als Orientierungshilfe zur Verfügung stellt, mit dem das Richtige erkannt werden kann. Denn der Mensch ist grundsätzlich fähig, sein Leben selbstbestimmt zu führen, indem er stets dazu lernt und selbstständig das Richtige erkennt. Das ist das, was für mich Gottergebenheit bedeutet: Ein Gott, Der dem Menschen wohlwollend gegenüber steht, sich nichts aus blindem Gehorsam macht und dem Menschen dabei hilft, Mensch zu werden.

Nun mag der eine oder andere fragen: „Was ist denn eigentlich das Richtige?“ Im Grunde genommen gibt es hierfür auch keine allgemeingültige, objektive Antwort, die ich an dieser Stelle präsentieren werde. Eine solche kann es auch gar nicht geben – zumindest nicht in dieser Welt. Wenn ich sage „Selbstverwirklichung durch Eigenverantwortung sind die obersten Werte im Islam!“ oder „Erkenntnis und Veränderung charakterisieren zeitgemäßen muslimischen Glauben!“, dann gelten diese Antworten zunächst nur für mich. Doch gerade dies ist der Charakter des diesseitigen Lebens, dass jeder Mensch seinen eigenen Zugang zur Wirklichkeit hat und kraft seines freien Willens berechtigt dazu ist, zu deuten, zu interpretieren und dementsprechend zu handeln. Was den Menschen zum Menschen macht, sind Erkenntnisleistung und schöpferisches Handeln. Diese würden übergangen werden, wenn auf der anderen Seite heiligen Texten, insbesondere dem Koran, der Anspruch gestellt wird, eine abschließende Antwort dafür zu liefern, was das absolut Richtige im Leben ist. Dies würde einerseits den Wert des Menschen schmälern, indem er zu einem willenlosen Vasallen degradiert würde. Andererseits wäre auch der Koran nicht mehr wert als die Ge- und Verbote, die uns zum konkreten Handeln zwingen, und die Geschichten und Gleichnisse, die die restlichen Seiten füllen, wären lediglich „nice to have“. Der Gegenteil ist meiner Meinung nach der Fall. Der Koran, jenes Buch mit seinen 604 Seiten und seinen 6236 Versen, seinen Geschichten und Gleichnissen, seinen Ge- und Verboten, in all ihren Formen und Variationen, ist eine Sammlung von Mitteln der Erkenntnis (6:104), die uns von Gott zur Verfügung gestellt werden, damit wir uns als Menschen selbst verwirklichen und unsere Stellung in der Welt erarbeiten. Dieses Verständnis vom Koran deckt sich mit dem Bild des Menschen als erkennendes, schöpferisch handelndes Wesen und spricht jenem Buch den Wert der Universalität insofern zu, als dass es fähig ist, zu jeder Zeit und an jedem Ort angemessene Antworten auf die Fragen des Lebens liefern zu können. Während der Islam in der öffentlichen Wahrnehmung mit jener Weltreligion verbunden wird, die die rituelle Praxis – allen voran die sog. „5 Säulen“ – an vorderster Stelle stellt, gründet dieser in meinen Augen primär in der Notwendigkeit eines gemeinsamen, menschheitsübergreifenden Werte- und Rechtekanons zur Sicherstellung, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied werden kann. Die bedingungslose Annahme dieses Kanon ist daher gleichbedeutend mit der Ergebung in Gott, Der Dem Menschen kraft seines Daseins Würde verlieh, welche durch Erkenntnisvermögen und schöpferischem Handeln zum Ausdruck kommt. Damit ist der Islam nicht nur eine Religion im engeren Sinne, sondern auf übergeordneter Ebene ein Art Lebenssystem oder Lebensordnung mit dem Koran als grundlegende Orientierungshilfe. Und das ist das, was für mich Gottergebenheit bedeutet.

Erkenntnis und Veränderung können niemals ausgehend von einer einzigen Person stattfinden, sondern nur im Kollektiv. Das zeigt, wie wichtig auch hier Offenheit und Kommunikation sind. Ich bin mir sicher, dass ein grundlegender Wandel im Verständnis dessen, was der Islam (nicht) ist, in der heutigen Zeit schnell seine Früchte tragen wird, wenn wir bedenken, dass die Probleme, in denen sich die muslimische Community befindet, hausgemacht und offenkundig sind. Wenn wir als Gemeinschaft dem Fatalismus den Rücken zuwenden und beginnen, unser Schicksal in die eigene Hand zu nehmen, indem wir aktiv an unserer Zukunft arbeiten, entwickelt sich ein Bewusstsein für eigene Bedürfnisse und Ambitionen, insbesondere im religiösen Bereich, die nicht vernachlässigt werden dürfen. Im Gegenteil: Sie sind von grundlegender Bedeutung. Denn Veränderung beginnt zuerst immer im Inneren (13:11). Als Gottergebener muss man sich darüber bewusst sein, dass es nicht schlimm ist, primär an seine eigenen Bedürfnisse und Ambitionen zu denken. So sehr der traditionalistische Kollektivismus seinen Reiz in der gemeinsamen Identität und im religiösen Zugehörigkeitsgefühl hat, so nachteilig wirkt es sich auf den Einzelnen aus, wenn das Individuum mit seinen Eigenheiten und seinen Talenten in der Regel auf der Strecke bleibt. Eigenen religiösen Zielsetzungen zu folgen, birgt zwangsläufig Konfliktpotential mit bestehenden traditionellen Normen und Konventionen, insbesondere dann, wenn es ein Gebot des gesunden Menschenverstandes ist. Dies wurde am Beispiel des Freitagsgebets deutlich. Dies soll den Einzelnen jedoch nicht entmutigen, seinen eigenen Weg zu folgen, wenn er erkennt, dass es andere Menschen gibt, die sich auf einen ähnliche Reise begeben. Und genau hier setzt der offene und ehrliche Diskurs mit Gleichgesinnten an.

Mein persönlicher Weg zur Gottergebenheit

Vor 13 Jahren begann meine eigene Reise. Damals habe ich mir das erste Mal die Frage gestellt, ob Islam eigentlich auch anders gehen kann. Genug der Ungerechtigkeiten zuhause und genug der Widersprüche und Ungereimtheiten in der Tradition, die meine Intelligenz mehr oder minder beleidigten. Ich habe nicht gleich alles verteufelt, was ich mit dem traditionellen Glauben in Verbindung brachte. Doch war ich der festen Überzeugung, dass ich mein Heil woanders suchen musste, indem ich mich von der Tradition distanzierte. Bis zu diesem Zeitpunkt konnte mir kein Familienangehöriger und kein Imam aus einer Moschee bei den Fragen helfen, die sich bei mir immer wieder von neuem stellten. Und so begann ich meinen eigenen Weg, indem ich Kontakte knüpfte und Bücher las, in der Hoffnung, die Endstation meiner Reise zu finden. „Irgendwo da draußen muss doch die eine Antwort zu finden sein!“, dachte ich mir anfangs. Die Suche nach Eindeutigkeit trieb mich an. Ich schloss mich einer hiesigen Gemeinschaft an, die den Koran in den Mittelpunkt für religiöse Fragen stellte und eine kulturelle Einheit mit eigenen Zielsetzungen und klaren Vorstellungen, was Bildung von Kindern und Jugendlichen und das Ziel des Islams anging, bildete. Von ihnen durfte ich unheimlich viel lernen, wofür ich sehr dankbar bin. Jedoch löste sich die Gruppe im Laufe der Jahre auf und hinterließ für mich ein großes mentales Vakuum. Weiter auf die Suche machend, stieß ich auf das Buch „Rumi und die islamische Mystik“ von Yasar Nuri Öztürk und füllte jenes Vakuum zunächst wieder. Ich lernte Rumi und seine Werke kennen, die mein Horizont entscheidend erweiterten und Nahrung für meine Seele lieferten. Doch mit der Zeit verflog auch hier die rosarote Brille und die Einsicht kam relativ schnell, dass das Leben heutzutage wesentlich komplexer und vielschichtiger ist, als dass seine Werke den Anspruch der Ausschließlichkeit in den Fragen des Lebens innehätten. Schließlich lernte ich Muhammad Shahrour und sein Buch „Das Buch und der Koran“ kennen. Von seiner rationalistischen Methodik in der Koranexegese und den Ergebnissen, zu denen diese führte, war ich dermaßen beeindruckt, dass ich davon ausging, die eine Antwort endlich gefunden zu haben. So überzeugend war die Argumentation, so übereinstimmend waren die Ergebnisse mit der Lebenswirklichkeit. Doch hat es auch hier wenige Jahre gedauert, bis ich merkte, dass auch seine Werke auch Schwächen hatten.

Seitdem bin ich zum Entschluss gekommen, dass in allen Etappen meines Wegs ein Stück Wahrheit steckt, welches in mein Mindset aufgenommen werden musste: Von der hiesigen Gemeinschaft, die sich auflöste, lernte ich Organisation und Strukturierung eines kulturellen Kollektivs auf Grundlage des Korans kennen. Rumi lieferte Nahrung für die Seele, Shahrour Nahrung für den Verstand. Doch die eine Antwort auf alles gibt es nirgendwo da draußen, so lautet meine Überzeugung jetzt. Sie entsteht mit der Kraft der Gewissheit im Inneren.

6:75-79 „Und so zeigten Wir Abraham das Reich der Himmel und der Erde, – und damit er zu den Überzeugten gehöre. Als die Nacht über ihn hereinbrach, sah er einen Himmelskörper. Er sagte: ‚Das ist mein Herr!‘ Als er aber unterging, sagte er: ‚Ich liebe nicht diejenigen, die untergehen!‘ Als er dann den Mond aufgehen sah, sagte er: ‚Das ist mein Herr!‘ Als er aber unterging, sagte er: ‚Wenn mein Herr mich nicht rechtleitet, werde ich ganz gewiss zum irregehenden Volk gehören.‘ Als er dann die Sonne aufgehen sah, sagte er: ‚Das ist mein Herr! Das ist größer!‘ Als sie aber unterging, sagte er: ‚O mein Volk, ich sage mich von dem los, war ihr Ihm beigesellt! Ich wende mein Gesicht Dem zu, Der die Himmel und die Erde stetig wandelnd erschuf, und ich gehöre nicht zu den Beigesellern.‘“

eigene Übersetzung

Genauso wie bei der Suche nach dem Richtigen im Leben ist auch hier der Weg das Ziel und es ist die Aufgabe des Menschen, zeit Lebens Veränderung anzunehmen und eigene Erkenntnisse zu produzieren, insbesondere in der Gottergebenheit. Ganz egal, welche (familiäre und/oder psychische) Hürden es in der Vergangenheit gab und welche man hinsichtlich der eigenen Zukunft als existent glaubt: Solange wir in dieser Welt leben und noch alle Möglichkeiten des Handelns gegeben sind, müssen wir aufwachen und uns Hand in Hand den Herausforderungen stellen, die uns das Leben bietet. Denn das Schlimmste, was dem Menschen passieren kann, ist es, verpassten Chancen hinterher zu trauern. Daher ist der Weg zur Gottergebenheit immer auch ein gemeinsamer!

Weltfremdheit und Abnormität – Wie Freitagspredigten unwissentlich ihres Potentials beraubt wurden

Man stelle sich heute eine Freitagspredigt in einer beliebigen Moschee in Deutschland vor, wie sie abgehalten wird und wie dann plötzlich eine Frau unter den Sitzenden auftaucht und laut von sich gibt, dass sie nicht mit dem einverstanden ist, was der Prediger von sich gibt – ein Ding der Unmöglichkeit, so wie es heutzutage scheint. Doch das ist nicht immer so gewesen. Ein Blick in die Geschichte gibt Aufschluss darüber.

Denn zu Zeiten des Kalifen Omar ist Ähnliches passiert. Im Vorfeld hatten sich einige junge Männer beim Kalifen beschwert, dass Brautgaben so hoch geworden sind, dass sich kaum einer eine Eheschließung leisten konnte. Daher nahm Omar seine Freitagspredigt als Anlass, um bekannt zu geben, dass es von nun an einen Höchstsatz geben solle. Da sprang eine Frau aus der vor ihm sitzenden Menschenmenge auf und legte Einspruch ein, indem sie einen Vers aus dem Koran zitierte, der die Festlegung einer Höchstgrenze für nichtig erklärt:

4:20 „Und wenn ihr eine Gattin anstelle einer anderen eintauschen wollt und ihr der einen von ihnen Schatz gegeben habt, dann nehmt nichts davon zurück (…).“

eigene Übersetzung

Omars Reaktion sinngemäß: „Jeder weiß Bescheid, außer ich! Hiermit erkläre die Festlegung einer Höchstgrenze für ungültig!“

Da frage ich mich persönlich, was ist bei uns schief gelaufen, dass sowas mittlerweile undenkbar geworden ist. Schließlich heißt es in der traditionellen Lehre einhellig, dass man sich in der Ausübung der Religion an die Zeit des Propheten und seine Gefährten orientiert. Aus diesem Grund wird heute zum Beispiel auch das Feiern von Geburtstagen verboten, weil es der Prophet auch nicht täte. Doch was wäre, wenn ich sage, dass das Freitagsgebet in der Anfangszeit des Islams vor der Predigt abgehalten wurde und der einzige Grund, warum Gebet und Predigt in die uns heute bekannte Reihenfolge getauscht wurden, ein pragmatischer war, nämlich der, dass man die Gefahr sah, dass alle nur noch zum Gebet kommen und sich danach aus den unterschiedlichsten Gründen schnell wieder verabschieden würden, woraus Chaos entstehen würde? Erst recht dann angesichts der Tatsache, dass der Islam in seiner Anfangsphase schnell an Mitglieder gewann. Mittlerweile wurde das Leben des Kalifen Omar verfilmt und jeder kann die Geschichte um Omar und der zwischenredenden Frau spätestens jetzt mit eigenen Augen sehen. Wieso fragt keiner nach dem Warum? Welche Lehren können aus dieser Geschichte gezogen werden?

Die Frage nach dem „Normalen“ im Islam in Bezug auf die Freitagspredigt

Wenn wir uns noch einmal jene Geschichte vor Augen führen, dann stellt sich folgende Frage: Was ist das Normale, was das Abhalten von Freitagspredigten angeht? Wenn unsere jetzige Situation der Maßstab sein sollte, dann wird sich immer wieder die Frage stellen müssen, warum es damals anders als jetzt war. Sprich: Warum es damals üblich war, in einer Freitagspredigt dazwischen zu reden, und heute nicht. Oder warum sich Frauen und Männer damals während der Predigt gemeinsam in einem Raum aufhalten durften und heute nicht. Oder warum es nicht verpönt war, dass die Frau in Gegenwart fremder Männer ihre Stimme erheben durfte und heute schon. Darauf wird es meines Erachtens nach keine zufriedenstellende Antwort geben. Im Gegenteil: In unserer heutigen Tradition gibt es einige Überlieferungen, die die Teilnahme an der Freitagspredigt regeln, in denen es z.B. heißt, dass man während der Predigt komplett still sein soll und dass man kein Wort sagen darf, außer es ist zwingend notwendig. Geschweige denn von der dezidierten Haltung der Muslime, Männer von Frauen in der Moschee voneinander zu trennen.

Wenn aber die damalige Situation das eigentlich Normale sein sollte, dann kann es meines Erachtens nach gute Gründe geben, dies anzunehmen. Auf diese werde ich nun im Einzelnen zu sprechen kommen:

Die historische Figur Omar

In der Tradition gilt Omar als charismatischer Typ, ist grob in seiner Art und hat eine starke Persönlichkeit. Er macht für gewöhnlich keinen Hehl daraus, wem gegenüber er feindlich gesinnt ist. Bekannt war er auch für seine Nähe zu seiner Familie, seinen Gefährten und seinem Volk und orientierte sich am Wohlergehen aller. Doch war er in seinem Handeln auch harmoniebedürftig. Denn seine Ernennung zum Kalifen war alles andere als demokratisch im Sinne des bereits damals bekannten und in wichtigen Angelegenheiten, die die damalige, noch junge und in politischer Hinsicht instabile muslimische Umma betrafen, angewendeten schūrā-Prinzips. Dennoch stieg das Kalifat unter seiner ca. zehnjährigen Herrschaft zur neuen Großmacht im Nahen Osten auf und er schloss zahlreiche Verträge mit der eroberten Bevölkerung.

Sein harter und grober Umgang und sein Temperament verleiteten ihn öfter dazu, unüberlegt Absichten zu fassen und Worte in den Mund zu nehmen, die er daraufhin selbst revidiert. Dazu gehört u.a. die Absicht, den Propheten zu töten. Das war in seiner Zeit vor Annahme des Islams, denn es kam bekanntlich anders. Dazu gehört auch seine Aussage unmittelbar nach dem Tod des Propheten: „Ich töte mit diesem meinem Schwert jeden, der sagt, Mohamed sei tot!“

Diesen Angaben nach zu urteilen, klingt es für mich glaubwürdig, dass sich das Ereignis um die Frau und Omar in der Freitagspredigt so oder so ähnlich abgespielt haben muss. Omar war dem Anschein nach selbstkritisch genug. Und dass er auf die Kritik der Frau eingegangen ist und seine Anweisungen revidiert hat, zeugt von einer glaubwürdigen Autorität Omars und einer ebenso hohen Stellung der Frau. Und um sie soll es im Folgenden gehen.

Die zwischenredende Frau

Bekannt ist weder ihr Name noch, dass sie ein höheres Amt oder eine wichtige Funktion unter dem Kalifen Omar bekleidete, sodass sie zu seinen engen Vertrauten zählte. Man muss sich das noch einmal vorstellen: Eine x-beliebige Frau steht mitten in einer wichtigen Predigt auf und bietet jemandem Paroli, der nicht gerade für seine sanfte Art bekannt ist, wenn ihm gegenüber Gegenwehr geleistet wird, jemand, der eine noch junge islamische Nation führen musste und der als Oberbefehlshaber seiner Armee zahlreiche Kriege koordinierte. Wir haben zwar bereits gesagt, dass Omar sehr volksnah war und sich sehr um das Wohlergehen seiner Leute kümmerte, sodass er diesen Einwand zuließ. Dies steigert natürlich das ohnehin schon hohe Ansehen Omars in der sunnitischen Tradition als einer der rechtgeleiteten Kalifen und engen Weggefährten des Propheten. Doch die einseitige Fokussierung auf Omar tut nicht nur der Frau Unrecht, für die es anscheinend normal war, mitten in der Predigt einfach aufzustehen und ihr Wort gegen das des Kalifen zu erheben.

Wir leben in einer Zeit, in der sich die islamische Religion mit ihren ca. 1,8 Milliarden Anhängern weltweit im Laufe von Jahrhunderten fest etabliert hat. Es gibt unzählige Moscheen, feste, religiöse Riten und eine überwiegend gemeinsame Weltanschauung. Jemand, der heutzutage als Muslim geboren wird, kennt die Dinge, die ihm beigebracht werden, nur auf jener Art und Weise, wie er sie dann auch überall auf der Welt sieht. Und wenn sich heutzutage eine Frau Mut fasst und während der Freitagspredigt in den Männerbereich der Moschee eintritt und lautstark sagt: „Mir passt es nicht, was du sagst!“, was würde dann passieren?

Tagelanger Aufruhr in der entsprechenden Moscheegemeinde und Umgebung, unzählige TikTok-Videos und Facebook-Diskussionen, eine Sondersendung „hart aber (un)fair“ mit null Vertretern aus dem muslimischen Alltag, eine Distanzierung des Zentralrats der Muslime von dieser Aktion, mind. fünf aufeinanderfolgende Freitagspredigten in den Moscheen Deutschlands mit dem Thema „Verhaltensweisen bei Freitagspredigten nach dem Vorbild des Propheten“ und natürlich eine Menge Kanonenfutter für Seyran, Alice und Konsortium.

