Wucher

Riba im Koran – Zins oder Wucherzins?

Schweizer Rappen

Bild: Florian Schlapbach, CC BY-NC 2.0

Bis vor Kurzem noch schwirrten in meinem Kopf vielerlei Fragen herum bezüglich der Frage, was „riba“ (üblicherweise als Zins oder Wucher wiedergegeben) ausmacht. Was ist das klassischarabische Wort für Zins? Hatten die Leute, die während der Offenbarungszeit zugegen waren, zwei verschiedene Worte für Wucher und Zins? Welche Gründe habe ich für die Übersetzung von riba im Koran als „Zins“ oder „Wucher“? Wo beginnt der Wucherzins denn genau? Wieso sollte ich fünf, zehn oder zwanzig Prozent als die Grenze zwischen eines teuflischen Wuchers und dem legalen Zins nehmen? Was würde es ökonomisch bedeuten, wenn ich zwanzig Prozent als fixen Wert für diese Grenze nehme, wo doch stetig fluktuierende Inflation und Entwertung stattfindet in der heutigen Wirtschaft? Kann ich mich gänzlich vom Zins befreien in der heutigen Zeit? Was empfinde ich gegenüber dem Zins als mathematischem Modell an sich? Ich sprach mit Freunden, besuchte Seminare über dieses Thema, las viel darüber, doch zu einem Ergebnis kam ich nicht – eben bis vor Kurzem.

Die Diskussion im Islam um riba im Koran hält schon seit Jahrhunderten an. Zahlreiche Gelehrten glauben, dass Wucher jede „fixe“ Prozentzahl meine in Bezug auf Einnahmen, die aufgrund Geldleihe oder Depositen gewonnen wurde. „Fix“ deshalb, weil damit derjenige, der das Geld leiht, von jeglichem Verlust ausgeschlossen wird. Die Einnahmen des Leihenden jedoch, die je nach Gewinn oder Verlusten variieren können, werden nicht als Wucher angesehen. Es gab andererseits wiederum viele, die nicht dieser Meinung waren und glaubten, dass Wucher lediglich das Verlangen maßlos übertriebener Zinsen oder Zinseszinsen bedeute. Je nach Meinung aber auch jeglicher unsittlicher Handel, bei dem eine Partei Nutzen aus der misslichen Lage des Anderen zieht. Nach dieser Ansicht wäre also das Ausleihen von Geld inklusive Zinsen zufriedenstellend, weil solange gegenseitige Übereinstimmung bestehe, könne Wucher auch als Handelsform betrachtet werden. Doch diese übersehen ganz klar den Vers 2:275 aus dem Koran:

2:275 Diejenigen, die die Riba verzehren, stehen nicht anders da, als wie derjenige dasteht, der vom Teufel durch Erfassung erschlagen ist. Dies deswegen, weil sie sagten, der Handel sei wie die Riba. Doch Gott erlaubte den Handel und verbot die Riba. …


Wenn Riba lediglich unmoralische Geschäftspraxis bedeutete, wie etwa Profittreiberei oder Ergaunern von Kredit, so wäre diese Angelegenheit eine moralische. Damit wäre sie aber auch leicht erkennbar als falsch. Jedoch scheint es eher so zu sein, dass Riba eine Aktivität meint, welche den legitimen Handel beinhaltet. Hierdurch wird es auch notwendig, die Riba vom Handel zu unterscheiden. Schließlich wird es aber doch wieder zu einer Frage der Moral, wenn wir die Langzeitfolgen der Verzinsung für die Gesellschaft betrachten. Es ist sehr wichtig, dass wir uns selbst ausbilden und darauf Acht geben, nicht überhastet Meinungen zu bilden, nur weil wir einem oder zwei Gelehrten zugehört haben. Erst eigenständiges, aktives Suchen nach allen möglichen Fakten bemächtigt uns dazu, eine ausgereifte Entscheidung aufgrund der Recherchen zu fällen. Oder in den Worten Immanuel Kants, dessen Doktorurkunde die Bismillah auf Arabisch beinhaltet:

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen. Selbst verschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude [wage es verständig zu sein]! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“
– Immanuel Kant


Bitte versteht mich nicht falsch, ich habe meine Ausbildung in Mathematik genossen, weshalb ich das Zinssystem aus rein mathematischem Aspekt an sich nicht mag, und nicht in Wirtschaft. Deshalb braucht es weitere Experten, die sich mit Ökonomie bestens auskennen, um bewerten zu können, wie sehr die Verzinsung der Wirtschaft schadet. Interessante Ansätze für ein Umdenken lassen sich finden, eine genauere Erörterung und Ausführung und die Prüfung der Umsetzbarkeit ist sicherlich auch vonnöten. Dies überlasse ich gerne den Experten.

