Traditionelle Islamologie

Kategorien: Hadith und Sunna

Das Wort Sunna

Das arabische Wort Sunna (سُنَّةُ – Plural: سُنَنَ sunan) heißt wörtlich übersetzt Weg, Vorgehensweise oder Pfad. Nebst dem Quran ist die Sunna die von der Mehrheit der Muslime meistgebrauchte Quelle im Verstehen und Ausüben eines islamischen Lebens. Sie schreibt vor und verbietet, formuliert Paradigmen, und versucht festzulegen, was islamisch gesehen rechtmäßig bzw. unrechtmäßig ist. Gemäß traditioneller Islamologie solle uns die Sunna verraten, wie das Wort Gottes praktisch im Alltag umzusetzen sei. Die Gelehrten erheben mit der Sunna den Anspruch, dass sie das erkläre, was im Koran vieldeutig sei. Ebenso lassen sich ausführlichere Kommentare zu den Geschichten aus dem Koran finden.

Ein Sunnit ist meistens auch ein Anhänger einer der vier gegenseitig anerkennenden Rechtsschulen Hanafiten, Schafiiten, Hanbaliten, Malikiten, sie nennen sich meistens auch „die Leute der Sunna und der Gemeinschaft“ (arab.: ahl as-sunna wa l-dschama’a). Nebst dem Koran und der Sunna müssen sie sich theoretisch auch an die übereinstimmende Meinung (Idschma) der Rechtsgelehrten halten.

Die herkömmlich verstandene Sunna beruft sich auf Ahâdiith, arabischer Plural von Hadith (wörtlich Ausspruch), die dem Propheten Muhammad zugeschrieben werden und in etlichen Büchern festgehalten sind. Sie berichten uns in Form von Überlieferungen verschiedener Überlieferer vom Wirken des Propheten. In ihnen finden wir seine angeblichen Worte, Empfehlungen, Anweisungen, Feststellungen, Wertungen und Stellungnahmen zu verschiedenen Fragen. Es gibt auch Gott zugeschriebene Ahadith, die sogenannten hadith qudsi, und gelten als außerkoranische Offenbarungen.

Das Wort Sunna im Koran

Das von der Wurzel Siin-Nun-Nun abstammenden Wort Sunna kommt im Koran and 16 Stellen in den folgenden 11 Versen vor: 3:137, 4:26, 8:38, 15:13, 17:77 (2x), 18:55, 33:38, 33:62 (2x), 35:43 (3x), 40:85, 48:23 (2x). Bemerkenswert ist die Tatsache, dass dieses Wort im Koran nirgends in dem Sinne gebraucht wird, wie es heutzutage von der Mehrheit der Muslime wahrgenommen wird. Nie wird mit diesem Wort die „Sunna des Propheten Mohammed“ oder auch die irgendeines anderen Propheten gemeint. Im Koran wird das Wort allein dafür gebraucht, um die von Gott abstammende oder festgelegte Vorgehensweise (sunnatullah) zu kennzeichnen. Bezeichnend für diese Bedeutung ist folgender Vers:

35:43 … Erwarten sie denn (für sich) etwas anderes als die Vorgehensweise der Früheren? Du wirst in Gottes Vorgehensweise keine Änderung finden, und du wirst in Gottes Vorgehensweise keine Abwandlung finden.

Eine leicht andere Erwähnung erhält dieses Wort in Bezug auf die Vorgehensweise gegenüber den Leuten, die vor uns lebten (und damit direkt auch vor den Leuten, die vor der Offenbarungszeit des Koran lebten). Jedoch ist beim näheren Betrachten der entsprechenden Verse klar, dass damit das Verfahren Gottes gemeint ist, nach der mit den „Früheren“ verfahren wurde. Es ist also als Unterbedeutung der ersten Bedeutung zu bewerten.