Das kollektive Gedächtnis der Muslime

Der Tadel ist weder an der einzelnen Moscheegemeinde noch an den einzelnen Gläubigen gerichtet. Ohnehin richtet sich meine Kritik nicht an Personen, sondern an den Problemen, die hinter der Fassade stecken. Und das Problem, womit wir es hier zu tun haben, deckt das auf, woran die heutigen Muslime stillschweigend leiden und wo es zunächst keinen Ausweg zu geben scheint: das kulturelle, muslimische Erbe, aus dem das kollektive Gedächtnis der Muslime entspringt.

Es ist träge, blind und verschließt sich vor tiefgreifenden Veränderungen, die sowohl notwendig als auch von großem Nutzen sind. Ich betone nochmal: ich tadele nicht den einzelnen Gläubigen. Denn er kann durchaus einsichtig sein, mit dem inneren Auge sehend und er kann offen für Veränderungen sein. Das heißt aber noch lange nicht, dass sich durch die Einsicht des Einzelnen oder mehrerer Einzelner gleichsam das kollektive Gedächtnis der Muslime verändert. Dass dieses Gedächtnis so ist, wie es ist, hat gleichwohl nicht nur mit kulturellen und religiösen Gründen zu tun, sondern auch mit gesellschaftlichen, historischen und politischen. Doch um diese soll es hier zunächst nicht gehen.

Doch es ist verblüffend, wie ich meine, dass Millionen von Menschen weltweit die Serie des Kalifen im TV sehen oder von der Geschichte mit ihm und der Frau hören, ohne dass es einen Ruck durch die Masse gibt, welches ein Bewusstsein dafür schafft, dass etwas mit uns nicht in Ordnung sein könnte. Denn, wie ich bereits ausgeführt habe, muss man sich ganz klar die Frage stellen, welches der beiden Situationen die eigentlich Normale im Islam ist: unsere jetzige oder die in dem Beispiel Geschilderte. Und wenn es Letztere ist, so gibt es heute drei Hürden, die gemeistert werden müssen und die das kollektive Gedächtnis der Muslime nachhaltig verändern dürften:

  1. Die Möglichkeit der Zwischenrede während der Predigt. Dies führt jedoch zum Konflikt mit der überlieferten Tradition.
  2. Die Möglichkeit, dass Männer und Frauen gemeinsam an einem Ort ohne Trennung voneinander an der Predigt teilnehmen dürfen.
  3. Die faktische Gleichstellung der Frau gegenüber dem Mann in allen Bereichen des Lebens.

Die Möglichkeit der Zwischenrede während der Predigt

Wenn wir nun auf die erste Hürde näher eingehen und sich Geschichte und Tradition augenscheinlich widersprechen, stehen wir vor einem elementarem Problem im Verständnis dessen, was als islamisch im religiösen Sinne gilt. Weder waren wir Zeugen der Geschehnisse um Omar und die Frau im 7. Jahrhundert noch sind wir selbst die Begründer der religiösen Tradition, wie wir sie heute kennen. Und wenn ebendiese Tradition zweifellos hergibt, dass während der Predigt absolute Stille geboten ist, dann ist der Konflikt zwischen Geschichte und Tradition ein unlösbarer. Da ist es für den Einzelnen natürlich wesentlich einfacher, sich dem Druck der Tradition zu beugen und die Dinge so in die Hand zu nehmen, wie sie seit Generationen üblicherweise gehandhabt werden, als sich religiös und sozial zu isolieren, indem persönlichen Erkenntnissen der Vorzug gewährt werden. Denn Isolation wäre die unweigerliche Folge dessen, wenn man sich in der rituellen Praxis von der Tradition löst.

Wir sagten bereits, das kollektive Gedächtnis der Muslime ist um Dimensionen träger und uneinsichtiger als der einzelne Gläubige. Doch es wäre falsch, anzunehmen, dass es sich um ein genuin islamisches Problem handelt. Vielmehr ist es ein menschliches. Auf das kollektive Gedächtnis der Muslime, seine Struktur und seine Schwächen werde ich an anderer Stelle ausführlich eingehen.

Was meiner Meinung nach zum Konflikt zwischen jahrhundertealter Tradition und individuellen Erkenntnissen passt, ist das Gleichnis von Abraham und seinem Volk in Sure 21 (Verse 51 – 73). An dieser Stelle werde ich das Gleichnis in seinen für uns wichtigsten Punkten zusammenfassen:

Abraham wird als ein besonnener Mensch beschrieben, der die Schöpfung eingehend studierte und unerschütterliche, persönliche Einsichten gewann. Sie stützen auf Gott, dem Schöpfer der Welt, und auf Seine Schöpfung, in der Abraham einen fortlaufenden Wandel erkannte1. Seine Einsichten verliehen ihm Gewissheit und Mut, woraufhin er auf Konfrontationskurs mit seinem Volk ging, das einer dezidiert traditionellen Weltanschauung angehörte, indem es sich vorzugsweise an Größen der Vergangenheit orientierte. Dieser Konflikt mündete in der Entscheidung Abrahams, die Idole der Vergangenheit bis auf den Größten von ihnen zu zerstören. Abraham zur Rede stellend, verlangte sein Volk nach einer Erklärung, ob er der Schuldige war. Da verwies er auf jenen Größten. Doch war dieser aufgrund seiner Beschaffenheit zu keiner Erklärung fähig. Daraufhin wich das anfängliche Schuldbewusstsein des Volkes Abrahams der anschließenden Selbstentlarvung, dass die Idole der Vergangenheit zu keiner Erklärung im Hier und Jetzt fähig sind (nämlich was die Zerstörung der anderen Idole oder im übertragenen Sinne den von Abraham erkannten Wandel angeht, der keinen Platz in ihrer Tradition hat). Doch war diese Selbstentlarvung kein Startschuss für einen Paradigmenwechsel seitens des Volkes. Vielmehr versuchte man mit allen Mitteln, das Althergebrachte zu schützen und Abraham zu bestrafen, was sich schließlich als erfolglos herausstellte. Denn schlussendlich gehörten sie zu den „größten Verlierern“ (21:70).

Und spätestens jetzt sieht man: Dieses Gleichnis hat einen direkten Bezug auf uns Muslime im Hier und Jetzt. Wir müssen im Namen Gottes ehrlich genug mit uns selbst sein, wenn wir feststellen, dass wir Muslime in unserer heutigen Welt einen schweren Stand haben und in ähnlicher Weise zu den größten Verlierern gehören. Nicht nur, dass die islamische Religion aus ihrer jahrhundertealten Kultur- und Religionsgeschichte entrissen und zum Spielball globaler Mächte zweckentfremdet werden konnte, mit dem politische und wirtschaftliche Interessen durchgesetzt werden, die weit jenseits denen der Muslime liegen. Vielmehr leidet die Mehrheit der Muslime in der westlichen Gesellschaft unter einer erdrückenden Fremdwahrnehmung, die gleichsam aufgezwungen wie überholt scheint und der muslimischen Diaspora keine Möglichkeit eines grundlegenden, wahrnehmbaren Paradigmenwechsels gewährt.

Zugegeben, dass Muslime während der Predigt dazwischen reden dürfen sollen, ist allein keineswegs die Rettung der Muslime aus ihrer Misere. Genauso wenig ist es ratsam, die Tradition samt ihrer überaus gehaltvollen Geschichte einfach über Bord zu werfen, sodass bloße Wortspielereien übrig bleiben, die genauso wenig erfolgsversprechend sind, wie die einseitige Fixierung auf die religiöse Tradition. Was aber von grundlegender Bedeutung für uns Muslime ist, gründet in der Tatsache, dass wir zeit unseres Lebens dem Konflikt zwischen individuellen Erkenntnissen und überlieferter Tradition ausgesetzt sein werden, das uns permanent eine Entscheidung abverlangt – eine Entscheidung, die wir selbst im besten Wissen und Gewissen basierend auf unserer Willensfreiheit im Hier und Jetzt treffen müssen. Und in der Fähigkeit, die Dinge so zu priorisieren, wie wir es für richtig und wichtig erachten, liegt meines Erachtens nach unser Heil. Das erfordert Mut, Gewissheit und ein gewisses Maß an Unerschütterlichkeit hinsichtlich der eigenen Überzeugungen, die uns dazu befähigen, unsere Tradition aus der Vogelperspektive zu betrachten und zu erkennen, dass außerhalb der hohen Mauern der Tradition eine Menge grüne Fläche für uns ist, welche wir nutzen können.

Denn das, was die zerstörten Idole im Gleichnis Abrahams symbolisieren, sind einzelne Elemente aus unserer islamischen Tradition, die bei näherem Blick widersprüchlich erscheinen und Fragen aufwerfen, wie es z.B. die Geschichte um die Frau und den Kalifen Omar bereits tat. Es gibt viele weitere Beispiele hierfür, wie etwas das Verbot von Meeresfrüchten ausschließlich für Anhänger einer bestimmten Rechtsschule oder die Existenz mehrerer Überlieferungen zu ein- und demselben Ereignis mit unterschiedlichen, ideologienbefeuernden Wortlauten. Was hat es dann mit dem Größten auf sich, der unversehrt blieb?

Das ist eine grundlegende Frage, die sich jeder von uns stellen muss: Wer ist in unserer eigenen Historie derjenige, der die Grundlage für unsere religiöse Tradition geschaffen hat, wie wir sie heute seit Generationen vererbt bekommen haben? Asch-Schāfiī mit seiner Aussage, der Prophet habe zwei Offenbarungen (nämlich Koran und Sunna) erhalten, basierend auf Sure 53 Vers 3: „und er redet nicht aus eigener Neigung.“? Oder Buchārī, der nach den strengsten Kriterien aus 600.000 Überlieferungen 2800 (ohne Wiederholungen) als Grundlage für die islamische Rechtswissenschaft, den sog. fiqh, ausgesucht haben soll? Wenn dem so ist, wo ist dann z.B. Hadith Nr. 278 in Buchārīs Sammlung einzuordnen? Doch ganz gleich, ob es Asch-Schāfiī oder Buchārī ist, sind konkrete Namen zweitrangig. Denn egal, wer es ist: Kann einer von denen uns im Hier und Jetzt helfen und uns eine Antwort darauf geben, warum die Geschichte etwas anderes hergibt, als es die Tradition vorschreibt? Oder auf die Frage, aus welchen 600.000 Überlieferungen gerade diese 2800 ausgesucht wurden und nach welchen Kriterien? Oder wie Asch-Schāfiī darauf kommt, dass der Prophet zwei Offenbarungen erhalten habe, und wie seine Koranhermeneutik aussieht? Das sind alles Erklärungen, die uns im Hier und Jetzt fehlen. Wir Muslime müssen im Namen Gottes ehrlich genug mit uns selbst sein und müssen konstatieren, dass die Probleme, in denen wir uns heutzutage befinden, bis zu einem gewissen Grad hausgemacht sind. Und es ist diese offene Kritik, die wir Muslime annehmen müssen und die ein Anlass dafür sein soll, unsere religiösen Regeln neu zu definieren, auf dass wir bald zu einer ähnlichen Selbstverständlichkeit und Entschlossenheit gelangen, die auch die Frau im Beispiel Omars in sich trug. Denn das, was die Frau und Abraham gemeinsam haben, sind unerschütterliche, persönliche Einsichten.

Die Möglichkeit, dass Männer und Frauen gemeinsam an einem Ort ohne Trennung voneinander an der Predigt teilnehmen dürfen

Die Gesundheit einer Gesellschaft zeichnet sich unter anderem dadurch aus, wie es um das Thema Geschlechtergerechtigkeit geht. Auch hier möchte ich nicht an bestehende, öffentliche Debatten anknüpfen, die den Islam per se als frauenfeindlich abzustufen versuchen o.Ä. In Wahrheit geht es mir hier noch einmal in Anlehnung an der von mir angeführten zweiten Hürde um eine Gegenüberstellung der Frau im Beispiel mit dem Kalifen Omar und der Frau, deren Vorgaben zur Teilnahme an Freitagspredigten in der Tradition streng reglementiert sind. Streng nicht nur, weil es die traditionelle, islamische Rechtslage doppelt und dreifach vorschreibt durch Heranführung von Überlieferungen des Propheten und von Konsensbeschlüssen, die von irgendwelchen Muslimen irgendwann getroffen wurden. Streng auch, weil der kulturelle (und ich sage bewusst nicht religiös!!) Druck seitens der traditionell orientierten Muslime heutzutage immens ist, wenn man auch nur im Ansatz versucht, an diesen Grundpfeilern zu rütteln. Nochmal: Hier geht es noch gar nicht darum, dass Frauen und Männer gemischt zusammen beten oder dass Frauen predigen sollen, sondern „nur“ dass Männer und Frauen gemeinsam in einem Raum an der Predigt in der Moschee teilhaben dürfen sollen. Warum ist dies so wichtig?

Einfach, weil es ein Gebot des Respekts, der Wertschätzung und der Würdigung gegenüber der Frau ist, der gleichermaßen das Recht zur Teilhabe an der Freitagspredigt gewährt werden muss, wie der Mann sie für sich als natürlich gegeben gewusst haben will, was der bekannten Aussage „Im Islam sind die Rechte von Mann und Frau gesichert!“ meines Erachtens nach den wahren Inhalt gibt. Frauen sind heutzutage Doktoren und Nobelpreisträger geworden, führen Kinderarztpraxen und leiten internationale humanitäre Organisationen und sie soll genau dann an Wert einbüßen, wenn sie erst am Hinterhof vom Hinterhof ihre eigene, 1,5 m hohe Eingangstür zur Moschee findet und 200 Treppenstufen runterläuft, bis sie ihren als Gebetsraum getarnten, miefigen Zimmer im Keller ohne Heizung oder Warmwasser findet, um dort zu beten und die Predigten zu hören? Nur um dann die Worte eines selbsternannten Imams namens bin Asyl zu hören, der in Saudi-Arabien an 20 Sitzungen teilnahm und so den „Islam“ gelernt haben will? Mit den Inhalten solcher Predigten werde ich mich ohnehin bei der dritten Hürde auseinandersetzen.

Und selbst wenn sich die Muslime irgendwann dazu durchringen sollten und den Teilnehmenden ermöglichen, während der Freitagspredigt ihren eigenen Input zu liefern, was ist mit den Frauen? Schreiben sie ihr Anliegen auf einem Zettel und lassen kleine Kinder als Mittler hin und her laufen? Oder kramt man aus dem Keller des Kellers ein seit 10 Jahren vergessenes Steckmikrofon heraus, welches sich nur zur Hälfte reinigen lässt, durch den die Frau dann in geboten leiser Stimme spricht und beim Empfänger nur Kauderwelsch ankommt? Der Wert der Frau in der Moschee ist weit mehr als nur der Zettel, auf dem irgendwelche Worte stehen, mehr als das Kauderwelsch, das aus dem Lautsprecher tönt, und mehr als der Raum, in dem sie sich befinden. Das, was viele Frauen auf dieser Welt an Würde, Standhaftigkeit und Barmherzigkeit gegenüber ihren heimlichen wie offenen Peinigern haben, ist um ein Vielfaches höher, als noch mehr muslimische Männer jemals haben werden. Mit dieser gefährlichen, einer Farce gleichenden Selbsttäuschung muss endlich Schluss sein! Da brauchen wir auch keine Feinde, die den Islam als rückständig abstempeln.

Diese meine Worte lesen sich an dieser Stelle sicherlich emotional und konfrontativ. Doch nur so, denke ich, kann endlich ein Bewusstsein für diese Misere geschaffen werden, in der wir wie in Treibsand gefangen sind. Daher halte ich dieses Problem für genauso wichtig und fundamental und dessen Folgen für unsere Selbst- und Fremdwahrnehmung für genauso fatal wie der vorher beschriebene Konflikt zwischen Geschichte und Tradition.

Was die Frau in Bezug auf Freitagspredigten angeht, soll es in der Tradition eine Überlieferung geben, die besagt, dass die Pflicht zur Teilnahme an Freitagspredigten für fünf nicht vorgeschrieben sei: Die Frau, das Kind, den Kranken, den Reisenden und den Sklaven2. Andere Überlieferungen legen den Frauen nahe, lieber im eigenen Zimmer anstatt sonst irgendwo zuhause und lieber irgendwo zuhause anstatt in der Moschee der Gemeinde zu beten. Doch noch schlimmer als diese Behauptungen – so muss ich sie in aller Deutlichkeit benennen, denn ich kann mir nicht im Entferntesten vorstellen, dass der Prophet Mohammed etwas in der Art gesagt haben soll – ist die omnipräsente Scheu vor Vermischung von Männern und Frauen in der muslimischen Community, die seltsamerweise nur dann zum Tragen kommt, wenn es in Richtung Moschee zum Gebet geht. Aber auch nur dann! Keine sonstige Veranstaltung und sei sie noch so religiös bzw. islamisch gibt Anlass genug, verstärkt auf die Geschlechtertrennung zu achten, wie es beim Beten oder bei der Freitagsgebet der Fall ist (Randgruppen ausgenommen).

Doch bleiben wir weiterhin bei der Predigt. Ein beliebtes Totschlagargument ist der Punkt mit der Ablenkung. Man könne sich nicht auf das Wesentliche, also auf den Inhalt, konzentrieren, wenn beide Geschlechter im selben Raum einer Predigt zuhören. Damit sind wir wieder beim Thema Selbsttäuschung. Warum sollte man sich als nüchterner, vernünftig denkender Mensch – und das kann jedem unterstellt werden, der sich aus freien Stücken zur Moschee begibt – genau dann ablenken lassen, wenn man sich zur Moschee begibt, um sich eine Predigt anzuhören, woraus man Nutzen zieht? Was ist mit der Ablenkung in den Vorlesungssälen und in den Laboren? In den Rathäusern und den Bibliotheken? Was ist mit den Konsumhöllen unserer Hemisphäre? Den schleichenden Indoktrinationen und den erbarmungslosen Teilenden und Herrschenden? Und außerdem: Was ist das für ein Menschenbild, das wir als islamisch propagieren? Und wo war die Ablenkung zur Zeit der zwischenredenden Frau und des Kalifen Omar in unserem Beispiel? Dieser Konformismus tötet. Wacht auf!

Die faktische Gleichstellung der Frau gegenüber dem Mann in allen Bereichen des Lebens

10.02.2023: Erste Freitagspredigt (Gedächtnisprotokoll) nach der verheerenden Erdbebenkatastrophe in Syrien und der Türkei mit Zehntausenden Opfern und noch mehr Verletzten:

„O ihr edlen Geschwister! Schwer getroffen hat das Erdbeben unsere Geschwister in der Türkei und Syrien und hat eine hohe Zahl an Toten und Verletzten gefordert. (…) Liebe Geschwister! Ihr müsst wissen, dass dieses Erdbeben nur eine Strafe für unsere Sünden sein kann. Sünden, die wir tagtäglich begehen, die wir nicht mal mehr registrieren und gering schätzen, wobei sie bei Gott fürwahr schlimm sind! Frauen, die keinen Kopftuch mehr tragen. Und selbst wenn sie sie tragen, dann nicht nach den Regeln der Sunna (…).“

Es sind Worte, die die perfekte Steilvorlage für die Erklärung der dritten Hürde liefern. Denn der obige Auszug aus der Freitagspredigt ist alles andere als ein Beweis dafür, dass die Frau dem Mann als ebenbürtig erachtet wird. Zumal es sich um einen offensichtlichen und schwerwiegenden Verstoß gegen den universellen Grundsatz im Koran „Keine Seele trägt die Last eines anderen!“ darstellt, das die Opfer, insbesondere Kinder, sowie alle (Nicht-)Kopftuchträgerinnen auf der Welt auf schreckliche Weise verhöhnt, wenn sich ein selbst ernannter Imam dazu erdreistet, im Namen der Muslime ein solches Urteil über das Schicksal Tausender Menschen zu fällen, während er selbst danach das Gebet leitet im Aberglauben, Gott vergebe die Sünden seiner Diener von diesem Freitag bis zum nächsten – eine Überlieferung und gleichzeitig ein Freibrief für alles, was „nicht so gemeint“ bzw. „unabsichtlich“ gewesen sei. Wenn dem so sei und die Überlieferung stimmen sollte: Hat Gott nicht die Sünden all jener Männer und Frauen vergeben, die bei der letzten Freitagspredigt (in dem Fall ganz konkret vom 03.02.2023) dabei waren? Und wenn das Erdbeben eine Strafe wegen dieser angeblichen Vergehen sein soll, warum geschah es dann in der Türkei und Syrien mit einem höheren Anteil kopftuchtragender Frauen als in Deutschland bspw.? Hätten wir hier nicht viel mehr das Erdbeben „verdient“ nach dieser Logik? Und vor allem: Warum müssen Kinder dafür büßen?