Auf jeden Fall kann ich aber meine persönliche Meinung übers Verzinsen nicht mit dem religiösen Verständnis gleichsetzen. Da es nicht sogleich ersichtlich ist, wieso Verzinsung (Einnahmen mit fixen Prozentsätzen) verboten werden sollte, wenn es doch scheint, dass ein legitimer Handel zwischen zwei Parteien geschieht, der auf gegenseitiger Übereinkunft begründet ist, sollten die schädlichen Aspekte solcher fixer Einnahmen für die Gesellschaft näher durchleuchtet werden. Welche genauen Wirkungen hat die Verzinsung auf die Ökonomie? Und inwiefern wird eine von Verzinsung befreite Gesellschaft produktiver, stabiler und gerechter werden? Welchen Effekt hat die Verzinsung auf die Inflation, die Arbeitslosigkeit und die Defizite der Regierung? Und der dadurch verursachten Vergrößerung der Lücke zwischen arm und reich? Oder gibt es bereits Studien, die diese Fragen beantworten?

Semantik

Ich entschied mich letztes Jahr, ein Buch über das Auslegen und das Verstehen des Koran zu schreiben. Im Zuge meiner Recherchen und Verfeinerung meiner Auslegungsmethodiken kam ich dann auf Hinweise, die mich auf die Spur brachten. Diese Hinweise, die ich der Semantik entnahm, machen die vorhin erwähnten Fragen und ihre Antworten irrelevant. Denn, bei der Betrachtung von riba im Koran (2:261-281, 3:130-133, 30:39 und 4:161-162) ist aufgrund der verwendeten semantischen Bedeutungsebenen der Wörter riba und sadaqa klar, dass das Verbot nichts zu tun hat mit geschäftlichen Handlungen. Der Fokus des Verbots betrifft die Wohltätigkeit und das verzinste Leihen von Geld für wohltätige Zwecke. Dies wird von Gott im Koran verboten. Es ist verboten, Bedürftigen Geld zu leihen, und bei der Rückzahlung Zins zu verlangen. Sei dieser Zins nun niedrig oder hoch. Der Bedürftige braucht das Geld nicht, um Geschäfte abzuwickeln, sondern um seine Bedürfnisse nach Nahrung und Unterkunft zu decken. Er braucht es, um damit zu überleben. Dieses Dilemma auszunutzen wird von Gott verboten. Dem bedürftigen Freund oder Nachbar Geld zu leihen ist kein Geschäft, sondern ein rein humanitärer Akt – ein Akt der Wohltätigkeit. Dem Schwachen ist zu helfen, ohne seine Schwäche auszunutzen. Dieser bedürftige „Freund“ oder „Nachbar“ kann auch ein Staat sein, doch in erster Linie sind es Individuen oder Familien.

Inwiefern kann die semantische Bedeutungsebene gewonnen werden? Die Antwort ist zwar länglich, aber leicht und wie folgt: im Vorfeld auf das Erwähnen des Wortes riba im Koran können wir sehen, dass…

– … 2:262 betont, dass die Abgaben auf Gottes Weg weder Vorhaltung noch Schaden nach sich ziehen lassen dürfen. Dies wird in 2:263 nochmals rhetorisch verstärkt, dass in solch einem Falle gar freundliche Worte und Verzeihen besser seien als eine Spende (sadaqa). Weitere Verstärkung durch Gleichnisse in den darauf folgenden Versen.

– … 2:270 die Abgaben (nafaqa) erwähnt, Vers 2:271 die Spenden (sadaqât). Somit werden Abgaben und Spenden miteinander semantisch in Verbindung gebracht. Spenden werden also auch als Abgaben behandelt. Das Verb abgeben (oder auch ausgeben: yunfiq) wird an anderer Stelle (2:219) mit ‚Afw in Verbindung gebracht, das für alles steht, was wir als Überschuss verstehen und deshalb verzeihen können, es abzugeben, es also als Verzicht in Kauf nehmen.

– … dreimal das Verb abgeben in Vers 2:272 vorkommt und in der Absicht eingeschränkt wird auf den religiös moralischen Aspekt durch den Satz: „Und was ihr ausgebt, ist nur, um nach Gottes Antlitz zu trachten„. Die Abgaben haben also keinerlei geschäftlichen Aspekt zu berühren.