Diese unmissverständliche Tatsache, dass das Wort Sunna im Koran niemals in der heute üblichen Verwendung vorkommt, sollte uns zu bedenken geben, wessen Sunna wir eigentlich folgen sollten. Wir sagen nicht umsonst la ilaha illa Allah – keine Gottheit außer Gott. Somit gibt es auch nur eine Sunna, der wir zu folgen haben: die von Gott für uns vorgesehene Lebensweise. In dem Sinne: keine Sunna außer Gottes Sunna!

Die Ahadith

Mit der Echtheit und der Kritik der Ahadith beschäftigten sich die Gelehrten in der Hadithwissenschaft, die nicht nur die Ahadith selbst, sondern auch die Biographie von Menschen überprüfte, von denen sie überliefert wurden. Die Menschen, die einen bestimmten Hadith gehört und an weiterüberliefert haben, bilden zusammen die Überliefererkette. Es gibt zwei Kategorien, nach deren Echtheit eines Hadiths eingestuft wird: dem Text (matn) und die Überliefererkette (isnad). Es kann durchaus sein, dass zwar die Überliefererkette intakt eingestuft wird, der Text dennoch nicht als echt gilt. Die drei Hauptzuordnungen sind ‚echt‘ (sahih), ’schön‘ (hasan) und ’schwach‘ (da’if). Im Internet zitierte Ahadith sind jedoch fast immer frei von diesen umgebenden Informationen, und nur die wesentlichsten Angaben werden mitgeliefert. Hier ein Beispiel:

Thaubân berichtete, Gottes Gesandter habe gesagt: „Vergleicht meine Ahadîth mit dem Buch Gottes. Wenn sie mit ihm übereinstimmen, dann habe ich diese (Ahadîth) ausgesprochen.“ (Tabarânî)

Die wichtigsten und bekanntesten Hadith-Sammlungen sind:

  1. Sahih Bukhari (Bukhari lebte von 810 bis 870)
  2. Sahih Muslim, (Muslim: 817/821-875)
  3. Abu Dawud, Sunan (Abu Dawud: 817-888)
  4. Tirmidhi, Sunan (Tirmidhi: 815-892)
  5. Nisai, Sunan (Nisai: 830-915)
  6. Ibn Madsche, Sunan (Ibn Madsche: 824-886)

Der Umfang allein dieser sechs Hadith-Bücher entsprechen etwa dreimal der von der kompletten Bibel. Nachfolgend eine beispielhaft zusammengefasste Wiedergabe  aus den Grundlagen der Hadith-Wissenschaft aus „Al-‚Aqida, Einführung in die Iman-Inhalte“ von Amir M. A. Zaidan, (ADIB-Verlag, Offenbach 1999, 2. neubearbeitete und erweiterte Auflage)

Traditionelle Islamologie von A. Zaidan

Die wissenschaftliche Vorgehensweise in der Islamologie kann folgendermaßen zusammengefasst werden:

  • Bei Überlieferungen muss die Korrektheit nachgewiesen werden.
  • Bei Behauptungen muss der Beweis erbracht werden.

1. Korrektheit einer Überlieferung

Die Richtigkeit einer Überlieferung (d. h. reine Informationsweitergabe ohne eine Wertung, Kommentierung oder Interpretation) wird bewiesen durch:

  • Nachweis der Richtigkeit des Überlieferungsweges;
  • Nachweis der Lückenlosigkeit der Tradentenkette von der Quelle bis zur schriftlichen Aufzeichnung;
  • Nachweis der Vertrauens- und Glaubwürdigkeit, der Merk- bzw. Erinnerungsfähigkeit und der kommunikativen Kompetenz aller Tradenten (Überlieferer).

Zur Überprüfung einer Überlieferung, eines Hadith [(Überlieferungen von Aussprüchen oder Handlungen des Gesandten Muhammads] haben die Hadith-Wissenschaftler verschiedene Fachgebiete entwickelt, die es ermöglichen, mit Hilfe klar definierter Kriterien die islamischen Quellen wissenschaftlich zu bewerten.