Sicherlich kann sich jeder mit gesundem Menschenverstand wesentlich mehr über diese Aussagen des Imams über die angeblichen Ursachen für das Erdbeben auslassen. Doch hier tritt offensichtlich das zum Vorschein, woran die muslimische Community krankt: die anhaltende und übertriebene Fixierung auf eine Tradition, die gemessen an ihren Werten und Grundsätzen längst nicht mehr den eigentlichen Bedürfnissen der Muslime von heute überall auf der Welt entspricht und gleichsam einen idealen Nährboden für jene narzisstischen, rückständigen, realitätsfremden, patriarchalischen, dreisten, selbstverherrlichenden und frauenfeindlichen Äußerungen, wie der obigen, liefern. Solche Äußerungen sind keine Seltenheit. Denn die Tradition produziert im Prinzip nichts anderes als fatalistische Nachplapperer, denen die Fähigkeit, frei und eigenständig zu denken, abgewöhnt wird. Solche Äußerungen spiegeln eine Haltung wider, die stillschweigend von vielen Muslimen angenommen wird und die mithilfe der Tradition eine Parallelwelt erzeugt, die mit den tatsächlichen Lebensbedingungen der Wirklichkeit nur wenig übereinstimmt.

Ausnahmen bestätigen die Regel und es mag sicherlich den einen oder anderen geben, der zwar der Tradition als solches folgt, sich aber bewusst mit ihr auseinander setzt und einen zeitgemäßen Glauben zu etablieren versucht. Trotzdem müssen jene trotz ihrer aufstrebenden Anzahl als Randerscheinung gelten, denn sie verändern das kollektive Gedächtnis der Muslime bis dato nur in einem sehr geringen Ausmaß. Und damit wurde das Zauberwort der Heilung nach meinem Dafürhalten genannt: Veränderung.

Es braucht eine tiefgreifende, paradigmatische Veränderung im kollektiven Gedächtnis der Muslime, die es ermöglicht, den Fokus auf die tatsächlichen Bedürfnisse der Muslime – ganz gleich, ob als Individuum, in der Gemeinschaft oder in der Gesellschaft – zu lenken und die erdrückende Last der Tradition zu überwinden. Diese Veränderung besteht meines Erachtens darin, die gesamte Tradition, das kulturelle Erbe der Muslime, in ihrem historischen Entstehungskontext zu setzen und ihr den religiös-konstitutiven Anspruch zu entziehen. Alle vermeintlichen Anweisungen aus dieser Tradition entstanden aus einer Zeit, deren Maßstäbe nicht denen unserer Zeit entsprechen können. Und wie wir bei der ersten Hürde gesehen haben, ist der Konflikt zwischen Tradition und Geschichte ein unüberwindbarer, wenn an Ersterer mit allen Mitteln festgehalten wird.

Nun mag man einwenden, wenn die Tradition als religiöse Quelle aufgegeben wird, verlieren wir unsere muslimische Identität. Nein! Wir verlieren eine Identität, die andere Menschen vor etwa 1300 Jahren für uns gezeichnet haben. Diese ist jedoch nicht mehr zeitgemäß. Wir müssen dagegen unsere muslimische Identität neu entdecken, indem wir ganz genau in uns hineinhorchen und erfühlen, was unsere geheimsten Wünsche und Ziele als ehrliche, gottgläubige Muslime sind. Nur so kommen wir aus unserem Schlamassel raus. Die Tradition zu historisieren, bedeutet auch nicht zwangsläufig, die rituelle Praxis aufzugeben. Es geht dabei vorrangig um unseren Platz als Muslime in Kultur und Gesellschaft. Und nur so sind wir dazu in der Lage, jene frauenfeindlichen, narzisstischen und rückständigen Elemente hinter uns zu lassen und die faktische Gleichstellung der Frau gegenüber dem Mann zu erreichen. Denn die Tradition ist durchsät von Grundsätzen einer vormodernen, patriarchalischen, erneuerungsresistenten und rückwärtsgewandten Geisteshaltung.

Veränderung als Ausweg

Es besteht kein Zweifel darüber, dass das Herbeiführen einer Veränderung die schwierigste Herausforderung ist, der man sich stellen kann. Auch hinterlässt uns die Aufgabe der Tradition ein großes, religiöses Vakuum, das es mit neuen Inhalten zu füllen gilt – Inhalte, die in einem innermuslimischen, ergebnisoffenen Diskurs besprochen werden müssen und die die wichtigen Themen unserer Zeit repräsentieren. An diesem Diskurs muss jeder – ob Mann oder Frau – beteiligt sein dürfen, dem die Zukunft der muslimischen Community am Herzen liegt. Eine solche Veränderung ist absolut notwendig und von grundlegender Bedeutung. Der erste Schritt wäre, wenn alle uns zur Verfügung stehenden Ressourcen, wozu auch die Freitagspredigt zählt, dafür aufgewendet werden, unsere wirklichen Bedürfnisse als Mitglieder der muslimischen Community zu identifizieren und zu erfüllen. Dazu braucht es vor allem Mut und eine starke Persönlichkeit. Ähnlich wie sie die Frau in der Geschichte um den Kalifen Omar hatte. Spätestens dann, wenn kopftuchtragende Frauen für Erdbebenkatastrophen verantwortlich gemacht werden, muss es genauso Leute geben, die während der Predigt aufstehen und sagen: „Nein! Das akzeptiere ich als gottgläubiger Muslim nicht! Im Koran steht, dass keine Seele die Last eines anderen trägt!“. Das muss das neue „normal“ werden! Indem die drei Hürden überwunden werden und das Primat des überzeugendsten Arguments gemäß dem gesunden Menschenverstand herrscht. Was es braucht, sind Pioniere, die mit gutem Beispiel vorangehen und die Grenzen des Üblichen sprengen. In diesem Sinne: Lasst uns alle ein Beispiel an der Frau in Omars Geschichte nehmen!

Fußnoten:

1 vgl. auch Sure 6 Verse 74 – 79

2 https://www.islamweb.net/amp/ar/library/index.php…. Hier der entsprechende Konsensbeschluss: https://dorar.net/feqhia/1592/المطلب-الأول-من-لا-تجب-عليهم-الجمعة.

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Muslimische weibliche Gelehrsamkeit

Viele Frauen prägten die muslimische weibliche Gelehrsamkeit. Doch waren sie deswegen auch Feministinnen? Allzu schnell werden westliche Konzepte muslimischem Schaffen überstülpt – dennoch lohnt es sich, den Koran als Inspiration für eine gendergerechte Theologie zu sehen. Ein Versuch, Wege zu entkolonialisierten Islam-Verständnissen aufzuzeigen.

Die muslimische Geschichte brachte viele bedeutende weibliche Gelehrte hervor, besonders auch was die formative Phase des Islams, also grob zugeordnet das erste Jahrhundert nach Hidschra (7. Jh. n. Chr.) betrifft. So etwa Amrah bint Abdur Rahman, die eine Juristin und Hadith-Expertin war. Sie korrigierte Richter in ihren Entscheidungen, wenn sie befand, dass diese auf falscher juristischer Grundlage ihr Urteil gefällt haben sollten. Ein Beispiel dafür ist in der Sammlung des berühmten Mālik ibn Anas, dem Gründer der mālikitischen Rechtsschule, zu finden. Auch Rābiʿa al-ʿAdawiyya ist als legendäre muslimische Mystikerin bekannt. Sie gilt als eine der ersten einflussreichen Frauen, welche die Liebe und Freundschaft zu Gott lehrten. Sie prägte den Sufismus maßgeblich.

Eine weitere Gelehrte Umm Darda lehrte sowohl in Damaskus in der großen Umayyaden-Moschee als auch in Jerusalem. Sie lehrte Imame, Juristen und Hadith-Gelehrte, unter anderem auch den Kalifen Abdul Malik b. Marwan. Diesem wird nachgesagt, dass er ihr ohne irgendwelche Vorbehalte half und sie unterstützte.

Karima bint Ahmad b. Muhammad b. Hatim al-Marwaziyya, die in Mekka im zehnten bis elften Jahrhundert lebte, war eine Bukhari-Expertin und nach heutigem Verständnis Hadith- und Rechtswissenschaftlerin. Sie spielte eine wichtige Figur in der Futuwwa-Bewegung der Frauen, die von Khadidscha al-Dschahniyya als Antwort auf die männliche Futuwwa-Gesellschaft gegründet wurde. Am Ende ihres hundertjährigen Lebens galt sie als renommierte Lehrerin und Gelehrte.

Die als Großgelehrten betrachteten Männer der früheren Zeit wurden also durch Frauen unterrichtet. Sie verdanken ihr Wissen unter anderem diesen Frauen.

Dieser Umstand zieht sich immer wieder durch die muslimische Geschichte. Frauen wie Hafsah spielten bei der Zusammenstellung des Korans eine wichtige Rolle. Im achten Jahrhundert nach Hidschra (14. Jh. n. Chr.) lebte Fatima bint Ibrahim b. Jowhar. Sie ist eine Lehrerin beider Imame Dhahabi und Subqi, die bei ihr die Hadith-Sammlung Bukhari studierten. Sie lehrte ebenfalls in der Prophetenmoschee in Medina. Aischa bint Abdul Hadi lehrte ebenso zur Sammlung Bukharis in der großen Moschee in Damaskus. Kein geringerer als Ibn Hadschar Al-Asqalani, für viele Sunniten eine Koryphäe unter den Experten zu Bukharis Sammlung, studierte bei ihr zahlreiche Bücher.

Sukayna schloss ihre eigenen Eheverträge

Ein Beispiel aus der muslimischen Geschichte sticht für mich besonders heraus: Sukayna (671-737). Die Urenkelin des Propheten ist ein Symbol für den Widerstand von Frauen in der Anfangszeit des Islams gegen das Patriarchat. Als Tochter einer Poetin erhielt sie die Bezeichnung «Barza», also eine Person, die sich weigert den Schleier zu tragen.

Als gebildete muslimische Gelehrte traf sie Männer hohen politischen oder wissenschaftlichen Ranges und diskutierte mit ihnen über religiöse, juristische und politische Angelegenheiten. Sie empfing bei sich zuhause auch Männer. Sukayna schloss ihre eigenen Eheverträge. Darin verlangte sie, dass sie ihrem Mann weder gehorchen müsse noch dessen Recht zur Polygynie anerkenne. Sie zögerte auch nicht, ihre Ehemänner für deren Untreue vor Gericht zu bringen. Sie liebte Kunst wie Musik und förderte DichterInnen wie auch SängerInnen.

Viele männliche Gelehrte verdanken ihr Wissen den gebildeten Frauen

Diese und unzählige weitere ungenannten Ereignisse belegen eindeutig, dass Frauen bereits früh in den wichtigsten Moscheen und an den wichtigsten Plätzen den männlichen Großgelehrten maßgeblich zu ihrem heutigen Ruhm verhalfen. Der aktuelle Zustand ist in vielen Moscheen hingegen eher mitleiderregend. Nicht wenige Gelehrte diskutieren darüber, ob Frauen überhaupt fürs Gebet zur Moschee kommen dürfen!

Leider sind viele muslimische Gläubige unwissend, was das eigene muslimische Erbe betrifft. Viele Strömungen behaupten, sie kehrten zurück zur Essenz und Tradition des frühen Islams. Doch sie zeigen durch ihre Haltung auf, dass sie durch diese erst im Laufe der Jahrhunderte aufgekommene Einstellung von der Tradition und der Praxis der früheren Generationen abweichen.

Nicht selten behaupten zeitgenössische Gelehrte wie auch Moscheegänger aufgrund gewisser dem Propheten unzulässig zugeschriebenen Hadithe (z.B. Abu Dawud 4679, andere Nr. je nach Ausgabe), dass der Intellekt einer Frau dem eines Mannes unterlegen sei. Früher fragten Gelehrte gebildete Frauen nach ihren Meinungen, bevor sie sich ein umfangreiches Urteil bildeten. Natürlich gab es auch Meinungsverschiedenheiten. Jedoch gehörten Bescheidenheit und Offenheit für Wissen – ohne dabei zwischen den Geschlechtern zu unterscheiden – bei den meisten Gelehrten zum wissenschaftlichen Usus.

Der Beitrag von Frauen zur vergangenen islamischen weiblichen Gelehrsamkeit ist eindeutig enorm. Dieser hatte wiederum Einfluss auf das Selbstverständnis der damals lebenden Frauen und deren Gelehrsamkeit. Nicht minder wichtig sind deshalb die zeitgenössischen Gelehrten. Namen wie etwa Amina Wadud, Riffat Hassan, Asma Lamrabet, Asma Barlas, Kecia Ali, Sa’diyya Shaikh oder Fatima Mernissi gehören mittlerweile zu den bekannteren im Feld der islamischen Studien und viele weitere könnten wir hier noch anführen.

Problematik kolonialistisch-eurozentrischer Diskurse

Im Jahre 1916 schrieb der Orientalist Dr. Max Horten im Vorwort seiner Übersetzung Muhammedanische Glaubenslehre – Die Katechismen des Fudali und Sanusi:

Manche Europäer brüsten sich mit einigen Kenntnissen äußerer Formen des Islam und treten dann dem Orientalen mit dem Selbstbewusstsein gegenüber, Sinn und Geist seiner Religion verstanden zu haben. In diesem Gebaren mancher Europäer liegt eine schwere Verletzung des Ehrgefühls und des religiösen Bewusstseins des Muslim. Er, wenn er auch nur ein Halbgebildeter ist, hat ein tieferes Verständnis der Lehre (Dogmatik und Moral seiner Religion), als der oberflächlich gebildete Europäer auch nur zu begreifen imstande ist. Er empfindet, dass der Europäer von den vielfach so großzügigen Gedanken der islamischen Religion auch nicht den Schatten eines Verständnisses hat und in Ermangelung eines solchen glaubt, der Islam bestehe aus nichts anderem als kultischen Äußerlichkeiten und Ähnlichem.

Hortens Worte sind auch heute noch aktuell, leider mit zusätzlichen Themenfeldern wie dem Vorwurf des fehlenden Feminismus, der angeblich noch nötigen Aufklärung und unaufhörlichen Aufforderungen nach Reformen des Islams zu «moderaten» Strömungen. Dies ist ein vor allem eurozentrischer Blick, der dem kolonialen sowie imperialen Denken entspringt und so nur kurzsichtig bleiben kann. Wann haben wir in der Gesellschaft das letzte Mal die Forderung nach modernen oder progressiven christlichen Strömungen breit diskutiert? Aber auch Hortens Worte sind zu vereinfachend und teilweise vereinnahmend.

Ebenfalls dürfen wir christlich-theologisch geprägte oder eurozentrische Begriffe wie «Gottesstaat», «heiliger Krieg», «liberal», «säkular», «Aufklärung» oder «reformiert» nicht einfach mit Begrifflichkeiten anderer Religionen gleichsetzen. Schon der Ausdruck Religion entspricht nicht dem arabischen Wort Dîn. Dîn bedeutet je nach Kontext eher eine freiwillige Hingabe oder auch schuldmäßige Verpflichtung zu einer friedfertigen Lebensweise oder Lebensordnung. Jede Religion hat ihren eigenen Wortschatz. Wir erzeugen einen verzerrten Blick, wenn wir das eigene religiöse, kulturelle Vokabular für eine andere Religion voraussetzen. Ein Kalifat ist zum Beispiel nicht ein «Gottesstaat». Dschihād ist mit Engagement zu übersetzen anstelle eines «heiligen Krieges» und in vielfältigen Bedeutungsnuancen zu differenzieren!

Gerade auch Vorstellungen von Reinheit, Sexualität und Schönheit haben sich kulturell gegenseitig beeinflusst. Viele als religiös gedachte Meinungen wie eine Homosexuellenfeindlichkeit in der heutigen Form oder Moralvorstellungen zur Sexualität widerspiegeln eher eine viktorianisch-christliche Haltung, die sich in vielen muslimischen Gesellschaften durchsetzte und die gläubige Menschen übernahmen, als eine traditionell religiöse.

Der sogenannte weiße Feminismus

Nicht wenige muslimische weibliche Gelehrte distanzieren sich deshalb vom Begriff des «Feminismus». Sie sehen darin eine eingeschränkte und nicht selbstreflexive Weltanschauung bzgl. der Frauen. Es ist schlicht unmöglich diese unter dem Begriff «feministisch-islamische Studien» oder andere ähnliche Wortgebilde zusammenzufassen. Dieser Feminismus steht für gewisse dieser Frauen im Allgemeinen für die Befreiung eines Typs von Frau: die weisse Frau aus der Mittelschicht – der sogenannte weiße Feminismus.

Dies betrifft auch andere Lebensbereiche, die von Klassismus wie auch Rassismus betroffen sind. So sind nun weitere Feminismen entstanden, die PoC (People of Color), queere oder marginalisierte Frauengruppen als weitere wesentliche Basis nehmen. Dadurch entstehen entkolonialisierte Feminismen. Sie sind darum bemüht, den imperialistisch orientierten Perspektiven auf gesellschaftliche Zusammenhänge bessere Modelle gegenüberzustellen. Diese berücksichtigen zudem die Intersektionalität.

Typischer Streitpunkt: Tragen des Schleiers

Nehmen wir das Tragen des Schleiers als Beispiel. Der weiße Feminismus betrachtet den Schleier als eine Unterdrückung und die Frau muss teils missionarisch drauf hingewiesen und befreit werden, damit sie ihre Haut und Haare zeigen kann. Ein entkolonialisierter Feminismus vertritt die Position, dass wenn sich eine Frau aus freien Stücken verschleiert, sie feministisch und eben nicht unterdrückt ist; sie entscheidet sich aus eigener Handlungskompetenz heraus für ihr Kopftuch. Erst wenn sie tatsächlich gezwungen wird, aus welchen Gründen auch immer, ist sie als unterdrückt zu betrachten.

Auch frühere weibliche Gelehrte zeitversetzt als «Feministinnen» zu bezeichnen, wie etwa das Beispiel Sukaynas weiter oben, zeigt einen Mangel an Verständnis über kulturellen Kontext. Sie als Beispiel anzuführen und zu verlangen, dass alle Frauen wie Sukayna sein müssten, um als Feministin zu gelten, wäre wiederum ein kolonialistisches, anachronistisches Denken und stelle ein großes Missverständnis Sukaynas und ihrer Motive dar.

Den islamischen Feminismus neu definieren

Andererseits gibt es wiederum viele, die den Begriff des islamischen Feminismus für sich neu definieren und bewusst beanspruchen. Persönlich kenne ich viele Musliminnen, die sich auch bewusst Feministinnen nennen. Auch gibt Versuche neue Begriffe zu definieren und zu verwenden. Es geht für mich schließlich darum, dass wir lernen Begriffe nicht trennend, sondern einigend zu verwenden. Gott möchte von uns Einheit in der Vielfalt (Koranverse 3:102-105, 6:159, 11:118-119, 42:8). Lila Abu-Lughod ruft in ihrem Aufsatz zu einem differenzierten Vorgehen auf:

«Ich argumentiere, dass wir stattdessen eine ernsthafte Wertschätzung der Unterschiede unter den Frauen dieser Welt entwickeln – als Ergebnis unterschiedlicher Geschichten, Erscheinungen verschiedener Umstände und Ausdrucksformen andersartig strukturierter Wünsche.»

Do Muslim Women Really Need Saving?