– … Vers 2:273 zeigt, dass die Spendenabgaben für die Armen sind. In Vers 2:274 wird diese Abgabe nochmals erwähnt.

Der folgende Vers erwähnt zum ersten Mal das Wort riba im Koran, im Vers als ‚Riba‘ belassen.

2:275 Diejenigen, die die Riba verzehren, stehen nicht anders da, als wie derjenige dasteht, der vom Teufel durch Erfassung erschlagen ist. Dies deswegen, weil sie sagten, der Handel sei wie die Riba. Doch Gott erlaubte den Handel und verbot die Riba. Wer also von seinem Herrn eine Unterweisung bekam und danach aufhörte, dann ist für ihn, was vergangen ist. Und seine Angelegenheit ist bei Gott. Und wer rückfällig wurde, jene sind die Gefährten des Feuers. Darin sind sie ewig


Bereits vergangene Verzinsungen von Spendenabgaben werden verziehen, vorausgesetzt, diese Verzinsung wird künftig unterlassen. Hier wird der Ernst der Lage richtig deutlich. Denn den Rückfälligen wird mit dem Feuer gedroht.

Äußerst interessant ist der Wortgebrauch des Wurzelstammes von riba im Koran im folgenden Vers:

2:276 Gott lässt die Riba vergehen und verzinst (yurby) die Spenden. Und Gott liebt keinen, der ableugnend, sündigend ist


Hier wird die Riba semantisch den Spenden (sadaqât) gegenübergestellt. Und um dies zu verstärken werden die Spenden verzinst, die nur für Gottes Wohlgefallen ausgegeben werden! Die Verzinsung der Spenden lässt sich aus Vers 6:160 verstehen, wonach alle gute Taten verzehnfacht werden vor Gott. Diese „gute Taten“ können aber nicht missbraucht werden, was 2:276 eindrücklich aufzeigt und in 2:275 verdeutlicht wird. Vers 2:277 erläutert das allgemeine Wesen der Gläubigen und erwähnt die Reinigung der Seele durch Wohltätigkeit (Zakâh, siehe auch die Wurzel zu diesem Wort). 2:278 ermahnt die Gläubigen, von der Verzinsung abzulassen.

2:279 Wenn ihr es aber nicht tut, dann sei euch ein Krieg von Gott und seinem Gesandten angekündigt. Und wenn ihr es bereut, so ist für euch euer Kapitalvermögen. Weder tut ihr unrecht noch wird euch unrecht getan


Der Gelehrte Jusuf ‚Ali glaubte allen Ernstes, dass es sich hier „nicht um einen Meinungsstreit, sondern um eine tatsächliche Kriegserklärung“ handle mit dem Ziel, die „Befreiung der Schuldner herbeizuführen, die ungerecht behandelt und unterdrückt werden“. Dies ist schlicht falsch. Dieser Krieg ist selbstredend kein Krieg, der mit Waffen geführt wird, sondern per Gesetz geregelt wird im diesseitigen Leben und per göttliches Urteil im Jenseits. Dies wird dadurch ersichtlich, dass ein Bereuen möglich ist. Bei einer echten Kriegsansage würde das Recht auf Leben nichtig erklärt werden, womit ein Recht auf Reue, was nach dem Tötungsakt im Krieg offenbar ein Ding der Unmöglichkeit wird, erlischt und eben gerade diesem Vers zuwider liefe. Vielmehr handelt es sich um einen spirituellen Krieg, den der schwache Mensch gegenüber Gott seinem Schöpfer nur verlieren kann (vgl. Vers 2:281). Der Gelehrte Darjabaadi sagte zu diesem Vers:

Im Qur’an stoßen wir auf zahlreiche andere Verbote, aber bei keiner anderen derartigen Anweisung werden so starke Worte verwendet. Durch all dies sollte nicht nur das Zinsunwesen allein, sondern jede andere Art von unlauteren Geldgeschäften unterbunden werden, damit anstelle des Kapitalismus eine neue Ordnung trete, in der Geiz durch Mildtätigkeit, Selbstsucht durch Mitgefühl und Zusammenwirken, Zins durch Sadaka und das Bankwesen durch das von der Öffentlichen Hand zu vergebende Geldmittel ersetzt wird.


Vers 2:280 ermahnt uns, den Schuldner nicht zur Zurückzahlung zu drängen, auch wenn das Recht am Grundkapital besteht. Jedoch ist es besser für unsere Seelen, im Trachten nach dem Antlitz Gottes, die gesamte oder auch einen Teil der Schuld zu spenden.