Diese Bewertungsskalen waren die objektive Entscheidungsgrundlage für das Akzeptieren bzw. das Zurückweisen einer Überlieferung als authentisch bzw. als nicht authentisch.

Historisch betrachtet war die Ausarbeitung dieser Katalogisierung aufgrund politischen Entwicklung im 3. Jahrhundert n. H. (nach der Hidschra / Auswanderung des Gesandten von Mekka nach Medina) (9. Jahrhundert n. Chr.) notwendig, nicht aber aufgrund inner-islamischer Differenzen in religiösen Fragen. Ziel dieser Katalogisierung war die Schaffung von differierenden politischen Interessen unabhängigen Klassifizierungsverfahrens, sowie eines freien Handlungsrahmens für die Islamologen.

Erwähnenswert sind folgende wissenschaftliche Disziplinen, die von den Muslimen zur (Er-)Forschung der Sunna entwickelt wurden und nur in den verschiedenen islamologischen Wissenschaftsbereichen bekannt sind und angewandt werden:

„Hadith-Definitionen“:

Überprüfung; Bewertung und Einleitung der Überlieferung in klar definierten Kategorien, z. B. „sahih“ (wörtl. Richtig bzw. gesund), „hasan“ (wörtl. Gut bzw. schön), „daif“ (wörtl. Schwach), „maudu“ (wörtl. Erfunden), usw.

„Biographien der Tradenten“:

Detaillierte Dokumentation wesentlicher Lebensdaten aller Tradenten (Frauen/Männer), z. B. Geburt, Tod, familiäres und soziales Umfeld, Charaktereigenschaft, Krankheiten, Islam- und Allgemeinbildung, Intellektuelle und praktische Fähigkeiten, Verhaltensweisen, Lehrer, etc.

„Beurteilung der Tradenten“:

Überprüfung, Bewertung und Einleitung der Überlieferer in klar definierten Kategorien, z. B. vertrauenswürdig – nicht vertrauenswürdig, glaubwürdig – unglaubwürdig, zuverlässig – unzuverlässig, mit exzellentem, gutem mittelmäßigem, schlechtem Erinnerungs- bzw. Merkvermögen, kommunikative Kompetenz usw.

Bei Überlieferungen unterscheidet die Hadith-Wissenschaft nach Anzahl der Tradenten in jeder Tradentengeneration insbesondere zwischen Ahad-Überlieferungen und Mutawatir-Überlieferungen.

Ahad-Überlieferung
Ahad-Überlieferungen sind Überlieferungen, die in einer oder mehreren Tradentengeneration/en nur von einzelnen bzw. von einer kleinen Anzahl Tradenten (d. h. von einer geringeren Anzahl als bei den Mutawatir-Überlieferungen, s. u.), überliefert wurden.

Um eine Ahad-Überlieferung z. B. in der Sahih-Kategorie einordnen zu können, muss sie folgende Kriterien erfüllen:

  • Lückenlosigkeit der Tradentenkette/n von der Quelle bis zur schriftlichen Aufzeichnung.
  • Nachweis eines exzellenten Erinnerungsvermögen und der Vertrauenswürdigkeit (adalah) aller Tradenten.
  • Die Überlieferung darf kein „schudhuh“ enthalten, d. h. die Überlieferung eines vertrauenswürdigen Tradenten (thiqa) darf keine Abweichung aufweisen beim Vergleich mit Überlieferungen gleichen Inhalts von anderen höher eingestuften (d. h. vertrauenswürdigeren: authaq) Tradenten.
  • Die Überlieferung darf keine „illa“ enthalten, d. h. weder Hadith-Kette noch Hadith-Text dürfen irgendwelche versteckten Fehler bzw. Mängel enthalten, durch die ihre Eindeutigkeit und Richtigkeit beeinträchtig werden könnte.