Ich möchte hier nicht den Eindruck erwecken, dass nur europäische Geistliche und Philosophien schuld an den Miseren wären. Es gibt viele muslimische Gelehrte, die eindeutig sehr frauen- oder sexualitätsfeindlich waren, etwa die berühmten Gelehrten As-Sarachsi oder Ibn Dschawzi. Wichtig ist hierbei jedoch, dass die muslimische Gelehrsamkeit im Generellen lange eine Kultur der Ambiguität pflegte und viele Positionen gleichzeitig diskutierten. Diese Pluralität und Mehrdeutigkeit gingen durch die Moderne leider verloren, indem westliche Narrative der Suche nach Eindeutigkeit ebenfalls übernommen wurden. In jüngster Zeit sind glücklicherweise Aufbrüche zu mehr Ambiguität in europäischen Diskursen zu beobachten.

Koran als Inspiration für eine gendergerechte Theologie

Viele argumentieren, dass der Koran eine Inspiration für eine gendergerechte Theologie bietet. Dieser Überzeugung bin ich auch. Jedoch müssen wir dazu den Koran in seinem historischen, sowie altarabisch-sprachlichen Kontext verorten. So können wir dann aus dem Text ableiten, dass Partner ihre Beziehung auf Augenhöhe zu pflegen haben (Koranverse 2:187, 9:71, 24:26) und vor Gott die Geschlechter und ihre Taten generell gleichwertig sind (33:35, 3:195, 16:97). Partner sollen Ruhe beieinander finden können (30:21).

Unsere Gesellschaft funktioniert also besser, wenn nicht die Geschlechter untereinander im Fokus stehen, sondern, wenn wir Ruhe anbieten und aufrechterhalten können auf materieller, psycho-sozialer und individueller Ebene. Anders und vereinfacht gesagt müssen wir psychische und gesellschaftliche Sicherheit fördern.

Auch zahlenmäßig kommen Mann und Frau gleich oft vor im Koran, nämlich jeweils 24 Mal. Die Frau entsteht nicht aus den Rippen Adams, sondern alle Menschenkinder teilen sich denselben seelischen Ursprung:

Er schuf euch aus einer einzigen Seele (nafs), hierauf machte Er aus ihr ihr Partnerwesen.

4:1, 39:6

Solche Verse können so gedeutet werden, dass sämtliche Geschlechter gleichzeitig erschaffen wurden und nicht erst nacheinander. Nicht zuletzt deshalb besitzen alle dieselbe Menschenwürde als Kinder Adams, ungeachtet ihrer Taten (17:70). Ich bin würdig und würdevoll, aus dem einfachen Grund, dass ich als Geschöpf Gottes existiere. Ich muss nicht erst meine Würde beweisen.

Der Koran zugunsten der Frauen

Teilweise gibt es Unterschiede im Koran, die zugunsten der Frauen ausfallen. So hat die Frau beim Vorwurf des Ehebruchs oder der Unzucht das letzte Wort (vgl. Sura 24). Eine ähnliche Regelung gibt es nicht für Männer. Ebenfalls wird das Königtum im Koran negativ umschrieben (27:34), aber die positive Ausnahme bildet die Königin von Saba selbst. Sie wählte entgegen dem Vorschlag ihrer Berater nicht den Weg des Krieges und der Konfrontation. Der Weg des Friedens und Dialogs war ihr Weg (27:35). Sie zeigte sich standhaft, weise, reflektiert und einsichtig in gegenseitiger Übereinkunft mit dem Propheten Salomo (27:44).

Frauen wie Maria oder auch die Frau des tyrannischen und despotischen Pharaos werden als besonders rechtschaffene Gläubige beschrieben (66:11-12). Auch die Frauen des Propheten Muhammad sind nicht zu vergessen, die als Mütter der Gläubigen und somit unmittelbar als Vorbilder für alle hochgehalten werden (33:6). Individuelle Unterschiede sind keine Defizite, sondern eine Erscheinung des Menschseins an sich und als solche sind sie zu feiern und zu pflegen (49:13).

Spirituelle Räume rückerobern

Zusammengefasst gibt es also mindestens drei Ebenen, die eine große Rolle spielen. Die erste ist die Bildungs- und Aufklärungsarbeit über das muslimisch kulturelle Erbe. Die zweite Ebene ist die Entkolonialisierung der Diskurse, sodass ein ambiger, pluraler Meinungsaustausch entstehen kann. Dieser kann dann wiederum alle bereichern und berücksichtigt nicht nur eine ausgewählte Gruppe. Dabei müssen auch marginalisierte Gruppen darauf achten, dass sie nicht ihre eigene Perspektive stellvertretend zum «Feminismus» oder zum einzig gültigen Ausgangspunkt erklären oder unbewusst voraussetzen. Die dritte und nicht abschließende Herausforderung wird sein, weibliche Gelehrsamkeit in allen Bereichen wiederherzustellen und auszubauen: Imaminnen und Vorbeterinnen, Koranexegetinnen, Scharia- und Hadith-Expertinnen, Seelsorgerinnen, Theologinnen, Islamwissenschaftlerinnen, Rezitatorinnen, Ritualbegleiterinnen, Historikerinnen, Kulturschaffende in Musik, Poesie wie Literatur und darstellende Künste, Jugendarbeiterinnen und viele mehr.

Dies erfordert unter anderem die Sichtbarmachung all dieser Pionierinnen. Gewisse Frauen müssen dafür aus ihrer Komfortzone raus und die spirituellen Räume rückerobern. Auch ist eine islamisch-theologische Aufarbeitung der ideologischen Hürden vonnöten. Ein Beispiel kann sein, dass alte Fragestellungen wieder aufgegriffen werden, wie etwa die Frage nach der Selbstverständlichkeit, dass auch Prophetinnen nach islamischem Verständnis wirkten.


Weiterführende Literatur:

Kecia Ali: Sexual Ethics and Islam. Feminist Reflections on Qur’an, Hadith, and Jurisprudence. Oneworld Publications, 2016.

Zahra Ali (Hrsg.): Islamische Feminismen. Passagen, 2017.

Katajun Amirpur: Den Islam neu denken. Der Dschihad für Demokratie, Freiheit und Frauenrechte. C.H. Beck 2013.
Meine Rezension zum Buch: alrahman.de/wie-der-islam-neu-gedacht-werden-kann

Asma Barlas: Re-Understanding Islam: A Double Critique (Spinoza Lectures). Amsterdam, van Gorcum, 2008.

Thomas Bauer: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams. Verlag der Weltreligionen, 2011.

Lamya Kaddor (Hrsg.): Muslimisch und liberal! Was einen zeitgemäßen Islam ausmacht. Piper, 2020.

Fatima Mernissi: The Veil and the Male Elite: A Feminist Interpretation of Women’s Rights in Islam. Addison Wesley Publishing Co., 1991.

Aisha Y. Musa: Hadith as Scripture. Discussions on the Authority of Prophetic Traditions in Islam. Palgrave MacMillan, 2008.

Muhammad Akram Nadwi: Al-Muhaddithat: The Women Scholars In Islam. Interface Publications, 2007.

Amidu Sanni: Women Critics in Arabic Literary Tradition with Particular Reference to Sukayna bt. al-Husayn. British Society for Middle Eastern Studies (July 1991): 358–366.

Annemarie Schimmel: Meine Seele ist eine Frau. Kosel Verlag, 1995.

Nimet Seker: Koran und Gender. Exegetische und hermeneutische Studien zum Geschlechterverhältnis im Koran. Hamburg: Editio Gryphus, 2020.

Lana Sirri: Einführung in islamische Feminismen. w_orten & meer, 2017.

Barbara Freyer Stowasser: Women in the Quran. Traditions, and interpretation. New York, Oxford: Oxford University Press, 1996.

Christian Ströbele, Amir Dziri, Anja Middelbeck-Varwick und Armina Omerika (Hrsg.): Theologie – gendergerecht? Perspektiven für Islam und Christentum. Friedrich Pustet, 2021.

Amina Wadud: Inside the Gender Jihad. Women’s Reform in Islam. Oxford, 2006.

Rafia Zakaria: Against White Feminism. Hanser / hanserblau, 2022.

Berg Arafat mit zahlreichen Pilgern in weissen Tüchern um den Berg

Arafat / ʿArafah im Koran

Ich suche Zuflucht bei Gott vor dem verworfenen Satan,
Im Namen Gottes, des Erbarmers, des Gnädigen

2:198 Es ist kein Verstoß für euch, dass ihr nach einer Gunst von eurem Herrn trachtet. Wenn ihr von Arafat hergeströmt seid, so gedenkt Gottes beim verbietenden Monument. Und gedenkt Seiner, wie Er euch rechtleitete, da ihr davor unter den Irrenden wart.

Ḥanīf-Übersetzung

Wofür steht dieses Wort, das nur in diesem Vers als ‚Arafât (عَرَفَات) vorkommt? Die Wurzel ʿain-rā-fā (ع ر ف) und das Verb ʿarafa stehen generell für kennen. Und so wird es auch im berühmten Vers 49:13 verwendet, auf dass sich die Menschen kennenlernen, lernen einander zu erkennen. Damit wird in 2:198 die Debatte (Haddsch) ein Ort der Begegnung und des Kennenlernens. Sich gegenseitig kennenlernen, einander sich selbst in Frieden und Güte von Angesicht zu Angesicht zu erkennen geben und zeigen sowie die Möglichkeiten und Vielfalten dieses Lebens erkennen und feiern.

Dies passiert bei der Pilgerfahrt, der inneren seelischen Debatte (Haddsch), bei der viele verschiedene Völker unweigerlich zusammen- und miteinander klarkommen müssen. Gerade dann, wenn Streiten und Frevel (2:197) verboten sind in dieser wichtigen Zeit. Wer sich kennt, der fürchtet sich nicht vor dem „Anderen“, denn diese Furcht ist ein zu vermeidender Irrweg. Vielmehr versuchen wir uns einander in Verständnis zu begegnen.

Arafat soll also ein Symbol für uns sein in der Menge und Masse weltweit, egal wo, meine Schwester oder meinen Bruder zu erkennen und zu lieben und so der Gunst Gottes zu gedenken.

Homosexualität und Islam: Zwei Männer in Anzügen, die über ein Feld an einem sonnigen Tag spazieren, während sie Händchen halten

Homosexualität und Islam

Ein Vortrag vom muslimischen Islamwissenschaftler Andreas Ismail Mohr:

Islam und Homosexualität – geht das zusammen? | Teil 1: Vortrag
Islam und Homosexualität – geht das zusammen? | Teil 2: Fragerunde

Nun der Artikel zu Islam und Homosexualität:

Im Namen Allahs, des Allerbarmers, des Barmherzigen beginnt diese Arbeit. Denn zu Ihm nehmen wir unsere Zuflucht, und in Seinem Namen beginnen wir. Und ich bitte Ihn, mir beizustehen, diese Aufgabe angemessen zu bewältigen und mich dabei nicht irregehen zu lassen, so dass sie zum Nutzen für den Islam und für die Muslime werden kann.

Das hier behandelte Thema ist für viele Muslime weiterhin ein sehr heikles Thema. Sie sind mehrheitlich der festen Meinung, dass Homosexualität und alle homosexuellen Handlungen Harâm (verboten) im Islam seien.

[…]

Der Qur’ân wurde von Allah mit der Wahrheit offenbart. Und es ist in der Hand eines jeden Menschen, sich an dessen Wortlaut zu halten und diese Wahrheit anzunehmen und nicht davon abweichenden Vorstellungen zu folgen:

Wahrlich, Wir haben dir [Muhammad] das Buch mit der Wahrheit hinabgesandt für die Menschen. Wer sich rechtleiten lässt, der [tut es] für sich; und wer irregeht, der geht irre zu seinem Schaden. Und du [Muhammad] bist nicht Wächter über sie.

Koran 39:41

[…]

In Diskussionen mit Muslimen kann man immer wieder die Erfahrung machen, dass sie ein Verbot von Homosexualität als einen festen Bestandteil des Islams ansehen, der kaum einmal in Frage gestellt wird. Zu demselben Ergebnis kommt man gewöhnlich auch, wenn man von Muslimen verfasste religiöse Literatur daraufhin untersucht.

Sie glauben zu wissen, was für Verhältnisse in Lots Volk herrschten, obwohl sie sich dabei weder auf den Text des Qur’ans, noch auf betraubare Überlieferungen oder gar historische Fakten stützen können – sie glauben fest an etwas, das man ihnen vermittelt hat, aber sie hinterfragen und prüfen es nicht.

Unter Muslimen gab und gibt es ebenso Homosexuelle wie unter anderen Menschen, zum Teil mit eigenen Subkulturen von langer Tradition. In der Regel ist aber Homosexualität in muslimischen Gesellschaften ein Tabu, wenn auch jeweils von unterschiedlicher Intensität, sogar in solchen Ländern, in denen sie nicht strafbar ist. Das Tabu wird auf den Islam zurückgeführt. Ob seine authentischen Quellen tatsächlich hierfür herangezogen werden können oder ob der Islam wie in vielen anderen Fragen nur wieder Vorwand und missbrauchtes Mittel ist, soll der Ansatzpunkt für die folgenden Seiten sein.

Als Grund für die herkömmliche Auffassung werden Qur’ân-Verse und bestimmte Hadîthe angeführt, die als Beleg dafür gehalten werden.

Diese Arbeit soll nicht mehr als ein Versuch sein, diese Textstellen und die Gültigkeit der aus ihnen abgeleiteten Schlussfolgerungen zu überprüfen. Gleichzeitig sollen auf den folgenden Seiten auf der Grundlage des Qur’âns, dessen Wortlaut allein die Basis für eine islamische Antwort sein kann, der Rahmen und die Möglichkeiten für homosexuelle Partnerschaften untersucht werden.

[…]

Das Überwuchertsein des religiösen Denkens mit bestimmten Interpretationen, nicht angezweifelten Annahmen, Spekulationen, Tabus u.a. machten und machen vielfach immer noch eine sachliche Auseinandersetzung mit anderen Muslimen über viele Themen fast unmöglich. Das wird auch bei den zitierten muslimischen Autoren immer dann unübersehbar, wenn sie die von ihnen verkündeten Grundsätze nicht mehr als gültig ansehen, sobald sie sie auf Homosexualität anwenden könnten.

Im Laufe der Untersuchung wird sich zeigen, in welchem Ausmaß die Muslime schon sehr früh unter bestimmten – außerislamischen – Einflüssen die weitgefassten Aussagen des Qur’âns einschränkten, sich damit der in ihm liegenden interpretativen Möglichkeiten begaben und diese zum Teil sogar in deren Gegenteil verkehrten. Das betrifft in Grundzügen auch den Bereich der Sexualität und lässt sich ebenfalls in einer Reihe anderer Fragen aufzeigen.

In vielen Dingen übernahmen sie das Erbe der Christen und Juden. Wo der Qur’ân nur andeutungsweise berichtet, ergänzten sie es manchmal kritiklos um überkommene Mythen und Erzählungen, ohne sie akribisch gegen den Text des Qur’âns zu prüfen. Und sie taten es wohl in guter Absicht, überzeugt von der Richtigkeit ihrer Vorgehensweise. Denn die Muslime der Frühzeit ihrer Geschichte waren ja mehrheitlich Christen oder Juden gewesen, bevor sie zum Islam übertraten, mit einem definierten Welt- und Menschenbild, mit festen Überzeugungen, die sie in das neue Bekenntnis mitnahmen.

Unsere Überzeugung als Muslime jedoch, dass sowohl der Qur’ân, das Wort Gottes, als auch die Schöpfung auf den einen Urheber zurückgehen, lässt es nicht zu, uns auf Ansichten vergangener Jahrhunderte zu beschränken und beim Lesen des Qur’âns verfügbare Erkenntnisse des jeweiligen wissenschaftlichen Standes außer acht zu lassen.

Für jeden Menschen ist Sexualität ein wichtiger Bestandteil seines Lebens, die ihn in seinem ganzen Wesen beeinflusst, seine Empfindungen, seine Gedanken und seine Vorstellungswelt beherrscht, sein Triebverhalten bestimmt – ein untrennbarer, von Gott so gewollter Teil seiner Persönlichkeitsstruktur. Hierzu gehört auch Homosexualität als ein Teilaspekt des breiten Spektrums menschlicher Sexualität.

[…]

Unter Homosexuellen werden hier Personen verstanden, die sich sexuell von Menschen angezogen fühlen und in ihnen die ihnen gemäßen Partner sehen, die dasselbe Geschlecht wie sie selbst haben. Bestimmte Verhaltensausprägungen spielen auf den folgenden Seiten nur insofern eine Rolle, wie sie vom verwendeten Material her in die Diskussion gebracht werden.

Wo im Text von Homosexuellen die Rede ist, sind Männer und Frauen gemeint, soweit der Zusammenhang dies nicht ausdrücklich ausschließt.

[…]

Es werden detailliert die Belege im Qur’ân angeführt. Sie widersprechen unübersehbar der traditionellen Sicht. Und es wird gezeigt, woher die traditionelle Vorstellung von den Muslimen übernommen wurde.

Der Qur’ân

Was Islam ist, hat Allah in klaren Worten im Qur’ân offenbart:

… Heute habe Ich eure Religion (arab.: dîn) für euch vollendet und Meine Gnade an euch erfüllt und euch den Islam zum Bekenntnis (arab.: dîn) erwählt. …

Koran 5:3

Mit anderen Worten: An jenem Tag hat Allah im Qur’ân den Islam vollendet und für uns zum Bekenntnis erwählt, und Er gab dieser Lehre den Namen Islam. Er hat ihn vollendet, d.h. alle späteren Ergänzungen in den verschiedenen Lehrtraditionen sind nicht Teil der offenbarten Lehre.

Und wer eine andere Glaubenslehre sucht als den Islam (so wie Allah ihn offenbart hat): nimmer soll sie von ihm angenommen werden, und im zukünftigen Leben soll er unter den Verlierenden sein.

Koran 3:85

Und im Qur’ân hat Allah den Propheten (S.) zu einem schönen Vorbild für uns erklärt:

Wahrlich, ihr habt an dem Propheten Allahs ein schönes Vorbild für jeden, der auf Allah und den letzten Tag hofft und Allahs häufig gedenkt.

Koran 33:21

[…]

Der Islam ist gemäß seinen Quellen eine Religion, die die Menschen so akzeptiert, wie Allah sie hat entstehen lassen, erschaffen hat. Allah erschuf den Menschen in der besten Form:

Wahrlich, Wir haben den Menschen in der besten Form erschaffen.

Koran 95:4

In (49:13) sagt Allah, wonach Er die Menschen beurteilen wird:

Wahrlich, der Angesehenste von euch vor Allah ist der Gottesfürchtigste unter euch. Siehe, Allah ist allwissend, allkundig.

Koran 49:13

Allah hat alle Menschen erschaffen, und zwar in „der besten Form“ (95:4), dazu zählen auch alle männlichen und weiblichen Homosexuellen mit ihrer besonderen (فطرة) fiTra – Disposition, Natur. Und Er erschafft die Menschen auf diese Weise immer wieder:

In Allahs Vorgehensweise wirst Du nie eine Änderung finden; und in Allahs Vorgehensweise wirst Du nie einen Wechsel finden.

Koran 35:43

Mit anderen Worten: Ein Teil der Menschen hatte und hat einen auf das gleiche Geschlecht gerichteten Geschlechtstrieb, von Allah so geschaffen und gewollt.

Wie sieht der Qur’ân sexuelle Partnerschaften?

In einem zentralen Vers zu dieser Frage setzt Allah alle zwischenmenschlichen Partnerschaften auf eine und dieselbe Stufe:

Unter Seinen Zeichen ist dies, dass Er (männliche bzw. weibliche) Partner (ازواج) für euch (Männer und Frauen) aus euch selber erschuf, auf dass ihr (Männer und Frauen) Frieden bei ihnen findet, und Er hat Liebe und Zärtlichkeit zwischen euch gesetzt. Hierin sind wahrlich Zeichen für ein Volk, das nachdenkt.