Der Vollständigkeit halber liste ich hier noch die anderen Bedeutungen des Wurzelstamms von riba im Koran auf:

  • anschwellen (‚rabat‘ in 22:5, 41:39),
  • vermehren/verzinsen (yarbu in 30:39, yurbi in 2:276)
  • zahlreicher (arbâ in 16:92),
  • ein Hügel oder eine Anhöhe (rabwa in 2:265, 23:50),
  • Oberfläche oder schwellend (râbyan 13:17)
  • sehr stark, im Sinne von hoher Kraft (râbyatan 69:10)

Lange Rede kurzer Sinn: Vers 2:276 genügt, um das Thema zu klären. Dies wird erreicht durch die Gegenüberstellung von ‚riba‘ mit Spenden. Die semantische Wortbedeutung wird klargestellt durch den Gebrauch des Verbes (yurbi) vom selben Wurzelstamm im Sinne einer unrechtmäßigen Vermehrung: der Verzinsung von Spendenabgaben.

Im kontextuellen Zusammenhang der Verse davor und danach wird die Angelegenheit klarer, die restlichen Verse sind unterstützend. Sich davon fern zu halten, wäre ratsam, da man ansonsten Gott und Seinem Gesandten den Krieg erklärt, den man nur verlieren kann.

Gepriesen seist Du, oh Herr! So leite uns Recht, auf dass wir Dir nahe sein können und fern von dem Weg, welcher Dein Wohlgefallen nicht erlangt. Konkretes Beispiel: irgendein Mensch, beispielsweise ein Nachbar, erlebt gerade eine schwere Zeit und hat kein gesichertes Einkommen und ist auf die finanzielle Unterstützung anderer angewiesen. Er leiht Geld, um die Miete und die Nahrung für sich und seine Familie sicherzustellen. Er versichert, mündlich oder schriftlich, dass das Geld zurückgezahlt wird. Wer hier auf das ausgeliehene Geld eine Verzinsung einführt, sagt Gott und Seinem Gesandten den Krieg an, da es dem Wort Gottes widerspricht, da das Ausleihen in diesem Fall ein humanitärer Akt sein sollte. Obwohl es keine Pflicht darstellt, wird uns geraten, Rückzahlungen nicht ganz einzufordern, sondern ganz oder auch einen Teil davon als Spende abzugeben, um seine eigene Seele zu reinigen vor Gott. Jedoch ist es auch rechtmäßig, das gesamte Kapital zurückzufordern. Hierbei spielt es keine Rolle, ob das Geld von einer Privatperson oder einem Institut, wie etwa einer Bank geliehen wird.

Riba meint also die verbotene Verzinsung der Spendenabgaben und kein allgemeines Zinsverbot.


Nachtrag vom 10. Mai 2013:

Bruder Alkan machte mich auf folgende Verse der Bibel aufmerksam, die das Geschriebene aus der Bibel unterstützen, dass der verbotene Zins nur denjenigen Zins meint, der bei Spendenabgaben für Bedürftige („die Elenden“) entsteht:

„Falls du (einem aus) meinem Volk, dem Elenden bei dir, Geld leihst, dann sei gegen ihn nicht wie ein Gläubiger; ihr sollt ihm keinen Zins auferlegen.“
„Und wenn dein Bruder [d.i. ein Mitglied des Volksverbands] verarmt und seine Hand neben dir wankend wird, dann sollst du ihn unterstützen wie den [landlosen] Fremden [hebr. ger] und Beisassen [hebr. toschab, d.h. ein nichtjüdischer Ortsansässiger], damit er neben dir leben kann. Du sollst nicht Zins von ihm nehmen und sollst dich fürchten vor deinem Gott, damit dein Bruder neben dir lebt. Dein Geld sollst du ihm nicht gegen Zins [hebr. neshek, wörtlich Abbiss] geben, und deine Nahrungsmittel sollst du nicht gegen Aufschlag [hebr. marbit] geben.“
„Du sollst deinem Bruder keinen Zins [hebr. neshek] auferlegen, Zins für Geld, Zins für Speise, Zins für irgendeine Sache, die man gegen Zins ausleiht. Dem Fremden [hebr. nochri, d.h. einem Ausländer, der nur vorübergehend im Land weilt] magst du Zins auferlegen, aber deinem Bruder darfst du nicht Zins auferlegen, damit der Herr, dein Gott, dich segnet in allem Geschäft deiner Hand in dem Land, in das du kommst, um es in Besitz zu nehmen.“