Mutawatir-Überlieferung
Mutawatir-Überlieferungen sind Überlieferungen, die über ihre gesamte Überlieferungskette hindurch (d. h. in jeder Tradentengeneration) von einer großen Tradentenmenge überliefert wurden, deren Mitglieder eine Falschaussage nicht hätten absprechen können.

Weitergehende Detailfragen und ausführliche Erläuterungen insbesondere in Bezug auf die Größe der Tradentenmenge und weitere Kriterien der Mutawatir-Überlieferungen sind den Standardwerken der Hadith-Wissenschaften zu entnehmen.

Bezüglich der ‚Aqida werden von den Islamologen, aufgrund ihrer besonderen Bedeutung, als authentische Quellen ausschließlich Mutawatir-Überlieferungen zugelassen, weil diese nach den Regeln der Vernunft die einzigen Belege sind, die unzweifelhaft und unanfechtbar sind und somit als gewiss angenommen werden können.

Weitergehende Detailfragen und ausführliche Erläuterungen zu o. g. Kriterien sind den Standardwerken der Hadith-Wissenschaften zu entnehmen.

2. Beweis einer Behauptung/These

Zur Überprüfung der Richtigkeit und Nachvollziehbarkeit der Beweisführung einer Behauptung geht die Islamologie wie folgt vor:

  • Thesen, die einen materiellen Bezug haben, müssen durch die Empirie (d. h. durch Beobachtung, Experimente und Sinneserfahrungen) bewiesen werden.
  • Thesen, die einen abstrakten Bezug haben oder sich auf verborgene, mit den menschlichen Sinnen nicht erfassbare Dinge stützen, müssen bewiesen werden, entweder durch:
    • Nachvollziehbare, vernunftgemäße Schlussfolgerungen und/oder
    • durch Mutawatir-Überlieferungen, die ebenfalls vernunftgemäß bewiesen wurden (s. o.)“.



Kritik an den Ahadith und der traditionellen Islamologie

Ebenso in der Welt der Hadithwissenschaft gibt es Menschen, die die Schwachpunkte ebendieser aufgreifen und behandeln. Islamwissenschaftler und Orientalisten kritisieren oft den Schwerpunkt, den man in der Überprüfung eines Hadith legt. Ihrer Meinung nach wäre es sinnvoller, den matn (den Text) auf seine Echtheit zu testen, dagegen weniger die Überliefererkette.

Der renommierte und wegbereitende, ungarische Islamwissenschaftler Ignaz Goldziher (1850 – 1921) analysierte die eigentlichen Inhalte der Mitteilungen und erkannte, dass die meisten tatsächlich nicht auf den Propheten zurückzuführen sind. Vielmehr sind eine Vielzahl von ihnen nur ein Spiegel der rechtlichen und theologischen Kontroversen und Diskussionen der frühen islamischen Zeit. Nach Goldziher müsse, entgegen der Lehrmeinung der islamischen Theologen, ein Hadith grundsätzlich als nicht echt angesehen werden, um seine Reinheit schließlich zu belegen.

So schrieb auch der geschätzte Islamwissenschaftler Richard Hartmann in seiner 1944 erschienen Schrift „Die Religion des Islam“:

„… Diese hadith-Kritik schlug einen Weg ein, den man wohl als grundsätzlich richtig wird bezeichnen dürfen, der aber doch einseitig und nach unserem Urteil nicht ausreichend war. Jede vollständige Überlieferung besteht aus zwei Teilen: dem Text matn, der nach unserem Empfinden das einzig Wesentliche ist, und dem isna-d, …..“

Weiter bemerkt er:

„Die Kritik (Anm.: die Hadith-Kritik) beschränkte sich nun auf den isna-d, …“
„… Wir sehen natürlich die Einseitigkeit der Methode, die sich mit so äußerlichen Kriterien begnügt.“

Zur Kritik der Ahadith und ihrer Wissenschaft wird auf dieser Webseite noch ausführlich eingegangen.