Koran 30:21

Im Qur’ân (30:21) beschreibt Allah folglich alle sexuellen Partnerschaften als gleichwertige, wünschenswerte Verbindungen, wenn man nicht willkürlich einfache Regeln und Möglichkeiten der arabischen Sprache missachtet.

Der verwendete Plural أَزْوَاجً (azwâj) – Partner, Gatten, Gattinnen ist der Plural sowohl von زوج (zauj, m. – Teil eines Paares, Paar, Partner, Partnerin …) und زوجة (zauja, f. – Partnerin, Gattin, ..), er ist somit geschlechtsneutral. Ebenso spricht Allah hier zu allen Menschen, unabhängig von ihrem Geschlecht, da das Arabische die männliche Form verwendet, wenn Frauen und Männer angesprochen werden.

Der Ausdruck إِلَيْهَا – ilay-hâ – (hier wiedergegeben mit: bei ihnen) ist ein Femininum Singular und bezieht sich auf das vorstehende Wort أَزْوَاجًا – azwâjan – (Partner, Partnerinnen), ein arabisches Wort in gebrochener Pluralform. Dazu Carl Brockelmann:

„…Auch die sog. (= so genannten) gebrochene Plurale … sind eigentlich bloß Kollektivformen. Die Sprache betrachtet sie als Singulare generis feminini und konstruiert sie demgemäß …“.

Carl Brockelmann, Arabische Grammatik, S. 94 f.

Somit sind auch alle Regeln für einen نكاح (nikâH = Ehe/Ehevertrag) bzw. زواج (zawâj = Ehe, Partnerschaft) für alle gültig. Denn er macht die Menschen erst zu Partnern (ازواج, azwâj). Zumal es nirgendwo im Qur’ân ein Heiratsverbot gibt zwischen Menschen desselben Geschlechts. Folglich sind unter einem نكاح (nikâH) homosexuelle Verbindungen ebenso legal wie heterosexuelle. الحمد لله – al-Hamdu lillah.

Jeder Homosexuelle, Muslima oder Muslim, sollte von daher die von Allah so gewollte sexuelle Disposition dankbar akzeptieren.

Vorab die Fakten und das Ergebnis der Untersuchung in Kurzform:

Bis hierher beurteilt der Qur’ân alle zwischenmenschlichen sexuellen Partnerschaften als gleichwertig und gleichberechtigt. Eine Ehe zwischen zwei Personen des gleichen Geschlechts wird im Qur’ân nicht untersagt. Der Islam ist somit die einzige (mono-)theistische Lehre, die Homosexuelle und ihre Partnerschaften voll akzeptiert, الحمد لله.

Im Qur’ân untersagt Allah, etwas zu verbieten, was Er nicht verboten hat:

Wer ist ungerechter als der, welcher eine Lüge wider Allah ersinnt?

Koran 6:144

Zusammenfassung: Islam ist allein die offenbarte Lehre im Qur’ân, spätere Ergänzungen (Verbote, Gebote) durch Menschen gehören nicht dazu.

Worauf beruht die homosexualitätsfeindliche Argumentation der traditionellen Lehre?

Die traditionelle Argumentation führt als Beleg für ein Verbot von Homosexualität die Verse über Lot und sein Volk an.

Was aber sagen diese Verse tatsächlich aus?

Kein Wort im Qur’ân deutet an, dass die Passagen von Lot und seinem Volk im sexuellen Sinne zu verstehen seien. Ganz im Gegenteil. Es gibt 4 Passagen (7:80-81; 26:165-166; 27:54-55; 29:28-29), in denen Lot sein Volk tadelt, die alle mit denselben Worten eingeleitet werden.

“wa lûTan id qâla li-qaumi-hi” (و لوطا اذ قال لقومه)
„und (gedenke) Lots, als er zu seinem Volk (allen Männern und Frauen) sprach“,

In mehreren Koranversen

Der Leser wird in allen diesen Fällen besonders darauf hingewiesen, dass Lot alle Männer und Frauen seines Volkes, seiner Leute, in seinen Tadel einschliesst.

Ob Lots Worte in seinem Tadel (7:81, 27:56) „Kommt ihr zu den Männern anstatt/und nicht zu den Frauen bei einem Begehren (شهوة)“ eine sexuelle Bedeutung haben, kann man sehr leicht durch Anwendung einfacher Logik prüfen: Sein Tadel richtet sich an القوم (al-qaum), alle Männern und Frauen seines Volkes. Wenn seine Worte auf beide Gruppen im sexuellen Sinne anwendbar sind, können sie eine sexuelle Bedeutung haben, wenn nicht, müssen wir diese Bedeutung vermeiden.

Angewendet auf die Frauen: Glaubt wirklich jemand, dass das beabsichtigte Ergebnis seines Tadels “kommt ihr zu den Männern anstatt zu/neben den Frauen” ist, dass Lot wollte, dass die Frauen sich lesbisch verhalten? Warum sollte er das tun? In den beiden vorgenannten Versen wird das Wort (شهوة – schahwa) verwendet, das in den meisten Qurân-Übersetzungen als sexuelles Begehren (z.B. „Sinnenlust“) verstanden und übersetzt wird.

Das Wort schahwa kommt indes einschließlich der Verbformen an weiteren 11 Stellen im Qur’an vor:

  • schahawât (pl.): 3:14, 4:27 und 19:59
  • als Verbum (VIII. Stamm): 16:57, 21:102, 34:54, 41:31, 43:71, 52:22, 56:21, 77:42

An allen diesen Stellen hat es ganz klar keinen sexuellen Bezug. Dieser entstand und verstärkte sich erst durch die traditionelle Qur’ân-Interpretation der Verse von Lot und seinem Volk.

Es gibt keine historisch verlässlichen Zeugnisse über Lot und sein Volk und das, was in ihrer Stadt geschah. Es gibt nur eine Erwähnung im Alten Testament der Bibel, wo ein einziges Wort in einem der Bücher Mose zu einer verbreiteten Fehlinterpretation führte (die Quelle für bestimmte mawâlî-(موالي) –Überlieferungen).

Die Verse von Lot und seinem Volk

Über den Propheten Lot sagte der Qur’ân:

Und (Wir leiteten) Ismael und Elisa und Jonas und Lot; sie alle zeichneten Wir aus unter den Völkern.

Koran 6:86

Wann lebte Lot?

Die Antwort auf diese Frage hilft bei der Prüfung, ob es vor Lot bereits Homosexualität nachweislich gab. Denn in der traditionellen Interpretation wird anderes behauptet. Direkt auf Lot bezogene Angaben enthielten die befragten Nachschlagewerke nicht, dafür jedoch Zeitangaben über seinen Zeitgenossen und Verwandten Abraham.

Abraham, Stammvater der Israeliten und Araber, aus Ur in Chaldäa; kam um 1800 v. Chr. nach Kanaan; bei Hebron begraben.

Das Herder-Bücherei Lexikon, Band 1, Spalte 3

Abraham, erster der drei at. [= alttestamentlichen] Erzväter, zog zwischen dem 19. und 17. Jh. v. Chr. aus Haran oder Ur nach Kanaan.

rororo lexikon, Duden-Lexikon, Taschenbuchausgabe, Seite 15

Ungefähr um 2000 v. Chr. bauten hier Abraham und sein Sohn Ismael zusammen im Namen Gottes einen Altar, der Ka’ba genannt wurde.

Syed Muzaffar-ud-Din Nadvi, A Geographical History of the Qur’ân, Seite 53

Nach Reclams Bibellexikon, Seite 310, ist Lot (arabisch: lûT) der „Brudersohn Abrahams, der mit ihm nach Kanaan zieht, sich in Sodom niederlässt und dem Gericht über die Stadt entkommt.“ Nach dem Qur’ân ist er zudem ein Gesandter Gottes (26:162) unter dem Volk, bei dem er lebt.

Der folgende Abschnitt soll alle wichtigen Aspekte der Geschichte von Lot und seinem Volk zusammenfassen, so wie der Qur’ân sie schildert. Das kann dabei helfen, die Umstände besser zu verstehen, unter denen Lot lebte. Um einen vollständigen Überblick darüber zu erhalten, sind die einzelnen Teile, die an verschiedenen Stellen des Qur’âns zu finden sind – teils verkürzt, teils ausführlicher -, die einander ergänzen bzw. Wiederholungen darstellen und zum Teil in einander verschachtelt berichtet werden, thematisch zu sichten und zusammenzufassen.

Hierbei ergeben sich folgende Hauptthemen:

  • Lot und Abraham
  • Lot und das Volk
  • Die Gesandten
  • Die Vernichtung des Volkes
  • Lots Geschichte im Vergleich zu der anderer Gesandter

Sie lassen sich wiederum weiter unterteilen. Im Folgenden werden die Verse, die sich auf die Geschichte Lots beziehen, in der angegebenen thematischen Aufteilung wiedergegeben, erforderliche Erklärungen und Zusammenfassungen werden jeweils eingeschoben.

Lot und Abraham

Abraham wurde von einem Anschlag seines Volkes gegen sein Leben errettet und ging mit Lot, der mit ihm auswanderte, in das Land, das Allah segnete.

Sie [das Volk] wollten eine List gegen ihn [Abraham] anwenden. Doch Wir machten sie zu den größten Verlierern. Und Wir erretteten ihn und Lot in das Land, das Wir für die Menschen in aller Welt [wörtlich: für alle Welten] segneten.

Koran 21:70-71

Und Lot glaubte ihm [Abraham], und er sagte: „Ich werde zu meinem Herrn auswandern [wörtlich: hijra machen]. Er ist der Mächtige, der Weise.“

Koran 29:26

Demnach wirkte Lot unter Menschen, zu denen er als Fremder kam, nachdem er seine Heimat verlassen hatte. Mit Bailey, einem anglikanischen Autor, muss man annehmen, dass Lot sich als Fremder in der Stadt, in der er sich danach niederließ und über die der Qur’ân berichtet, nur mit eingeschränkten Rechten leben durfte.

Lot und sein Volk

Lot empfing von Gott Weisheit und Wissen:

Und Lot gaben Wir Weisheit [Hukm] und Wissen [‚ilm], und Wir erretteten ihn aus der Stadt [al-qarya], die Schlechtigkeiten [chabâ’ith] beging. Sie waren ein böses Volk [qaum], Frevler [fâsiqîn]. Und Wir ließen ihn in Unsere Barmherzigkeit eingehen; denn er war einer der Rechtschaffenen.

Koran 21:74-75

Lot war Gesandter Allahs, und Lot rief das Volk zu gottesfürchtigem Leben auf und betonte, dass er für sein Wirken keine Entlohnung erwarte. Lot bezeichnet sich als rasûl amîn, als einen zuverlässigen Gesandten, als jemanden, der zuverlässig, vertrauenswürdig und ehrlich ist, laut E.W. Lane auch faithful, d.h. wahrheits- und wortgetreu und glaubwürdig. Mit anderen Worten: Er wird niemanden einer Tat beschuldigen, die dieser nicht begangen hat.

Und Lots Volk [qaum lûT] zieh die Gesandten der Lüge, da ihr Bruder Lot zu ihnen sprach: „Wollt ihr nicht gottesfürchtig sein? Denn ich bin euch ein zuverlässiger Gesandter. So fürchtet Allah und gehorcht mir. Und ich verlange von euch keinen Lohn dafür [, dass ich euch die Offenbarung übermittle]. Mein Lohn ist allein beim Herrn der Welten.“

Koran 26:160-164

Lot kämpfte gegen etwas Abstoßendes, das es bis dahin noch nicht unter Menschen gab. Daraufhin drohte das Volk ihm mit Vertreibung.

Und [Wir entsandten] Lot, da er zu seinem Volk sprach: „Wollt ihr etwas Abstoßendes begehen, worin keiner in aller Welt euch vorangegangen ist. Ihr kommt zu Männern bei einem Begehren, nicht [auch] zu den Frauen. Nein, ihr seid ein das Maß überschreitendes Volk [qaum musrifûn].“

Koran 7:80-81

Kommt ihr unter allen Geschöpfen zu Männern, und lasst unbeachtet, was euch euer Herr an euren Partnern erschaffen hat? Nein, ihr seid ein übertretendes Volk [qaum ‚âdûn].“

Koran 26:165-167

Und [Wir entsandten Lot], da er zu seinem Volk sprach: „Wollt ihr etwas Abstossendes begehen, während ihr seht? Kommt ihr denn zu Männern bei einem Begehren, nicht [auch] zu Frauen? Nein, ihr seid ein unwissendes Volk [qaum tajhalûn].“

Koran 27:54-55

Und [Wir entsandten] Lot, da er zu seinem Volk sprach: „Ihr begeht etwas Abstoßendes, worin keiner in aller Welt euch vorangegangen ist. Kommt ihr denn zu Männern und zerschneidet den Weg? Und in eurer Versammlung [nâdî-kum] begeht ihr Verwerfliches [munkar]?“ Doch die Antwort seines Volkes war nur, dass sie sprachen: „Bring uns Allahs Strafe, wenn du die Wahrheit sagst.“ Er sprach: „Mein Herr, hilf mir gegen das Volk, das Unheil anrichtet [mufsidîn].“

Koran 29:28-30

Über das Wort – nâdin – Versammlung – schreibt G. Lüling:

[…] der Stamm ndw [hat] ganz allgemein eine außergewöhnlich hehre, im profanen wie auch im religiösen Bereich erhabene Bedeutung. Während der IV. und V. Stamm fast ausschließlich eine profane Erhabenheit umschreibt (‚edel, großmütig sein, sich freigiebig zeigen‘), zeigt besonders der Sprachgebrauch des Qur’âns selbst, aber auch die alte arabische Poesie, dass die Stämme I und III ihren bevorzugten Platz in der religiösen Terminologie haben, als die Verben, die in Sonderheit für den feierlichen Aufruf zur Besinnung, zum Glauben stehen, auch für die Anrufung Gottes (z. B. 11,42; 21,83 und oft) […].

G. Lüling, Über den Ur-Qur’ân, Seite 63

Unter der ‚Versammlung‘ ist daher wenigstens eine Ratsversammlung, wenn nicht sogar eine religiöse Versammlung kultischen Inhalts zu verstehen. Die Worte ‚ihr … zerschneidet den Weg‘ können bedeuten, dass die Angesprochenen den Weg, d.h. die Verbindung nach außen, zu anderen Menschen außerhalb der Stadt unterbrechen; darauf weist auch, dass die Leute Lot daran erinnern, dass sie ihm den Kontakt zu anderen Menschen untersagt haben (s. 15:70). Sie können aber auch aussagen, dass das Volk den Handels- und Reiseweg, der an der Stadt vorbeiführt und den es auch später noch gibt (s. 15:76), unterbrochen haben. Zu dem Ausdruck ‚ihr … zerschneidet den Weg‘ schreibt Muhammad Ali:

[…] qaT’us-sabîl ist nach Kf [kassâf von abûl-qâsim maHmûd ibn ‚umar az-zamachscharî] ‚die Arbeit von Räubern, die Menschen töten und sich deren Eigentum aneignen‘. JB [jâmi’ul-bayan fî tafsîril-qur’ân von mu’înud-dîn ibn Sâfiyud-dîn] fügt nach den Wörtern taqta’ûna`s-sabîl als Erklärung hinzu: ‚Denn sie ermordeten gewöhnlich die Vorbeikommenden und beraubten sie ihres Eigentums‘. Andere Kommentatoren geben ähnliche Erklärungen.

Muhammad Ali, The Holy Qur’ân, Seite 766

Welche Art von Verwerflichem die Leute in ihren Versammlungen begehen, wird im Qur’ân nicht weiter ausgeführt, außer dass Lot dafür die Strafe Gottes angekündigt hat. Der Vorwurf kann sich einerseits auf die gemeinsame Vorbereitung und Planung ihrer schlechten Taten (z. B. Wegelagerei) und ihres Übereinkommens, das Gastrecht für Fremde nicht anzuerkennen, beziehen. Wenn man ‚Versammlung‘ andererseits im kultischen Sinne verstehen will, so kann sich der Vorwurf auf ein frevelhaftes Ritual beziehen, das sich nicht auf den Glauben an den einen Gott gründet.

Und die Antwort seines Volkes war nur, dass sie [die einen zu den anderen] sagten: „Treibt sie hinaus aus eurer Stadt [qarya]. Denn sie sind Leute [unâs], die sich rein halten.“

Koran 7:82

Doch die Antwort seines Volkes war nur, dass sie [die einen zu den anderen] sagten: „Treibt Lots Anhänger [âl lûT] hinaus aus eurer Stadt [qarya]. Denn sie sind Leute [unâs], die sich rein halten.“

Koran 27:56

Die Antwort der Leute ist recht ungewöhnlich. Sie sagen: „Treibt sie aus eurer (nicht aber: treiben wir sie aus unserer) Stadt“. Daraus kann man nur schließen, dass Unruhe entstanden ist und es starke Interessen gibt, Lot und seine Anhänger auszuweisen. Einige befürworten zwar eine solche Aktion, wollen die Verantwortung dafür aber nicht übernehmen, solange formale Handhaben gegen ihn fehlen. Sie fordern daher andere auf, dies zu übernehmen. Seine Anhänger werden von ihnen als Leute beschrieben, die sich rein halten wollen. Das ist sicher spöttisch gemeint, wenn auch offensichtlich unter Verwendung eines Ausdruck, den Lot und seine Anhänger selbst verwenden; denn die Menschen in der Stadt verstehen ihr Tun sicher nicht als unrein. Worauf sich der Ausdruck ’sich rein halten‘ neben der allgemeinen Bedeutung ’sich einer untersagten Sache enthalten‘ beziehen kann, wird ersichtlich, wenn man dessen Gebrauch in der frühen Zeit des Alten Testaments berücksichtigt. Unter dem Stichwort ‚rein und unrein‘ heißt es u. a. in Reclams Bibellexikon:

In frühen alttest. Texten bezieht sich ‘r.’ [= rein] und ‘u.’ [= unrein] auf Hygiene- und Speisevorschriften (Richt 13, 4; 2 Sam 11,4). Bei den Profeten sind ‘r.’ und ‘u.’ umfassende religiöse-sittliche Kategorien. Unrein macht vor allem der Kult fremder Götter (Hos 5, 3; 6, 10; oft bei Ezechiel, z.B. Ez 20, 7).“

Reclams Bibellexikon, Seite 424 f.

Der Zusammenhang der beiden Verse, in denen der Ausdruck ’sich rein halten‘ vorkommt, zeigt, dass es hier nicht um Hygiene- und Speisevorschriften geht, sondern darum, dass sich Lot und seine Anhänger nicht am Tun der anderen Leute beteiligen. Man könnte daher auch davon ausgehen, dass damit der Kult fremder Götter gemeint ist, von dem sie sich fernhalten, wie die Fruchtbarkeitsreligionen jener Zeit in Kanaan.

Sie sprachen: „Wenn du nicht ablässt, Lot, so wirst du zu den Vertriebenen gehören.“ Er sprach: „Gewiss verabscheue ich euer Tun. Mein Herr, rette mich und die Meinen [ahl] vor dem, was sie tun.“

Koran 26:167-169

Bis zu diesem Zeitpunkt haben die Bewohner der Stadt Lot offensichtlich gewähren lassen. Um sich für die Zukunft eine formale Handhabe gegen ihn zu verschaffen, greifen sie zu der Forderung, seine Aktivitäten einzustellen, und kündigen ihm für den Fall der Zuwiderhandlung die Vertreibung an. Damit machen sie ihm deutlich, dass sein Aufenthalt als Fremder nur unter einschränkenden Bedingungen geduldet wird.

Die Gesandten

Die Gesandten sind zuerst bei Abraham:

[Abraham] sprach: „Was ist euer Auftrag, ihr Gesandten?“

Koran 15:57

[Abraham] sprach: „Was ist euer Auftrag, ihr Gesandten?“ Sie sprachen: „Wir sind entsandt zu einem sündigen [mujrimîn] Volk, auf dass wir Steine aus Ton auf sie niedersenden, bezeichnet von deinem Herrn für die, die das Maß überschreiten.“

Koran 51:31-34

Sie sprachen: „Wir sind entsandt zu einem sündigen Volk, Lots Anhänger [âl lûT] ausgenommen; sie alle sollen wir erretten, bis auf seine Frau. Wir bestimmten es. Sie gehört zu denen, die zurückbleiben.“

Koran 15:58-60

Und da unsere Gesandten Abraham die frohe Botschaft [von der Geburt eines Sohnes] brachten, sprachen sie: „Wir werden die Bewohner dieser Stadt [ahl hâdihî`l-qarya] vernichten; denn ihre Bewohner [ahl] sind Missetäter [Zâlimîn].“ [Abraham] sprach: „Doch Lot ist dort.“ Sie sprachen: „Wir wissen sehr wohl, wer dort ist. Wir werden ihn und die Seinen [ahl] sicherlich retten bis auf seine Frau, die zu denen gehört, die zurückbleiben.“

Koran 29:31-32

Und als die Furcht von Abraham gewichen war und die frohe Botschaft zu ihm kam, da stritt er mit Uns über Lots Volk. Denn Abraham war milde, mitleidig und weichherzig. „O Abraham, steh ab davon. Denn der Befehl deines Herrn ist schon ergangen, und über sie kommt eine unabwendbare Strafe.“

Koran 11:74-76

Die Gesandten kommen zu Lot:

Und als die Gesandten zu Lots Anhängern [âl lûT] kamen, da sprach [Lot]: „Ihr seid Leute, die man [in unserer gefährdeten Lage besser] verleugnet [qaum munkarûn].“

Koran 15:61-62

M. Hamidullah übersetzt, Seite 242: „[…] des gens insolites […]“ – ungewöhnliche Leute; Max Henning, Seite 248, sagt: „[…] fremde Leute.“ Die Antwort der Gesandten aber ist: „Nein, im Gegenteil, […]“ und unterstützt diese Wiedergabe nicht: Die Gesandten sind Lot ja fremd und – wenn sie, wie allgemein angenommen wird – Engel sind – ungewöhnliche Leute.

Rudi Parets Wiedergabe, Seite 184: „[…] verdächtige Leute“, trifft von der Antwort der Gesandten her eher zu („Wir sind mit der Wahrheit gekommen“). Denn verdächtig sind sie in zweifacher Hinsicht:

  • Aus Sicht der Bewohner der Stadt, weil sie sich an Lot, einen Fremden, wenden und seine Gäste sind
  • Aus Lots Sicht, weil er äußerst vorsichtig sein muss und ihre Gegenwart seine Lage weiter verschärfen kann. Denn jeder Kontakt zu Fremden ist ihm untersagt (s. 15:70).

Die hier gewählte Übersetzung berücksichtigt eher die Wortbedeutung und die Antwort der Gesandten: „Nein, im Gegenteil [verleugne uns nicht …]“, und sie betonen, dass sie mit der Wahrheit gekommen sind und um ihn und die Seinen zu retten.

Nach H. Wehr, Seite 1313, bedeutet ankara: „Nicht kennen wollen (hu j-n), nicht wissen wollen (von e-r S.); nicht anerkennen, in Abrede stellen, leugnen; verleugnen (etw.) […] verwerfen, missbilligen […]“.

Sie sprachen: „Nein, im Gegenteil. Wir sind zu dir gekommen mit dem, woran sie zweifelten. Wir sind zu dir gekommen mit der Wahrheit; und gewiss, wir sind wahrhaftig. So mache dich auf mit den Deinen [ahl] in einem Teil der Nacht und folge ihnen [als letzter]. Und niemand von euch wende sich um, sondern geht, wohin euch geboten wird.“

Koran 15:63-65

Und als die Gesandten zu Lot kamen, war er ihretwegen besorgt und fühlte sich um ihretwegen hilflos und sprach: „Das ist ein schlimmer Tag.“

Koran 11:77

Und als Unsere Gesandten zu Lot kamen, war er ihretwegen besorgt und fühlte sich um ihretwegen hilflos. Sie sprachen: „Fürchte dich nicht. Denn wir sind hier, um dich und die Deinen [ahl] zu retten bis auf deine Frau, die zu denen gehört, die zurückbleiben. Denn wir werden über die Bewohner dieser Stadt [ahlu hâdihî`l-qarya] ein Strafgericht vom Himmel niedergehen lassen, weil sie sündigten [yafsuqûna].“

Koran 29:33-34

Das Verhalten des Volkes nach Ankunft der Gesandten:

Und sie suchten, ihn von seinen Gästen abwendig zu machen. Da blendeten Wir ihre Augen [und sprachen]: „Kostet nun Meine Strafe und Meine Warnung.“

Koran 54:37

Die Aussage des Qur’âns, dass die Leute Lot von seinen Gästen abwendig zu machen suchten, und die Betonung Lots, dass die Gesandten seine Gäste sind (15:68), vor denen sie ihn nicht beschämen sollen, stellt ganz klar, worum es dem Volk geht: Es will Lot dazu bringen, seinen Gästen das Gastrecht zu entziehen, und es will ihm damit ‚Schande antun‘ (15:68) und ihn ‚in Schmach stürzen‘ (15:69). Damit tritt es ein in jener Zeit fundamentales Recht des Fremden – besonders in Gebieten mit unsicheren Wegen und feindseligen Gruppierungen – mit den Füßen und folgt blind nur seinen gegen Lot gerichteten Absichten. Ebenso verweist die Stelle (11:79) auf das Gastrecht. Aus diesem Grunde betont auch Muhammad Ali im Zusammenhang mit 15:69 dies:

„[…] Lot war ein Fremder unter den Sodomitern und, wie der Vers zeigt, war es ihm vom Volk verboten worden, Fremde als Gäste aufzunehmen oder ihnen Schutz zu geben.“

Muhammad Ali, The Holy Qur’ân, S.515

Unter dem Stichwort ‚Gastfreundschaft‘ führt Reclams Bibellexikon über das Gastrecht in der Zeit des Alten Testaments folgendes an:

[…] Der Reisende war in der Antike vielfach auf die G. [Gastfreundschaft] angewiesen, die ihm unentgeltlich Unterkunft und Verpflegung bot. Sie zu verweigern galt als Schande […], sie zu verletzen als Frevel […].

Reclams Bibellexikon, Seite 154 f.

Und die Bewohner der Stadt [ahlu`l-madîna] kamen frohlockend.

Koran 15:67

Offensichtlich, weil sie glauben, Lot selbst habe ihnen einen Anlass geliefert, ihre Absichten ihm gegenüber zu verwirklichen.

Er sprach: „Das sind meine Gäste; so tut mir nicht Schande an. Und fürchtet Allah und stürzt mich nicht in Schmach.“ Sie sprachen: „Haben wir dir nicht ein Verbot hinsichtlich anderer Menschen [wörtlich: der Welten, d.h. außerhalb der Stadt] auferlegt?“

Koran 15:68-70

Auch hier wird wieder deutlich, dass die Absicht der Leute in dem hier geschilderten Fall sich in erster Linie gegen Lot richtet, von denen dieser daher für sich Schmach und Schande befürchtet, und die Anwesenheit der Fremden in seinem Haus lediglich ein wohlfeiler Anlass dazu ist. Die Leute erinnern Lot daran, dass eine der Auflagen, unter denen ihm und seinen Anhängern der Aufenthalt in der Stadt zugestanden worden ist, darin bestehe, dass er zu anderen Menschen von außerhalb der Stadt keine Kontakte haben darf. Dadurch, dass Lot die Gesandten aufgenommen und ihnen das ihnen zustehende Gastrecht gewährt hat, hat er dagegen verstoßen und befürchtet Böses („Das ist ein schlimmer Tag“, 11:78, ein Tag, der schlimme Folgen haben wird). Aber auch angesichts seiner bedrängten Lage bleibt er rechtschaffen und verstößt nicht gegen ein in der damaligen Zeit für Reisende lebenswichtiges Grundrecht, das Gastrecht. Er kann und will sich nicht dem ungesetzlichen Verhalten der anderen anschließen, sondern hat den Gesandten mutig Schutz und Obdach gewährt, um sie vor den Leuten, denen das Gastrecht nichts bedeutet, die es mit Füßen treten und Reisende wohl auch ausrauben (29:29), zu schützen.

Er sprach: „Dies sind meine Töchter [nehmt sie als Garanten für mein und meiner Gäste Wohlverhalten], wenn ihr etwas tun wollt.“ Bei deinem Leben, in ihrer Trunkenheit irren sie hin und her.

Koran 15:71-72

Und sein Volk kam zornbebend zu ihm gelaufen; und schon zuvor hatten sie Böses verübt. Er sprach: „O mein Volk dies hier sind meine Töchter; sie sind reiner für euch. So fürchtet Allah und bringt nicht Schande über mich in Gegenwart meiner Gäste. Ist denn kein vernünftiger Mann unter euch?“ Sie antworteten: „Du weißt recht wohl, dass wir kein Anrecht auf deine Töchter haben, und du weißt auch, was wir wünschen.“

Koran 11:78-79

Zu diesen Versen sagt Muhammad Ali:

„Lot, so zeigt es sich in 1 Mose 19, 9 war in der Stadt ein Fremder: ‚Ist da einer als Fremdling hierhergekommen und will schon den Richter spielen‘, und da die Gesandten [ebenfalls] Fremde waren, wollten die Stadtbewohner ihm nicht erlauben, sie zu beherbergen. Lot bot seine Töchter als Geiseln an, damit es ihm erlaubt würde, seine Gäste bei sich zu behalten; denn nach (15:70) besaß er nicht die Genehmigung, irgendeinen Fremden in sein Haus kommen zu lassen: ‚Haben wir dir nicht ein Verbot hinsichtlich anderer Menschen auferlegt?‘, d. h. ihnen Schutz zu gewähren. Das kann von der ständigen Gefahr von Stammeskämpfen herrühren. […].“

Muhammad Ali, The Holy Qur’ân, Seite 453

Die Aussage, dass Lot auf seine Töchter verweist, verstehen viele Kommentatoren als Argument für ihre Vermutung, dass das Volk (die Männer und Frauen) die Gesandten zur Befriedigung ihrer sexuellen Absichten von Lot fordert. Sie gehen davon aus, dass die Gesandten Engel in der Gestalt von Männern sind. Manche sagen, dass sie junge Männer, andere, dass sie gutaussehende junge Männer seien (z. B. Yusuf Ali, The Holy Quran, Band 1, Seite 649 zu 15:67; ibn kathir, Band 2, Seite 451 zu 11:69-73, Seite 453 zu 11:77-79, Seite 554 zu 15:61-64; Muhammad Asad, Seite 327 zu 11:77, S. 389 zu 15:67). Diese Annahme ist frühestens bei dem jüdischen Schriftsteller Josephus (37 oder 38 – nach 100 n. Chr.) nachweisbar, der damit einer Tendenz folgt, die außerhalb der Schriften des Alten Testaments, des rabbinischen Schrifttums und damit außerhalb der vorherrschenden religiösen Tradition des Judentums liegt und deren Ursprung nicht bekannt ist. Sie hat sich über die christliche Tradition bis zu den Muslimen erhalten.

Der Qur’ân sagt nicht ausdrücklich, dass die Gesandten Engel sind. Doch schließen die klassischen Kommentatoren es aus dem Wort ‚Gesandte‘, das auch für Engel verwendet wird (s. Muhammad Asad, Seite 325). Und nur unter dieser Voraussetzung sind die Verse (51:32-34) verständlich. Über das Aussehen oder das Alter der Gesandten gibt es im Qur’ân keinen Hinweis. Jede dahingehende Äußerung lässt sich nicht aus ihm ableiten und ist reine Spekulation.

Es ist kaum vorstellbar, dass Lot seine Töchter den Leuten überantworten würde, damit sie sie missbrauchten (ebenso wenig wie man es sich in Bezug auf den Propheten Muhammad (S.) und seine Tochter oder einen der anderen Propheten vorstellen kann). Nach dem Wortlaut des Alten Testaments, das von ’seinen Schwiegersöhnen, die seine Töchter heiraten wollten‘ (1 Mose 19, 14) spricht, hat Lot sie diesen schon versprochen.

Ebenso ist die Annahme, dass das Volk die Gesandten für sexuelle Ausschweifungen fordert, nicht aus dem Wortlaut des Qur’âns zu belegen. Zudem ist es unverständlich, warum die Leute nicht auch die anderen Männer unter Lots Anhängern, zumal die jungen und gutaussehenden, oder gar Lot selbst begehren, wenn sie tatsächlich so hemmungslos auf gleichgeschlechtliche Befriedigung den Gesandten gegenüber versessen waren. Weiterhin bleibt unverständlich, welchen Grund ein Teil des Volkes, nämlich die Frauen (qaum = Volk, d.h. die Männer und Frauen des Volkes), gehabt haben soll, sich diesem Ansinnen anzuschließen; dem Wortlaut nach gehören sie zum Volk.

Lots Verweis auf seine Töchter wird damit erklärt, dass

  1. Lot sie dem Volk zur Heirat anbietet, um die Leute von ihrem sexuellen Ansinnen gegenüber den Gästen abzuhalten
  2. Lot damit bedeuten will, dass Frauen die für das Volk angemessenen Geschlechtspartner seien.

Die erste Annahme würde zu keinem befriedigendem Ergebnis führen, weil nur wenige Männer (entsprechend der Zahl der Töchter) eine Ehe eingehen könnten. Vor allem aber verweist die Antwort der Leute (11:79) diese Ansicht in den Bereich der Spekulation; sie sagen: „Du weißt doch, dass wir kein Recht [= mâ la-nâ fî banâti-ka min Haqq, nicht: sexuelles Interesse] auf deine Töchter haben, und du weißt auch, was wir wollen.“

Hans Wehr gibt für das Wort Haqq in Verbindung mit der Präposition fî auf Seite 276 die folgenden Bedeutungen an: „Recht, Anrecht, Anspruch, Rechtsanspruch (fî auf).“

Soweit Lots Töchter unverheiratet sind, haben die Leute grundsätzlich ein Recht darauf, sie zu ehelichen. Nur in dem Fall, dass diese bereits verheiratet sind, haben sie es nicht und gibt ihre Antwort einen Sinn. Doch muss wohl ausgeschlossen werden, dass Lot ihnen seine verheirateten oder verlobten Töchter zur Ehe anbietet, weil er damit gegen Gebote Gottes verstoßen würde und seiner Aufgabe, die Menschen auf den rechten Weg zu führen, nicht gerecht werden würde.

Wir wissen nichts Näheres über die sozialen Verhältnisse und die Auswirkungen des Gastrechts zur Zeit Lots. Doch könnte man aus den Versen schließen, dass die Leute nach ihrem Rechtsverständnis Lots Töchter nicht ehelichen konnten, weil Lot bei ihnen das Gastrecht in Anspruch nahm und er und seine Anhänger damit nicht die vollen Bürgerrechte besaßen, was gegebenenfalls einen solchen Kontrakt ausschließen würde, oder dass die Leute einer anderen Religionsgemeinschaft angehörten als die von Lot vertretene, was eine eheliche Verbindung unter Umständen ebenfalls nicht zulassen würde.

Einige Kommentatoren (Hinweise gibt es dazu bei Muhammad Asad, Seite 327 zu 11:78; Muhammad Ali, Seite 453, u. a.) beziehen den Ausdruck ‚Töchter‘ auf die Frauen im Volk, da Lot als Gesandter im übertragenen Sinne deren Vater sei. Auch dadurch wird die Antwort des Volkes nicht verständlicher: Denn die Männer in ihm haben ein Recht – sicherlich auch nach Ansicht Lots -, Frauen zu ehelichen. Muhammad Ali zu dieser Frage zu 11:77:

[…] Eine andere Ansicht ist, dass Lot seine Töchter zur Heirat anbot, da er dadurch kein Fremder mehr unter ihnen sein würde, sondern einer von ihnen. Einige Kommentatoren haben vorgeschlagen, dass Lot nicht auf seine eigenen Töchter verwies, sondern auf die Frauen des Stammes, weil ein Prophet von den Frauen seines Stammes als von seinen Töchtern sprechen würde (Rz [= at-tafsîrul-kabîr von fachrud-dîn râzî], JB [= jâmi’ul-bayân fî tafsîril-qur’ân von mu’înud-dîn ibn Sâfiyud-dîn]), und in diesem Falle nur auf die natürliche Beziehung von Mann und Frau verwiesen hätte. Die Antwort seines Volkes scheint sich jedoch auf seine Töchter zu beziehen.

Muhammad Ali, Seite 453 f.

Ganz generell spricht gegen die Annahme, dass das Volk gegenüber Lots Gästen sexuelle Absichten hege, der Wortlaut des Qur’âns, der eine solche Aussage nicht macht. Damit entfällt auch die zweite oben angeführte Annahme. Zudem ist die Antwort der Gesandten an Lot (11:81): „Sie sollen dich [= Lot] nicht erreichen [mit ihren bösen Absichten]“, d. h. das Volk verfolgt gegenüber Lot bestimmte Absichten, nicht aber gegenüber den Gesandten. Wenn Lot vertrieben wird, kann er als Folge allerdings das Gastrecht gegenüber seinen Besuchern nicht ausüben. Deshalb fühlt er sich ihretwegen besorgt und hilflos (11:77).

Die naheliegendste Erklärung auf Grund des Wortlautes des Qur’âns ist sicherlich, dass Lot versucht, sein Wohlverhalten und das seiner Gäste mit dieser Geste zu bekräftigen und das Recht der Fremden auf Gastfreundschaft zu betonen, und er dabei an die Einsicht vernünftiger Menschen appelliert (11:78). Außerdem betont er mit dem Hinweis auf seine Töchter die Gleichwertigkeit von Frauen und Männern auch als Garanten.

Denn, wenn die Leute sagen, dass sie auf die Töchter Lots keinen Rechtsanspruch haben, als Lot sie ihnen als Austausch für die Sicherheit seiner Gäste anbietet, bedeutet das auch, dass die Frauen in ihren Augen nicht rechtsfähig sind, nicht als Garanten akzeptiert werden können, Frauen bei ihnen rechtlos, wenigstens von minderem Rechtsstatus sind.

Mit anderen Worten: Dass das Volk die Töchter nicht als Garanten akzeptiert, kann von daher nur bedeuten, dass der Status der Frauen in dem sozialen Verbund der Stadt außergewöhnlich gering ist. Mit ihnen kann Lot daher ihrem Rechtsanspruch auf Garanten oder Geiseln nicht genügen. Für diese Deutung spricht auch, dass die Leute bei Verfolgung ihrer materiellen Bestrebungen (= ‚Begehren‘) sie unbeachtet lassen und diese Geschäfte nur von Männern abwickeln lassen, obwohl Gott sie für sie als Gefährten und Partner erschaffen hat (26:165-166).

Es ist auch eine andere Erklärung möglich: Lot ist nur unter eingeschränkten Rechten ein Aufenthalt in der Stadt zugestanden worden. So ist es ihm untersagt, Kontakt mit Fremden außerhalb der Stadt aufzunehmen (15:70). Für die Bewohner der Stadt bedeutet das offensichtlich, dass er Fremden gegenüber auch nicht das Gastrecht ausüben darf. Aus ihrer Sicht kann er daher seine Zuwiderhandlung nicht dadurch folgenlos für sich machen, dass er auf seine Töchter als Garanten verweist, und sie lehnen es ab, auf seinen Vorschlag einzugehen, weil sie unter diesem Aspekt keinen Rechtsanspruch auf sie für sich ableiten können und wollen.

Und sein Volk kam zu ihm gelaufen; und schon zuvor hatten sie böse Taten [sayyi’ât] verübt. Er sprach: „Mein Volk, dies sind meine Töchter; sie sind reiner für euch. So fürchtet Allah und bringt mich nicht hinsichtlich meiner Gäste in Schande. Ist denn kein vernünftiger Mann unter euch?“

Koran 11:78

Das Volk kommt – wie schon früher – in böser Absicht zu ihm. Um seinen Gästen das Gastrecht zu sichern, bietet er seine Töchter als Garanten für das Wohlverhalten seiner Gäste mit der Begründung an, sie seien reiner als das Vorhaben, das den Fremden zustehende Gastrecht zu verletzen.

Sie sprachen: „Du weißt doch, dass wir kein Recht [ Haqq] auf deine Töchter haben, und du weißt, was wir
wollen.

Koran 11:79

Schon einmal haben sie ihm angedroht, ihn zu vertreiben, wenn er nicht von dem ablässt, was sie ihm untersagt haben.

Er sprach: „Hätte ich doch die Macht euch gegenüber, oder könnte ich mich nach einer starken Stütze wenden!“

Koran 11:80

Lot ist sich seiner gefährdeten Lage bewusst, als sein Versuch misslingt, die Leute zu besänftigen und die Einhaltung des Gastrechts für die Gesandten sicherzustellen. Selbst der Verweis auf seine Kinder, seine Töchter, und der Appell an vernünftige Männer im Volk führen zu nichts. In ihrer Blindheit wollen sie nicht auf Lots Angebot eingehen. Sie erinnern ihn daran, dass auch er wisse, was sie eigentlich von ihm wollen. Lot seinerseits weiß um seine schwache Position. Seine Äußerung: „Hätte ich doch die Macht euch gegenüber, oder könnte ich mich nach einer starken Stütze wenden!“ zeigt seine Hilflosigkeit ganz deutlich und führt den Leuten noch einmal vor Augen, dass er alleinsteht und daher der Auflage nachgekommen ist, von sich aus keine Kontakte zu Menschen außerhalb der Stadt aufzunehmen. Denn Unterstützung für sich und seine Mission kann er – wie die Situation sich darstellt – nicht in der Stadt finden, sondern nur außerhalb.

Und Wir ließen die Gläubigen, die dort waren, fortgehen. Allein, Wir fanden dort nur ein Haus von Muslimen. Und Wir hinterließen darin ein Zeichen für jene, die die qualvolle Strafe fürchten.

Koran 51:35-37

Lot und seine Anhänger, die Gläubigen bzw. Muslime, lebten in einem Haus zusammen. Vielleicht geschah es, weil die anderen sie dazu veranlassten und sie besser unter Kontrolle behalten wollten, sie gleichsam ghettoisieren wollten, vielleicht weil die Anhänger Lots selbst nur diesen Weg sahen, um einander besser zu beschützen und sich von dem Tun der anderen fernzuhalten. Und es zeigt, dass sie nur wenige Leute waren.

Sie sprachen: „Lot, wir sind Gesandte deines Herrn. Sie sollen dich nicht erreichen [mit ihren bösen Absichten]. So mache dich auf mit den Deinen [ahl] in einem Teil der Nacht, und niemand von euch wende sich um als deine Frau. Denn, was jene dort treffen wird, das wird sie [ebenfalls] treffen. Siehe, der Morgen ist ihre festgesetzte Frist. Ist der Morgen nicht nahe?“

Koran 11:81

Um Lot vor weiteren Bedrängnissen durch die Bewohner zu bewahren und ihn und die Seinen vor der Vernichtung zu retten, sollen sie die Stadt verlassen.

So mache dich auf mit den Deinen [ahl] in einem Teil der Nacht und folge ihnen [als letzter]. Und niemand von euch wende sich um, sondern geht, wohin euch geboten wird.

Koran 15:65

Die Vernichtung des Volkes

Und Wir verkündeten ihm diesen Ratschluss, dass die Wurzel jener abgeschnitten werden sollte am Morgen.

Koran 15:66

Und Lot war gewiss ein Gesandter, da Wir ihn und die Seinen [ahl] alle erretteten, bis auf eine alte Frau unter denen, die zurückblieben. Dann vernichteten Wir die anderen.

Koran 37:133-136

So erretteten Wir ihn und die Seinen [ahl] alle, bis auf eine alte Frau unter denen, die zurückblieben. Dann vernichteten Wir die anderen.

Koran 26:170-172

So erretteten Wir ihn und die Seinen [ahl] bis auf seine Frau; sie gehörte zu denen, die zurückblieben. Und Wir ließen einen gewaltigen Regen über sie niedergehen. Nun sieh, wie das Ende der Sünder war!

Koran 7:83-84

So erretteten Wir ihn und die Seinen [ahl] bis auf seine Frau; sie ließen Wir unter denen, die zurückblieben. Und Wir ließen Regen über sie niedergehen; und schlimm war der Regen den Gewarnten.

Koran 27:57-58

Alle Anhänger Lots folgen der Aufforderung, die Stadt zu verlassen. Nur seine Frau/eine alte Frau bleibt mit den anderen zurück. Die Erwähnung dieser Frau und die Tatsache, dass Frauen zu dem Volk gehören, zeigt zudem, dass der Grund für die Bestrafung des Volkes nicht in irgendwelchen homosexuellen Aktivitäten der Männer zu suchen ist, sondern in anderen Taten, denen sich diese Frau auch verbunden fühlt, so dass sie nicht mit Lot geht.

Das Volk Lots erklärte die Warnungen als Lüge. Da sandten Wir einen Sandsturm über sie außer über die Anhänger Lots [âl lûT], die Wir im Morgengrauen erretteten als eine Gnade von Uns. So belohnen Wir den, der dankbar ist. Und er hatte sie vor Unserer Strafe gewarnt, sie aber bezweifelten die Warnungen.

Koran 54:33-36

Als Unser Befehl eintraf, da kehrten Wir in dieser [Stadt] das Oberste zuunterst [ja’al-nâ ‚âliya-hâ sâfila-hâ] und ließen auf sie Steine aus Ton niederregnen Schicht auf Schicht. Gezeichnet [für sie] bei deinem Herrn. Und das ist nicht fern von den Frevlern [Zâlimîn].

Koran 11:82-83

Da erfasste sie der Schrei bei Sonnenaufgang. Und Wir kehrten das Oberste zuunterst [ja’al-nâ ‚âliya-hâ sâfila-hâ] und ließen auf sie Steine aus Ton niederregnen.

Koran 15:73-74

Und in der Morgenfrühe ereilte sie eine dauernde Strafe. „So kostet Meine Strafe und Meine Warnung.“

Koran 54:38-39

Und Wir haben davon ein klares Zeichen zurückgelassen für Leute, die verstehen.

Koran 29:35

Über die religiösen Verhältnisse in der Stadt wird wenig mitgeteilt. Jedoch zwei Verse im Anschluss an die Geschichte Lots in Sura 27 sind aufschlussreich:

Sprich [Muhammad]: „Aller Preis gebührt Allah, und Frieden sei über jenen seiner Diener, die Er auserwählt hat. Ist Allah besser oder die Götter, die sie [Ihm] an die Seite stellen? Wer hat denn Himmel und Erde erschaffen, und wer sendet Wasser für euch vom Himmel nieder, durch das Wir prachtvolle Gärten sprießen lassen? Ihr vermögt nicht, ihre Bäume sprießen zu lassen. Gibt es einen Gott neben Allah? Nein, sondern sie sind ein Volk, das [Ihm Götter] gleichsetzt [oder: das (vom rechten Weg) abweicht].“

27:59-60

Wenn man diese Verse in enger Verbindung zu der Geschichte Lots liest, weisen sie darauf hin, dass das Volk Götzendienst ausübte oder wenigstens von ihm im religiösen Leben stark beeinflusst war. Die Tatsache, dass der Qur’ân die Anhänger Lots als Gläubige und Muslime bezeichnet (51:35-36), nicht aber das übrige Volk, weist in die gleiche Richtung.

Lots Geschichte im Vergleich zu der anderer Gesandter

Die Zerstörung der Stadt, in der Lot eine Zeitlang lebte, war in der Menschheitsgeschichte kein einmaliges Geschehen und muss nicht die Folge irgendwelcher sexueller Missetaten gewesen sein wie andere Berichte im Qur’ân zeigen. Andere Städte und Völker wurden nach dem Qur’ân ebenfalls und aus anderen Gründen vernichtet und die Propheten und ihre Anhänger zuvor gerettet. In der 7. Sura, in der auch über Lot und sein Volk berichtet wird, heißt es z. B. über

  • Noah und sein Volk (7:64):
    Doch sie leugneten ihn, dann erretteten Wir ihn und die bei ihm waren in der Arche, und ließen jene ertrinken, die Unsere Zeichen verwarfen. Sie waren gewiss ein blindes Volk.
  • hûd und das Volk ‚âd (7:72):
    Sodann erretteten Wir ihn und die mit ihm waren durch Unsere Barmherzigkeit, und Wir schnitten den letzten Zweig derer ab, die Unsere Zeichen leugneten und nicht Gläubige waren.
  • SâliH und das Volk thamûd (7:76-78):
    Da sprachen die Hoffärtigen: „Wir glauben nicht an das, woran ihr glaubt.“ Dann erfasste sie das Erdbeben, und am Morgen lagen sie in ihren Wohnungen auf dem Boden hingestreckt.
  • schu’aib in madyân (7:91-92):
    Dann erfasste sie das Erdbeben, und am Morgen lagen sie in ihren Wohnungen hingestreckt. Jene, die schu’aib der Lüge beschuldigt hatten, wurden, als hätten sie nie darin gewohnt – sie waren die Verlorenen.

Dann heißt es über diese Städte:

Nie sandten Wir einen Propheten in eine Stadt, ohne dass Wir ihre Bewohner mit Not und Drangsal heimsuchten, auf dass sie sich demütigen mögen. Darauf verwandelten Wir den üblen Zustand in einen guten, bis sie anwuchsen und sprachen: „Auch unsere Väter erfuhren Leid und Freude.“ Dann erfassten Wir sie unversehens, ohne dass sie es merkten. Hätte aber das Volk der Städte geglaubt und wären sie rechtschaffen gewesen, so hätten Wir ihnen ganz gewiss vom Himmel und von der Erde Segnungen eröffnet. Doch sie bezeichneten [die Gesandten] als Lügner; so erfassten Wir sie um dessentwillen, was sie sich erwarben. Sind die Bewohner der Städte sicher, dass Unsere Strafe nicht über sie kommt zur Nachtzeit, während sie schlafen? Oder sind die Bewohner der Städte sicher, dass Unsere Strafe nicht über sie kommt zur Mittagszeit, während sie beim Spiel sind?

Koran 7:94-98

Dies sind die Städte, deren Kunde Wir dir gegeben haben. Ihre Gesandten waren zu ihnen gekommen mit deutlichen Zeichen. Allein sie mochten nicht an das glauben, was sie zuvor als Lüge bezeichnet hatten. Also versiegelte Allah die Herzen der Ungläubigen. Und bei den meisten von ihnen fanden Wir kein Worthalten, sondern fanden die meisten von ihnen als Frevler [fâsiqîn].

Koran 7:101-102

Ähnliches finden wir in der 11. Sura. Abschließend heißt:

Das ist von der Kunde der [bestraften] Städte, die Wir dir erzählen. Manche von ihnen stehen noch aufrecht da, und [manche] sind niedergemäht worden. Nicht Wir taten ihnen Unrecht, sondern sie taten sich selber Unrecht an; und ihre Götter, die sie statt/neben Allah anriefen, nützten ihnen ganz und gar nichts, als deines Herrn Befehl eintraf; sie mehrten nur ihr Verderben. Also ist der Griff deines Herrn, wenn Er die Städte erfasst, weil sie freveln [Zâlima]. Wahrlich, Sein Griff ist schmerzhaft und streng.

Koran 11:100-102

Zusammenfassung

Eine Reihe von Fragen, die der Bericht des Qur’ân aufwirft, müssen unbeantwortet bleiben. Es ist u.a. nicht klar,

  • warum Lot sich von Abraham trennt und gerade in diese Stadt geht,
  • warum er der ‚Bruder‘ (26:161) seines Volkes genannt wird, obwohl er ein Fremder unter ihnen ist
  • was mit ihm und seinen Anhängern nach der Vernichtung der Stadt und ihrer Bewohner geschieht.

Das Volk bzw. die Leute, bei denen Lot und seine wenigen Anhänger leben, sind die Bewohner einer Stadt, die im Qur’ân ungenannt bleibt und unter der man sich eine Art Stadtstaat mit einer Ratsversammlung vorzustellen hat. Der religiöse Hintergrund dieser Menschen wird aus den Aussagen Lots nicht deutlich. Lots Betonung, dass er für sich keinen Lohn – außer bei Allah – erwarte, lässt die Annahme zu, dass er dort bezahlte, für den sakralen Bereich zuständige Leute vorfindet. Darüber hinaus weisen die Verse im Anschluss an seine Geschichte auf eine Form des Götzendienstes.

Im Unterschied zum Alten Testament, das nur von den Männern spricht, verwendet der Qur’ân zur Bezeichnung von Lots Volk das Wort qaum, das im Zusammenhang mit Propheten jeweils die Männer und Frauen eines Volkes umfasst. Damit wird einer einseitig homosexuellen Interpretation der Geschichte von Lot weiterer Boden zu entzogen (es hat aber nicht verhindern können, dass Muslime sich des alten Interpretationsmusters bedienten). Auch wird dadurch der eigentliche Grund für Lots Verweis auf seine Töchter deutlicher hervorgehoben: Er bietet sie als gleichwertige Garanten für seine Gäste an.

Lot erklärt sich den Leuten als zuverlässigen Gesandten Gottes und ruft sie zur taqwa, Gottesfurcht, Rechtschaffenheit, auf und zum Gehorsam sich gegenüber. Er wendet sich gegen etwas Abstoßendes, das vor diesen Leuten noch niemand begangen habe, und er tadelt, dass sie alle bei einem ‚Begehren‘ zu den Männern kommen, nicht jedoch zu den Frauen. Außerdem sollen sie Vorüberziehende, d.h. Reisende überfallen und ausrauben, statt ihnen das Gastrecht zu gewähren. Verwerfliches begehen sie auch in ihren Versammlungen, indem sie dort Aktionen beschließen, die den damals akzeptierten Grundrechten zuwiderlaufen. Sie sind ein unwissendes, übertretendes, jedes Maß überschreitendes und Unheil anrichtendes Volk.

Lot wird von den Stadtbewohnern zum Lügner erklärt, was seine Mission betrifft. Er und seine Anhänger werden als ‚Leute, die sich reinhalten‘ wollen, bezeichnet. Das ist sicherlich spöttisch gemeint, gibt andererseits wohl auch das Selbstverständnis von Lot und den Seinen – den Muslimen bzw. Gläubigen – wieder und verdeutlicht, dass sie sich von den anderen in bestimmten Bereichen fernhalten.

Die Bewohner der Stadt bilden offenbar eine Gemeinschaft, die nicht tolerieren kann, dass es Widerstand gegen bestimmte Aspekte ihrer Lebensform gibt, so dass Lot mit seinen Anhängern nur die Möglichkeit bleibt, in einem Haus zusammenzuleben, wenn sie sich davon fernhalten wollen. Zur Aufrechterhaltung ihrer besonderen sozialen und/oder kultischen Verhältnisse beschuldigen die Leute Lot der Lüge.

Lots Wirken offenbart die unduldsame Haltung der Bevölkerung und führt dazu, dass die Leute einander anstacheln, ihn aus der Stadt zu vertreiben. Niemand will zunächst dafür die Verantwortung übernehmen, da der Anlass anscheinend nicht ausreichend für eine solche Maßnahme ist. Doch wird ihm – wohl um für die Zukunft nicht ohne formale Handhabe ihm gegenüber zu sein – jede weitere Aktivität unter Androhung der Vertreibung untersagt. Außerdem darf er keinen Kontakt zu Außenstehenden aufnehmen. Damit soll offensichtlich verhindert werden, dass er Unterstützung und Schutz außerhalb der Stadt sucht. Als Folge dieser Maßnahmen macht sich jeder Fremde verdächtig, der sich an ihn wendet oder gar als Gast zu ihm kommt. Diese Situation legt Lot äußerste Umsicht und Vorsicht im Umgang mit Fremden auf; denn jeder Besucher kann seine Lage unhaltbar machen.

Er befindet sich in einer schier ausweglosen Lage: Verhält er sich ruhig entsprechend den Auflagen der Stadt, so wird er seiner Aufgabe als Gesandter Gottes nicht gerecht, die Menschen zum rechten Weg aufzurufen. Setzt er hingegen seine Arbeit offen fort, so gefährdet er seine Sicherheit und die seiner Anhänger; und wird er infolgedessen vertrieben, so kann er ebenfalls seine Aufgabe bei diesen Menschen nicht mehr erfüllen. Unter diesen schwierigen Gegebenheiten kommen die Gesandten zu ihm. Er kann und will ihnen das ihnen zustehende Gastrecht nicht vorenthalten und nimmt sie auf. Ihm sind die Folgen bewusst, sagt dies auch seinen Gästen und erklärt ihnen seine Hilflosigkeit in dieser gefährdeten Lage.

Froh über diesen ‚Verstoß‘ gegen ihre Auflagen kommen die Bewohner der Stadt zu ihm geeilt und wollen ihre Absichten ihm gegenüber verwirklichen. Zunächst suchen sie ihn zu veranlassen, sich von seinen Gästen abzuwenden und ihnen das Gastrecht zu entziehen, und wollen ihn auf diese Weise bloßstellen und in Schande stürzen. Denn gibt Lot nach, so setzt er sich vor seinen Gästen ins Unrecht, straft vor allen Leuten seinen Anspruch Lügen, ein zuverlässiger, vertrauenswürdiger Gesandter zu sein, und bestätigt damit den Vorwurf, ein Lügner gegenüber seiner Mission zu sein. Weigert er sich, muss er mit den angekündigten Gegenmaßnahmen rechnen. In dieser ausweglosen Situation versucht er, die Leute zum Einlenken zu bewegen, zumindestens die vernünftigen unter ihnen, verweist auf seine Töchter und bietet sie als Garanten für sein und seiner Gäste Wohlverhalten an. Doch die Leute sind blind und trunken angesichts dieser günstigen Gelegenheit, sich seiner zu entledigen. Sie sehen nur die formalen Aspekte von Lots Verstoß, nicht aber die Unrechtmäßigkeit ihres eigenen Verhaltens. Sie lehnen folglich seinen Vorschlag ab und verweisen darauf, dass sie keinen Anlass sehen, aus seinem Verstoß gegen ihr Verbot ein Recht auf seine Töchter abzuleiten.

Die Gesandten hingegen versichern Lot, dass die Bewohner der Stadt ihn mit ihren Absichten nicht erreichen werden, sondern er sich zuvor von sich aus mit den Seinen aus der Stadt entfernen soll. Dann wird sie mit allen verbliebenen Bewohnern vernichtet.

Die Verse über Lot und sein Volk und der Sodom-Mythos

Unter dem Sodom-Mythos wird hier die unter Christen und Muslimen gängige Vermutung verstanden, dass Lot bei einem Volk lebte, in dem die Männer durchweg homosexuell gewesen seien, eine Annahme, die unter Berücksichtigung von Evolution und Biologie absurd ist. Diese Situation könnte daher nur durch ein „Wunder“ entstanden sein, ein Begriff, den der Qur’ân nicht kennt. Und ein „Wunder“ könnte ja nur von Allah veranlasst worden sein, und damit wären die Männer für ihr Verhalten nicht verantwortlich.

Wie ist es möglich, dass – wie die Sodom-Mythos-Anhänger annehmen – der männliche Teil der Bevölkerung homosexuell gewesen sei? Homosexualität ist nach allem, was wir wissen, keine Krankheit, die vielleicht durch Viren, Pilze, Bakterien oder andere Erreger übertragen werden könnte. Die Antwort darauf ist für Muslime, die der traditionellen Interpretation folgen, besonders schwierig: Sie gehen gemäß ihrer Qur’ân-Interpretationen davon aus, dass es zuvor keine Homosexualität gegeben habe. Wie entstand diese Homosexualität? Über veränderte Erbeigenschaften bei einem Individuum, vielleicht sogar dominante? Es würde selbst dann eine Unzahl Generationen dauern, bis sie sich durchgesetzt hätte, zumal zudem homosexuelle Männer andere Männer als Geschlechtspartner vorziehen, so dass eine Weitergabe dieser Eigenschaft sehr spärlich sein würde. Und woher kamen die Frauen, von denen der Qur’ân spricht? Und wie konnte die Bevölkerung eine Stadt füllen – sie müsste eigentlich allmählich ausgestorben sein? Und Homosexualität müsste zudem mit der Vernichtung dieser Stadt beendet sein.

Über die Lage oder Überreste der Stadt Sodom gibt es keine wissenschaftlichen Erkenntnisse. Im Archäologisches Bibel-Lexikon heißt es dazu:

Die Versuche S. [= Sodom] zu lokalisieren, blieben bislang ohne Erfolg. Es wurde am Süd- oder Nordende des Toten Meeres vermutet und sogar auf seinem Boden. Der Name „S.“ hat sich in dem arabischen Gebel Usdum, einem Bergrücken aus Salz nahe dem Südwestufer des Toten Meeres erhalten.

Archäologisches Bibel-Lexikon, Hrsg. Avraham Negev, S. 412

Mit anderen Worten: Wir wissen nichts über die Stadt, und da selbst ihre Lage unbekannt ist, gibt es auch keine Schrift- oder sonstigen Funde, die über das soziale Leben Auskunft geben könnten. Was über sie und ihre Bewohner später erzählt wurde, ist damit nichts als bloße Spekulation. Die älteste Bezugnahme auf Lot und seine Stadt ist im Alten Testament der Bibel zu finden. Im Neuen Testament spricht Jesus nur von der fehlenden Rücksichtnahme auf das Gastrecht dort (Matthäus 10,11–15, Matthäus 11,23–24, Lukas 10,10–12).

Die Vorstellung, dass die Bevölkerung in Lots Stadt homosexuelle Wünsche an Lots Besucher richtete, erwies sich als eine sehr phantasievolle, aber falsche Interpretation eines einzigen Wortes in nur einem Vers im 1. Buch Mose (1 Mose 19, 5, = Gen. xix. 5, siehe Derrick Sherwin Bailey, Homosexuality and Western Christian Tradition, 1955, auf Seite 1-8). Bailey (1910 – 1984) war ein Anglikanischer Theologe mit überzeugenden und klaren linguistischen und kontextuellen Argumenten. Er erwähnt auch, dass alle Bezugnahmen auf Lots Stadt in den anderen Büchern des Alten Testaments nie von einem sexuellen Fehlverhalten der Menschen in Lots Stadt sprechen. In der englisch-sprachigen Wikipedia heißt es u.a. über Bailey:

… Anerkannt als führender Experte der Kirche für Sexualethik, … halfen Baileys Schriften der Church of England, auf die theologische Frage der Homosexualität, auf die Homosexuellen selbst sowie auf die Gesetze Englands zu reagieren. Diese Periode von 1954 bis 1955 im Moral Welfare Council lieferte wichtige konzeptionelle Leitlinien für spätere Diskussionen über Homosexualität, nicht nur in der Church of England, sondern im gesamten Christentum.

Wikipedia

Zu diesem Vers sagt Bailey:

Der Vers, der bisher oft als Hinweis auf homosexuelles Ansinnen verstanden wurde, ist 1 Mose, 5: 5 Sie riefen Lot und sagten: ‚Wo sind die Männer, die heute abend zu dir gekommen sind? Bringe sie zu uns heraus, damit wir sie erkennen!‘

Die herkömmliche Auffassung von der Sünde Sodoms […] rührt von der Tatsache her, dass das Wort, das hier mit ‚erkennen‘ (yâdha‘) übersetzt ist, ‚geschlechtlich verkehren‘ bedeuten kann. Ist das in diesem Passus gemeint?

Das [hebräische] Verb yâdha‘ kommt sehr häufig im Alten Testament vor [in der Fußnote: Nach F. Brown, S. R. Driver und C. A. Briggs, A Hebrew and English Lexikon of the Old Testament (Oxford, 1952), 943 mal], doch mit Ausnahme dieses Textes und seiner unzweifelhaften Ableitung in Richter 19,22 wird es nur zehnmal (ohne Einschränkung) gebraucht, um Geschlechtsverkehr zu bezeichnen [in der Fußnote: 1 Mose 4, 1, 17, 25; 19, 8; 24, 16; 38, 26; Richter 11, 39; 19, 25; 1 Samuel 1, 19; 1 Könige 1, 4.]. In Verbindung mit mishkâbh, das in diesem Zusammenhang den Vorgang des Liegens bezeichnet, kommt yâdha‘ an fünf weiteren Stellen vor [in der Fußnote: 4 Mose 31, 17, 18, 35; Richter 21, 11 […], 12 […] ]. Auf der anderen Seite findet man shâkhabh (von dem mishkâbh herkommt) etwa fünfzigmal in der Bedeutung ‚liegen‘ im geschlechtlichen Sinne. Während yâdha‘ sich immer auf heterosexuellen Geschlechtsverkehr bezieht (wenn man zunächst die kontroversen Stellen 1 Mose 19, 5 und Richter 19, 22 außer Betracht lässt), wird shâkhabh überdies sowohl für homosexuellen Geschlechtsverkehr als auch den mit Tieren verwendet zusätzlich zu dem zwischen Mann und Frau.

So findet man yâdha‘ also nur ausnahmsweise im geschlechtlichen Sinne gebraucht […]. Linguistische Betrachtungen allein unterstützen daher [… die Ansicht], dass es hier nichts weiter als ‘kennenlernen’ bedeuten kann. Warum wurde dann aber eine anscheinend vernünftige Forderung auf so heftige Art und Weise vorgebracht? Was für eine Schlechtigkeit war es, die Lot erwartete und von der er die Sodomiter abbringen wollte? […] Unsere Unkenntnis der lokalen Gegebenheiten und sozialen Verhältnisse lässt uns keine andere Möglichkeit als die Motive zu erraten, die dem Verhalten der Sodomiter zugrunde liegen; da aber yâdha‘ meistens ‘kennenlernen’ bedeutet, kann die Forderung, die Besucher, die Lot bewirtete, ‘zu erkennen’, gut einen ernsthaften Bruch der Regeln des Gastrechts [wörtlich: hospitality = Gastfreundschaft] eingeschlossen haben. […]

Derrick Sherwin Bailey, Homosexuality and the Western Christian Tradition, S. 2

Spricht der Text des Qur’âns für oder gegen den Sodom-Mythos?

In keinem Vers über Lot und sein Volk wird gesagt, dass das sexuelle Interesse der Männer im Volk homosexuell ist oder sich auf Lots Gäste richtet. Jedoch ergänzen die muslimischen Anhänger des Sodom-Mythos beim Lesen einiger Verse des Qur’âns diese entsprechende Vorstellungen ziemlich willkürlich. Im Gegenteil, an allen vier Stellen, in denen Lot sein Volk tadelt, stehen als Einleitung zum Zitat von Lot dieselben Worten: „und (gedenke) Lots, als er zu seinem Volk (allen Männern und Frauen) sprach“,

“wa lûTan id qâla li-qaumi-hi” (و لوطا اذ قال لقومه)

„und (gedenke) Lots, als er zu seinem Volk (allen Männern und Frauen) sprach“,

In mehreren Koranversen

Es wird in diesem Vers unübersehbar gesagt, dass Lot zu „seinem Volk“ sprach, den Männern und Frauen unter ihnen. Somit werden beide Gruppen mit denselben Worten Lots getadelt werden. Welchen Sinn macht der Vorwurf, dass die Frauen zu den Männern kommen und nicht zu den Frauen? Sollen sie statt zu den Männern zu den Frauen kommen? Hieraus wird deutlich, dass hier kein sexuelles Verhalten gemeint sein kann. Denn das wichtigste Prinzip bei der Interpretation des Qur’âns ist, dass die Bedeutung aus dem Qur’ân heraus gesucht werden sollte und niemals eine Passage so interpretiert werden sollte, dass sie im Widerspruch zu anderen steht.

Der Einfluss der mawâlî (konvertierte Christen und Juden) auf die Muslime

In der Literatur finden wir einige eindrucksvolle Beschreibungen über deren zahlreichen Aktivitäten in der Frühzeit der muslimischen Geschichte.

„Die Clienten [= mawâlî] verstanden es in der That, die Araber zu überholen, denn sie waren die ersten, welche die gelehrten Studien pflegten und sich hiedurch ein immer zunehmendes Ansehen errangen. Sie aktivirten mit besonderer Vorliebe die theologischen und juridischen Studien und vermittelten den Import fremder Ideen in den Islam. So kam durch jüdische Proselyten die so sehr an den Talmud erinnernde Gewohnheit des Commentirens des heiligen Buches, die Vorliebe für die Tradition und deren Sammlung, der spitzfindige in Kleinigkeiten so gerne sich breit machende und wichtig thuende Ton der Schulmeisterei in die arabische Literatur.“

Alfred von Kremer, Kulturgeschichte des Orients, Band 2, Seite 158 f.

„Seit langem ist bekannt, wie kräftig die Entwicklung hebräischer Philologie unter den Juden im Mittelalter durch das Vorbild arabischer Grammatiker stimuliert wurde, und wie tief die muslimische Theologie und Philosophie das jüdische Denken jener Periode beeinflußte. Dass der Prozeß, der weit davon entfernt war, einseitig zu sein, wechselseitig war, dass der Mohammedanismus vom Judentum wenigstens ebenso viel erhielt wie er ihm gab – und wir sprechen hier nicht vom biblischen Judentum, sondern in erster Linie von seiner rabbinischen Erweiterung jenes unermeßlichen Überbaus von Gesetz und Legende, der auf den hebräischen Schriften beruhte, der in der Literatur des Talmud [religionsgesetzliches Sammelwerk] und Midrasch [erbauliche Auslegungen alttest. Bücher durch jüdische Schriftgelehrte vom 2. bis 6. Jh. n. Chr.] eingeschlossen ist. […] Einiges wenigstens hat eine deutliche christliche Färbung und muß in den Gesichtskreis der Muslime durch die Schriften des Klerus der Syrischen Kirche gekommen sein, der es seinerseits von den Juden übernahm. Es bleibt jedoch genug, das man nur als das Ergebnis persönlichen Kontakts mit Juden erklären kann, von denen es während des neunten und zehnten Jahrhunderts der üblichen Zeitrechnung, dem goldenen Zeitalter der arabischen Kultur, eine breite, fest gegründete und gut informierte arabisch sprechende Gemeinschaft im Zentrum der mohammedanische Zivilisation gab, nämlich im Irak und insbesondere in seiner Hauptstadt, dem Sitz des Kalifats Bagdad, wo man leicht von den maßgeblichen Vertretern und Interpreten des Judentums die erforderlichen Informationen über seine Überlieferungen erhalten konnte. […] Die mohammedanischen Legenden über biblische Gestalten können daher nicht als das Resultat eines unabhängigen Studiums des Alten Testaments seitens der Muslime entstanden sein, sondern sie müssen körperlich von rabbinischer Überlieferung übernommen worden sein. Dass die Autorität der Juden im Hinblick auf diese Überlieferungen den Muslimen uneingeschränkt akzeptabel war, wird ausdrücklich in fast allen Werken mohammedanischen Hadîths festgestellt, und dass jüdische Gelehrte zu diesem Zweck konsultiert wurden, wird durch Tabari und andere bezeugt. […].“

Samuel Rosenblatt, Rabbinic Legends in Hadîth, The Moslem World 35 (1945), Seite 237-252, auf Seite 251-252

[…] Von Anfang an waren Juden, die in den Schriften bewandert waren (‚Habr‘ [Pl. ‚aHbâr‘] = hebräisch ‚Haber‘), von großer Bedeutung, für solche Details zu sorgen; […].

Diese aHbâr nehmen eine wichtige Position auch als Quelle für Informationen in Bezug auf den Islam ein. Es soll hier genügen, auf die vielen Lehren in den ersten beiden Jahrhunderten hinzuweisen, die unter den Namen ka’b al-aHbâr (st. 654) und WAHB IBN MUNABBIH (st. circa 731) aufgezeichnet sind. An erster Stelle verdankt der Islam diesen Quellen seine Ausarbeitung biblischer Legenden; viele dieser Ausarbeitungen sind in den kanonischen Hadîth-Werken enthalten. […]

Der Islam entlieh im Laufe seiner Entwicklung auch eine große Zahl gesetzlicher Vorschriften aus der jüdischen Halacha [religionsgesetzliche Vorschriften für Lebenswandel, Kultus und Ritus]. Die Bedeutung, die der ’niyya‘ (= ‚intentio‘) beigelegt wird bei der Ausübung der gesetzlichen Vorschriften, ruft auf den ersten Blick die Erinnerung an die rabbinische Lehre über ‚kawwanah‘ wach, auch wenn nicht alle Einzelheiten übereinstimmen. Die mohammedanischen Vorschriften, die das Schlachten betreffen, jene, die sich auf die persönlichen Qualifikationen des ‚Sohet‘ (arabisch: ‚DâbiH‘) beziehen, ebenso wie jene in Bezug auf die Einzelheiten des Schlachtens, zeigen klar den Einfluß der jüdischen Halacha, wie ein Blick in Gesetzbücher selbst beweist […]

The Jewish Encyclopedia, Band VI, Seite 656, unter dem Stichwort ‚Islam‘

[…] Die isrâ’îliyyât, d.h. Traditionen, in denen jüdischer Einfluß erkennbar ist. Der allgemeine orthodoxe Standpunkt ist, so lange wie die isnâde als gesund erklärt werden, dass Muhammad diese Äußerungen getan haben muss. Stets wird an diesem Punkt die Toleranz des Islams gegenüber den anderen monotheistischen Religionen betont. Andererseits haben Gelehrte, die den Hadîth einer erneuten Kritik unterziehen wollen, darauf hingewiesen, dass die zwei wichtigsten Übermittler von isrâ’îliyyât, ka’b al-aHbâr und wahb b. munabbih, auf subversive Weise versuchten, den Islam zu unterminieren, indem sie jüdische Elemente in seine Glaubensanschauungen einführten.“

G.H.A. Juynboll, The Authenticity of the Tradition Literature, Discussions in Modern Egypt, Seite 14

[…]

Die Verse über Lot und sein Volk ohne Berücksichtigung des Sodom-Mythos

Der Sodom-Mythos ist nichts weiter als eine Art Fabel, phantasievolle Erfindung, auf die sich die Generation der mawâlî als ehemalige Christen und Juden stützte. Diese Worte sind eine zu schwache Basis als Argument in einer Interpretation. So können wir uns nur an die Worte des Qur’âns halten. Die mawâlî, frühere Christen und Juden, die viele Jahrhunderte nach Lot lebten, bildeten sehr schnell die Mehrheit unter den frühen Muslimen. Sie wussten von den Zuständen in Lots Stadt genau so wenig, wie wir heute, da alle historischen Belege darüber fehlen.

Ein weiterer Hinweis, dass die Geschichte von Lot und seinem Volk nicht von Homosexualität handelt, sind die Worte im Qur’ân:

Und (gedenke) Lots, da er zu seinem Volk [qaum] (, den Männern und Frauen), sprach: Wollt ihr etwas Abstoßendes [al-fâHischa] begehen, worin keiner in aller Welt euch vorangegangen ist. Ihr kommt zu den Männern und zerschneidet den Weg? Und in euren Versammlungen begeht ihr Verwerfliches [al-munkar]?

Koran 29:28

Generell nimmt man die Lebenszeit Abrahams – und damit Lots – zwischen 2000 v. Chr. und dem 14./15. Jahrhundert vor Chr. an. Wir haben historische Beweise, Texte, über Menschen vor Lot, die homosexuelle Beziehungen miteinander hatten (Encyclopedia of Homosexuality, Stichwort “Egypt, Ancient”). Auch diese Offenbarung Allahs spricht vor dem Hintergrund der historischen Belege gegen eine sexuelle Deutung.

Worum geht es im Tadel von Lot seinem Volk gegenüber?

Das Abstoßende, das Lot bei dem Verhalten der Männer und Frauen rügt, ist ein historisches Faktum, das es bei anderen Menschen vor Lots Volk noch nicht gab. Es ist ein historisch erstmaliges, sozial einzustufendes Phänomen, das nichts mit sexuellem Verhalten zu tun hat, sondern mit der Rechtlosigkeit und der untergeordneten Rolle der Frauen, die von allen Männern und Frauen als gegeben akzeptiert wird, so dass von beiden Gruppen nur Männer bei wichtigen Angelegenheiten (schahwa) konsultiert werden.

So bot Lot seine Töchter dem Volk an als Garanten für das Wohlverhalten seiner Gäste. Aber das Volk (die Männer und Frauen) wies sie zurück mit den Worten, dass es keinen Haqq (حق = Recht, Anspruch) auf sie hätte (11:79), sie sagen nicht: Kein sexuelles Begehren/Verlangen. Das bedeutet, dass es hier um eine Frage von rechtlicher Bedeutung geht, nicht um sexuelle Wünsche. Lot zeigte durch sein Angebot, dass Frauen den Männern gleichwertig sind, sogar in dieser speziellen Situation.

Auszug (S. 1-27) aus der Kurzversion zu Islam und Homosexualität gemäß dem Qur’ân und den authentischen Hadîthen (الاحاديث الصحيحة)

Licht

Am 21. Dezember ist der kürzeste Tag des Jahres. Bereits früh bricht die Nacht herein und es herrscht Dunkelheit. Wichtiger denn je ist in diesen Tagen das Licht. Verzweifelt versucht der Mensch die Dunkelheit zu vertreiben, auf den Straßen und in den Häusern. Doch ich möchte nicht vom allseits bekannten Licht durch Elektrizität oder Feuer schreiben. Nein, gemeint ist das Licht im Herzen der Menschen.

24:35 Gott ist das Licht der Himmel und der Erde. (…) Licht über Licht. Gott führt zu seinem Licht, wen Er will, und Gott führt den Menschen die Gleichnisse an. Und Gott weiß über alle Dinge Bescheid.

Nur durch und mit Gott können wir dieses Licht finden. Dies gilt für alle Menschen, jede*n Gläubige*n, jede*n Gottergebene*n (Muslim*innen), egal aus welcher Religion.

5:46 Und wir ließen hinter ihnen her Jesus, den Sohn der Maria, folgen, dass er bestätige, was von der Thora vor ihm da war. Und wir gaben ihm das Evangelium, das (in sich) Rechtleitung und Licht enthält, damit es bestätige, was von der Thora vor ihm da war, und als Rechtleitung und Ermahnung für die Gottesfürchtigen.

Wo bleiben bei all den religiösen und traditionellen Bräuchen die Liebe und das Licht der Herzen? Lange schon sind diese zum «Kommerz» verkommen. Viel Geld wird ausgegeben, doch nicht zum Zweck der Nächstenliebe, wie man meinen sollte. Nein, für die perfekte Dekoration, das Geschenk und das Festtagesessen. Es heißt wir sollen uns besinnen, doch sind alle wie von Sinnen.

So sicher wie die Sonne am Himmel steht, ist Licht in uns. Doch allzu oft verdecken uns Wolken das Licht. Bei der Sonne vertrauen wir selbst nach vielen Regentagen darauf, dass sie noch da ist. Und so sollten wir auch auf unser Licht vertrauen, denn es ist und war immer da.

Lasst uns fern ab von Traditionen das Licht in uns wiederfinden. Allein oder im Miteinander, in der Stille, im Gebet, im Herzen, in der Seele. Damit die Tage lichterfüllt sind, wenn keine Kerze brennt. Damit die Tage lichterfüllt sind, wenn dein Herz rennt.

Oh Herr du bist das Licht und von dir ist das Licht so vervollkommne unser Licht.

Bittgebet eines Freundes

Lichterfüllte Tage